Medizin aus Moskau

(29.08.2019) Eine russische Substanz soll die Krebs­therapie verbessern. Stimmt das, könnte Myelo001 der Berliner Myelo Therapeutics auch für das Militär interessant sein.
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Editorial

Gibt man ‚Imidazolyl ethanamide pentandioic acid‘ oder Dicarbamin(e) in Pubmed ein, erhält man eine recht kurze Liste mit Artikeln, von denen man die meisten allerdings nicht lesen kann – sie sind auf Russisch. Die englischen Überschriften und Abstracts deuten jedoch darauf hin, dass Imidazolyl ethanamide pentandioic acid eine pharma­kologisch wirksame Substanz ist. Chemisch betrachtet handelt es sich um ein Peptid-Derivat.

Weitere Recherche fördert zutage: der russische Chemiker Vladimir Nebolsin hat die Substanz erstmalig synthetisiert – wann und wo ist unbekannt. In Russland, so erfährt man außerdem, ist sie unter den Namen Ingavirin oder Vitaglutam als Grippemittel zugelassen. Laut Hersteller, dem Moskauer Pharma-Unternehmen Valenta Pharmaceuticals, ist das Präparat so erfolgreich, dass es für mehrere Preise nominiert war und zwischenzeitlich zum meistverschriebenen Medikament gegen Atemwegsinfektionen in Russland avancierte.

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In Europa unbekannt

In Deutschland oder Europa hat man seltsamerweise bisher jedoch recht wenig bis gar nichts von dem so wirkungsvollen Dicarbamin gehört. Bisher etwas unter dem öffentlichen Radar wird die Substanz aber seit einigen Jahren auch hier getestet. Und zwar in Berlin bei Myelo Therapeutics. Das 2013 gegründete Startup sicherte sich die Rechte von Valenta Pharmaceuticals und die Expertise des Entdeckers, Vladimir Nebolsin, der auch als Gesellschafter an der Firma beteiligt ist.

Myelo Therapeutics wollen allerdings kein neues Grippemittel oder Virostatikum auf den Markt bringen, die beiden Geschäftsführer Till Erdmann und Dirk Pleimes testen Dicarbamin für eine ganz andere Anwendung: nämlich zur Behandlung der verheerenden Neben­wirkungen einer Chemo- oder Radiotherapie. „Unser Medikament basiert auf einer niedermolekularen Verbindung (small molecule), die sich fokussiert im Knochenmark anreichert. Myelo001 schützt die weißen Blutkörperchen vor der Chemotherapie und bewirkt, dass sich die neutrophilen Granulozyten insgesamt schneller erholen. Dadurch bleibt die Immunabwehr weitgehend erhalten“, so Mediziner Pleimes in einem älteren Interview.

Wie die Substanz das genau bewerkstelligt, ist unbekannt. Eine Nachfrage bei Myelo Therapeutics blieb bis zum Redaktionsschluss unbeantwortet. Die letzte offizielle Publikation in Pubmed stammt jedenfalls aus dem Jahr 2013, veröffentlicht in Voprosy onkologii (Impact Factor: 0,090) und ist natürlich auf Russisch verfasst. Dem englischsprachigen Abstract zufolge werden hier myeloprotektive Effekte verschiedener Substanzen nach experimenteller Strahlenbehandlung miteinander verglichen – Dicarbamin schneidet besser ab als das Vergleichspräparat Leucostim.

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Ein Milliarden-Potential?

Diese russischen Studien machen Myelo Therapeutics nun Hoffnungen, das Moskauer Medikament weltweit vermarkten zu können. Bei jährlich rund 2,4 Millionen Chemotherapie-Zyklen mit einem hohen oder mittleren Risiko für die Chemotherapie-induzierte Neutropenie (CIN, Mangel an neutrophilen Granulozyten im Blut) ergäbe sich ein Marktpotential von 5 Milliarden US-Dollar, rechnen die Unternehmer in einer Pressemitteilung vor. Bei der Chemotherapie-induzierten Thrombocytopenie (CIT, Mangel an Thrombozyten) sind die therapeutischen Optionen noch geringer, das geschätzte (und erhoffte) Marktpotenzial also entsprechend höher.

Tatsächlich gibt es einige Argumente, die für die Geschäftsidee des Berliner Startups sprechen: für die Behandlung der CIN ist die Präparat-Auswahl eher gering (Myelo001 wäre sogar die erste CIN-Neuzulassung in 25 Jahren); die Substanz lässt sich in eine einfach einzunehmende Tablettenform bringen und, wie erwähnt, hat sich der Wirkstoff in Russland bereits bewährt. „Das minimiert das Entwicklungsrisiko“, sagte Erdmann in einem früheren Interview. Aber es gibt auch Gegenargumente. Man weiß – wie erwähnt – nicht, wie die Substanz genau wirkt, und, mit den neuen personalisierten Krebstherapien, die Tumorzellen gezielt angreifen und Nebenwirkungen verringern, könnte sich ein Hilfs-Medikament wie Myelo001 vielleicht bald erübrigen.

Nichtsdestotrotz sind die Berliner bereits in die klinische Entwicklungsphase ihres Wirkstoff-Kandidaten eingestiegen. Eine Phase-2a-Studie mit 137 Brustkrebs-Patientinnen schloss Myelo Therapeutics 2017 ab. Auf die Veröffentlichung der Studienergebnisse, die für das Frühjahr 2018 angekündigt war, warten Interessierte bisher vergeblich. Zumindest sind die Ergebnisse weder auf auf der Firmen-Webseite noch auf clinicaltrials.gov hinterlegt.

Störfälle und Explosionen

Wie dem auch sei, das Berliner Startup hat noch andere Optionen. Denn Strahlung bekommt man hin und wieder auch unbeabsichtigt ab, zum Beispiel bei nuklearen Störfällen oder Kernwaffen-Explosionen – was ja durchaus häufiger vorkommt, als die Öffentlichkeit zuweilen mitbekommt. Dennoch gilt die Strahlenkrankheit als ein Seltenes Leiden (weniger als 5 Betroffene pro 10.000 Menschen) und ist damit für eine sogenannte Orphan Drug Designation qualifiziert. Die Zulassungs­behörden gewähren mit dieser Kennzeichnung den Medikamenten­entwicklern einen schnelleren Zulassungsprozess mit weniger Hürden und weniger Gebühren. Hinzu kommt bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) ein 10-jähriges Alleinvermarktungsrecht in der EU.

Seit Ende Juli ist Myelo001 von der EMA als solch ein Orphan-Arzneimittel zur Behandlung der Strahlenkrankheit gekennzeichnet, in den USA hat es den Status bereits letztes Jahr bekommen. Bis Myelo Therapeutics hier ein vermarktungsfähiges Medikament in Händen hält, ist es aber noch ein sehr weiter Weg. Aktuelle Tests laufen an Mäusen und haben gezeigt, dass die Substanz durchaus Potential hat, allerdings nur nach einer sehr hohen Strahlendosis und nicht präventiv. Weitere Studien stehen aus.

Im Erfolgsfall müsste man sich über potentielle Abnehmer jedoch keine Sorgen machen: „Therapien der Strahlenkrankheit gelten als medizinische Gegenmaßnahmen, die im Falle eines potentiellen Gesundheitsnotstands der Bevölkerung, ausgelöst durch biologisches, chemisches oder radioaktives Material, eingesetzt werden können“, heißt es auf der Myelo Therapeutics-Webseite. „Diese Gegenmaß­nahmen werden von der EU, den USA und vielen weiteren ausländischen Regierungen und dem Militär gekauft und bevorratet.“

Ob es die Substanz in naher Zukunft aber so weit bringt, ist so ungewiss wie seine molekulare Wirkungsweise.

Kathleen Gransalke