Wenn der Sauerstoff knapp wird

(07.10.2019) Passen Zellen sich an. Wie? William Kaelin, Peter Ratcliffe und Gregg Semenza fanden es heraus und bekamen dafür nun den Medizin-Nobelpreis.
editorial_bild

Editorial

Über 400 Nominierungen für den Nobelpreis in Medizin oder Physiologie gab es in diesem Jahr, verriet Juleen Zierath, Mitglied der 50-köpfigen Nobel-Versammlung (Nobel Assembly) im Vorfeld. Am Ende erhielten die drei Physiologen William Kaelin, Peter Ratcliffe und Gregg Semenza den begehrten Anruf aus Stockholm. Das Trio hatte eine der fundamen­talsten Funktionen tierischer Zellen aufgeklärt – wie reagieren sie auf Sauerstoff-Knappheit.

Unsere Atmosphäre besteht zu 20,95% aus diesem Lebensstoff, aber nicht immer erreicht er die Zellen auch. In den Alpen oder dem peruanischen La Rinconada (5.100 m über dem Meeres­spiegel) ist der atmosphä­rische Druck beispielsweise so gering, dass weniger Sauerstoff in die Lungen gelangt als im Flachland. Ähnliche hypoxische Zustände können auch bei intenstiver sportlicher Aktivität und nach Verletzungen lokal im betroffenen Gewebe entstehen. So oder so, der Zelle fehlt Sauerstoff, den sie unter anderem benutzt, um Nährstoffe aus der Nahrung in Energie umzuwandeln. Sie muss also reagieren. Das tut sie, indem sie die Expression einer Reihe von Genen neu ausrichtet.

Editorial

Ein Hormon zu Beginn

Zum Beispiel das Gen, das für Erythropoetin (EPO) codiert. Forscher hatten beobachtet, dass das Hormon unter Sauerstoff-Mangel-Bedingungen von den Nieren­zellen produziert wird und (ganz zur Freude einiger ehrgeiziger Radsportler) die Erythropoese ankurbelt. Gregg Semenza nahm sich das EPO-Gen genauer vor und identifizierte am 3‘-Ende einen Enhancer, der verschiedene Kern-Faktoren binden konnte. Er nannte ihn das Hypoxia Response Element (HRE). An eben dieses Element band auch ein ganz spezieller Faktor, der offensichtlich auf Sauerstoff-Mangel reagierte. Semenza klonierte und analysierte diesen, wie er ihn nannte, Hypoxia-inducible Factor (HIF), um festzustellen, dass er es nicht mit einem, sondern mit zwei Komponenten zu tun hatte: HIF-1alpha und dem Protein ARNT (Aryl Hydrocarbon Receptor Nuclear Translocator). Letzteres war bereits beschrieben. HIF-1alpha war jedoch völlig neu und wie sich herausstellte, Teil eines universellen Zellsystems, das in vielen Säugerzellen vorkommt.

Wie sich zeigte, wird unter normalen Sauerstoff-Bedingungen HIF-1alpha zügig durch das Proteasom abgebaut. Bei Sauerstoff-Mangel bleibt HIF-1alpha erhalten, akkumuliert im Nucleus und bindet an die HREs der verschiedenen „Hypoxia-regulated genes“, wie dem EPO-Gen. Aber wer oder was bestimmt, ob HIF-1alpha in den Protein-Schredder kommt oder nicht?

Editorial

Ein auffälliger Zusammenhang

Mitte der 1990er beschäftigte sich William Kaelin mit dem von-Hippel-Lindau-Tumor­suppressor (VHL). In eine Krebszell­linie eingebracht, verhinderte das Protein Tumor­wachstum. Es gab allerdings noch etwas Auffälliges: VHL-mutant-Zelllinien überexprimierten eine Vielzahl von HIF-Zielgenen. Gab es also einen Zusammen­hang?

Den gab es, wie Ratcliffe und Kaelin Ende der 1990er Jahre gleichzeitig zeigten. VHL ist Erkennungs­komponente für die Ubiquitin E3 Ligase. Ist Sauerstoff vorhanden, werden Prolin-Reste von HIF-1alpha hydroxyliert, es kommt zu einer Konfor­mations­änderung und VHL kann binden. Die Ligase markiert dann das HIF-1alpha-Protein für den Abtransport zum Proteasom. Ohne Sauerstoff findet keine Hydroxylierung statt und VHL ist nicht in der Lage zu binden: HIF-1alpha bleibt intakt und bereitet die Zelle auf die neuen Sauerstoff-armen Umstände vor.

Was nun hat die Medizin von dieser Erkenntnis, fragen einige? Patienten mit Anämie könnten beispielsweise von Inhibitoren der Hydroxylasen profitieren, die die HIF-Aktivität erhöhen und damit beispiels­weise auch die Erythropoese in Gang bringen. Auch weitere Krankheiten wie Krebs und Ischämie sind schon im Fokus der Hypoxie-Forscher. Die klinische Entwicklung läuft. „Es ist daher wahrscheinlich, dass wir erst am Anfang stehen, was die Anwendung dieser Nobelpreis-prämierten Entde­ckungen angeht. Denn es ist klar, dass die Sauerstoff-Antwort in Zellen, Geweben und Organismen eine der zentralsten und wichtigsten physiolo­gischen Anpassungen ist, die Tiere haben,“ heißt es abschließend vom Nobelpreis-Komitee.

Kathleen Gransalke