Kleine RNA mit großer Wirkung

(13.11.2019) Wer hätte gedacht, dass eine simple microRNA ausreicht, um die Differen­zierung pluripotenter Stamm­zellen auf Trab zu bringen.
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Editorial

Pluripotente Stammzellen (PS-Zellen), die sich selbst erneuern sowie differen­zieren können, sind große Hoffnungs­träger der regene­rativen Medizin. Da die Fähigkeit zur Differen­zierung während der Vermeh­rung pluri­potenter Stamm­zellen in vitro abnimmt, ist ihr Einsatz aber noch einge­schränkt. Um ihr volles Differen­zierungs­potenzial auszu­schöpfen, feilen Stammzell­forscher vor allem an den Kultur­bedingungen. So führen zum Beispiel Cytokine oder chemische Inhibi­toren in vitro zu einer verbesserten Differen­zierung und Reifung pluri­potenter Stamm­zellen. Wie die Zusätze genau wirken, und welche Langzeit­folgen sie auf die Haupt­signal­wege der Zelle haben, ist aber unklar. Für In-vivo-Experi­mente sind sie deshalb kaum geeignet.

Ein internationales Forscherteam um den Molekular­biologen Marcos Malumbres vom nationalen Krebs­forschungs­zentrum in Madrid, dem auch der Stammzell­spezialist Juan Carlos Izpisua-Belmonte vom Salk Institute for Biological Studies in Kalifornien angehörte, könnte eine einfache Lösung dieses Problems gefunden haben: Offen­sichtlich genügt es bereits, die PS-Zellen für kurze Zeit der microRNA miR-203 auszusetzen.

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Manipulierbare miRNA-Spiegel

miR-203 wird überwiegend im sehr frühen Zweizell- bis Morula-Stadium des Maus­embryos exprimiert. Forscher vermuten schon länger, dass sie eine Rolle bei der Ausbalan­cierung von Stammzell-Eigen­schaften und Differen­zierung spielt. Um die miR-203-Expressions­spiegel in vitro und in vivo manipul­ieren zu können, entwickelten Malumbres Mitarbeiter Tetracyclin-induzier­bare Knock-in-Zellen, die miR-203 Tetracyclin-abhängig exprimieren.

Gaben die Forscher das Tetracyclin Doxycyclin (Dox) zu embryonalen Maus-Fibroblasten (MEF) oder embry­onalen Stammzellen (ESC), die das Knock-In-System enthielten, führte dies zu einem deutlichen Anstieg der miR-203-Expression. Auch induzierte pluri­potente Stamm­zellen (iPS-Zellen), die aus den entspre­chenden MEF-Zellen erzeugt wurden, zeigten nach Behand­lung mit Dox signifikant erhöhte miR-203-Level.

Als nächstes untersuchte die Gruppe die Langzeit­wirkungen von miR-203 auf die Gen­transkription. Hierzu behandelte sie die mutierten iPS-Zellen fünf Tage lang mit Dox. Anschließend verglich das Team die Transkription Pluripotenz-asso­ziierter Gene in mutierten iPS-Zellen sowie embryonalen Wildtyp-Stamm­zellen. Das Ergebnis war über­raschend. Die manipulierten iPS-Zellen waren den embry­onalen Stammzellen auf Transkrip­tions-Ebene viel näher als den Wildtyp-iPS-Zellen aus dem Kontroll­experiment. Erstaun­licher­weise wurde die Tran­skription aller untersuchten 282 Gene durch miR-203 induziert. Dieser Effekt hielt bis zu zehn Tage nach der Behand­lung mit Dox an.

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Früher Herzzellschlag

Mit einem sogenannten Embryoid-Body-Assay, in dem iPS-Zellen dreidimen­sionale Gewebe­klümpchen bilden, testeten Malumbres Mitarbeiter das Differen­zierungs-Potenzial der mutierten iPS-Zellen in vitro. Zwei bis vier Wochen nach einer fünftägigen Behand­lung mit Dox bildeten sich eindeutig größere Embryoid-Körper als in den unbe­handelten Kontroll­zellen. Sogar schlagende Herz­zellen entstanden in den behandelten Embryoid-Körpern wesent­lich früher und effizienter.

Aber ginge das Ganze nicht auch einfacher? Um dies heraus­zufinden, gaben die Forscher miR-203 direkt zu humanen iPS-Zellen hinzu. Mit eindeutigem und reprodu­zierbarem Effekt: Aus miR-203-exponierten iPS-Zellen bildeten sich größere Embryoid-Körper als aus den Kontroll­zellen. Die mithilfe von Dox induzier­baren Zellen sind also gar nicht nötig – zudem funktioniert die miR-203-Zugabe offen­sichtlich auch in humanen Zellen.

Anschließend injizierten Malumbres und Kollegen iPS-Zellen, die sie mit miR-203 behandelt hatten in Mäuse. Sie beo­bachteten, dass sich in diesen größere Tumore bildeten als in den Kontroll­tieren. Zudem entwi­ckelten sich die Tumore auch in Gewebe­arten zum Beispiel Knochen, Bauch­speichel­drüsen­gewebe und Knorpel, in denen die Kontroll­tiere keine Tumore bildeten. Eine Analyse der transkri­bierten RNA ergab, dass Gene für die embry­onale Entwicklung und Organ-Morpho­genese in den Tumoren, die von vorbe­handelten iPS-Zellen abstammten, hochreguliert wurden.

Fast hundertprozentige Effizienz

Die Wirkung von miR-203 zeigte sich auch in Experimenten zur Erzeugung chimärer Mensch-Maus-Embry­onen. Aus humanen iPS-Zellen, die mit miR-203 behandelt worden waren, entstanden mit einer Effizienz von achtzig bis hundert Prozent Chimären. Im Vergleichs­experiment lag die Effizienz dagegen nur bei fünfzig Prozent.

Anschließend testete die Gruppe, wie sich miR-203 auf die Differen­zierung von Herz­muskel­zellen auswirkt. Hierzu transfi­zierte sie Maus-iPS-Zellen transient mit miR-203 und differen­zierte sie fünfzehn Tage später zu Herz­muskel­zellen. Die Exposition mit miR-203 führte zu einem Anstieg typischer Differen­zierungs-Transkripte etwa Troponin T, sowie erhöhten Konzen­trationen von Reifungs-Markern, wie zum Beispiel Kompo­nenten des Kalium­kanals. Die gebildeten Herz­muskel­zellen schlugen außerdem mit einer höheren Frequenz, was auf eine höhere Funktio­nalität schließen ließ.

Malumbres und Co. gingen aber noch einen Schritt weiter und testeten, ob ein geschä­digtes Maus-Herz regeneriert werden kann. Hierzu induzierten sie die miR-203-Expression eine Woche lang in neuge­borenen Mäusen, die an einem durch Kälte ausgelösten Herz­schaden litten. Anschließend hatten die Mäuse eine Woche lang Zeit sich zu regenerieren. In den mit miR-203 behandelten Mäusen ließ sich eine verbesserte Wund­heilung nachweisen, während die Kontroll­tiere wesentlich größere Herz­schäden aufwiesen. Das Gewebe hatte sich insgesamt wesentlich besser erholt. Interes­santer­weise über­lebten außerdem mehr Tiere in der miR-203-Gruppe als in der Kontroll­gruppe.

Epigenetik im Spiel?

Dass eine kurze Expositionszeit mit miR-203 das langfristige Entwick­lungs­potenzial von iPS-Zellen noch lange nach der Expression verbessert, deutet auf einen epigene­tischen Mecha­nismus hin. Tatsächlich wies die Gruppe eine Hypo­methylierung des Chromatins nach, die in iPS-Zellen noch mehrere Wochen nach der Exposition mit miR-203 anhielt. Offen­sichtlich beeinflusst miR-203 die Expression der DNA-Methyl­transferasen Dnmt3a und Dnmt3b was die Hypo­methylierung des Chromatins erklären würde.

Mit miR-203 könnte die Gruppe tatsächlich ein Werkzeug gefunden haben, mit dem sich die Differen­zierung und Reifung pluri­potenter Stamm­zellen sehr einfach verbessern lässt.

Miriam Colindres

Salazar-Roa M. et al. (2019): A novel microRNA-based strategy to expand the differentiation potency of stem cells. bioRxiv, DOI: 10.1101/826446






Letzte Änderungen: 13.11.2019