Die Art, das unbekannte Wesen

(23.08.2019) HIGHLIGHTS AUS 25 JAHREN LABOR­JOURNAL: Was ist eigentlich eine Spezies? Im Jahr 2004 fassten wir die kontroverse Diskussion über Spezies­konzepte zusammen.
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Editorial

Wusste Darwin damals eigentlich, worüber er im „Ursprung der Arten" schrieb? Heute jedenfalls scheint die Verwirrung um den Begriff der „Art" so groß wie nie zuvor: Während die einen seit Jahrzehnten Dutzende verschiedener Spezieskonzepte diskutieren, sagen andere schlichtweg, dass es keine allumfassende Definition geben kann.

Spezieskonzepte haben wir Menschen, seit es uns gibt – ob wir uns ihrer bewusst sind oder nicht. Rein intuitiv teilen wir die umgebende Natur in diskrete Gruppen ein. Und das war überlebenswichtig, denn danach wussten wir beispielsweise: Nicht nur das eine große Tier mit den Streifen und den spitzen Zähnen will uns fressen, sondern alle anderen, die so aussehen, auch – halten wir uns also lieber fern von Tigern. Oder wir wussten genauso: Ich kann bedenkenlos in alle diese kleinen roten Früchte hinein beißen – und werde nicht tot umfallen, da Kirschen nicht giftig sind. Ganz im Gegensatz zu all diesen roten Pilzen mit den weißen Flecken.

Wir nutzen folglich Spezieskonzepte intuitiv im Alltag. Um Verhalten und Eigenschaften von Organismen vorherzusagen und unser eigenes Verhalten darauf abzustimmen. Oder auch einfach nur, um uns gegenseitig von ihnen zu erzählen. Spezieskonzepte sind daher keineswegs reine Kopfgeburten gelangweilter oder abgehobener Wissenschaftler.

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Konstrukt oder konkret

Umso verwunderlicher daher, dass es uns bis heute so schwer fällt, zu definieren, was eine Art überhaupt ist. Das Dilemma begann mit der Erkenntnis, dass die reine morphologische Ähnlichkeit zwischen zwei Organismen doch öfter in die Irre führte als man dachte. Ein solches sogenanntes typologisches Artkonzept machte beispielsweise keineswegs plausibel, warum die Haushundrassen alle zu einer Art gehören, die vielen Tausend Buntbarscharten dagegen jede eine eigene Spezies darstellen.

Das Problem: Kein alternatives Konzept konnte seitdem die Lücke füllen.

Einigkeit herrscht unter den Biologen momentan nur darin, dass eine befriedigende, allumfassende Definition nicht existiert. Die Folge liegt auf der Hand: Die Experten sind in viele Lager gespalten und diskutieren heftig an mehreren Fronten gleichzeitig. Gut über dreißig Spezieskonzepte sind vorgeschlagen, und immer neue kommen hinzu: Je nach Fokus heißen sie typologisch, phylogenetisch, evolutionär, genetisch, ökologisch oder reproduktiv; je nach Zweck sind sie rein theoretisch oder operational. So genannte Monisten suchen nach dem einen allgemeingültigen Artkonzept, Pluralisten dagegen sagen, jedes Konzept gilt in seinem jeweiligen Geltungsbereich. Eine andere Fraktion wiederum sieht in „Arten" lediglich menschliche Konstrukte, die nichts mit der Biologie zu tun haben und lediglich dazu dienen, die Vielfalt der Natur in bearbeitbare Kategorien zu stecken. Deren Gegner verfechten natürlich das genaue Gegenteil und proklamieren Arten vielmehr als konkrete Phänomene der Natur. Ein großes Wirrwarr offenbar – von außen betrachtet.

Diskussion voller Spitzfindigkeiten

Und natürlich ist die Diskussion voller Spitzfindigkeiten, hinter denen sich indes oftmals wichtige Argumente verstecken. Was macht man zum Beispiel mit Hybriden aus zwei verschiedenen Spezies, wie sie etwa häufig bei Pflanzen vorkommen? Wie gehen zum Beispiel Konzepte, die auf morphologischer Ähnlichkeit beruhen, mit Arten um, in denen verschiedene Entwicklungsstadien oder auch deutliche Geschlechtsdimorphismen vorkommen? Schließlich gehört die Raupe zu einer Schmetterlingsart, auch wenn sie so manchem Wurm oder Tausendfüßler ähnlicher sieht.

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Oder das berühmte Biologische Spezieskonzept von Theodosius Dobzhansky und Ernst Mayr, das grob vereinfacht konkrete oder potenzielle Fortpflanzungsgemeinschaften als Arten definiert. Streng genommen gehörte demnach mein Kind nicht – wie ich selbst – zur Art Homo sapiens, da es nicht geschlechtsreif ist.

Oder was ist mit obligaten Selbstbefruchtern, wie sie bei vielen parasitären Würmern vorkommen? Nach Dobzhansky und Mayr müsste hier jedes Individuum als eigene Art angesehen werden, und jede Geburt wäre ein Speziationsereignis.

Und was meint das Biologische Spezieskonzept zu der Tatsache, dass die meisten Organismen auf unserer Erde sich überhaupt nicht sexuell fortpflanzen? Ernst Mayr, der in diesem Jahr 100 Jahre alt wird [der Artikel erschien erstmals 2004, wohlgemerkt], meinte noch im vergangenen Jahr in einem Interview dazu: „Solche Organismen bilden keine Arten.“

Oftmals wird aus diesem Grund das Biologische Spezieskonzept als „Vorurteil von Zoologen" abqualifiziert. Und Mayrs Kritiker werfen zu recht ein: „Wenn das Biologische Spezieskonzept die meisten Organismen als ‚aberrant’ qualifiziert, dann stimmt etwas nicht damit, wie es ‚normal’ spezifiziert.“

Es gäbe noch viele ähnliche Beispiele für die Unzulänglichkeiten des einen oder anderen weiteren Artkonzepts. Doch wechseln wir den Fokus und fragen lieber: Warum gibt es überhaupt Arten? Warum ist die genetische Variabilität der Natur sozusagen in diskreten Packungen organisiert, die wir Arten nennen? Was ist ihr Sinn? Oder anders gefragt: Welche Selektionskräfte favorisieren die Entstehung und den Erhalt von Arten durch entsprechende Isolationsmechanismen?

Die Antwort ist eigentlich simpel: Ohne arterhaltende Isolationsmechanismen würden sich Genkombinationen, die für die jeweiligen Lebensweisen vorteilhaft sind, relativ schnell wieder auskreuzen und verschwinden. Nur wenn ein solches Auskreuzen eingeschränkt wird, kann die Integrität eines unter gewissen Selektionsbedingungen etablierten und ausgewogenen Genpools geschützt werden. Jedes System, das dies bietet, muss daher in der Evolution überlegen sein. Eines davon ist das System „Spezies“.

Über die Zeit und an den Rändern unscharf

Natürlich ist ein gewisses Maß an Variation unter den Individuen einer Art erlaubt – aber eben nur bis zu diesem Grad, ab dem nicht zu viele „artschädliche“ Genkombinationen entstehen. Viele zählen diese Variation der Individuen sogar zu den generellen Charakteristika der „Art“, wodurch dieselbe ja erst in die Lage versetzt wird sich evolutionsgeschichtlich zu entwickeln.

Nicht zuletzt deshalb bezeichnen wiederum viele – nicht alle! – die „Art“ auch als zentrale Einheit der Evolution. Die natürliche Selektion wählt aus den Individuen aus – deren Bestandteilen also –, und durch eben diese Auswahl verändert sich die gesamte Art. Jede Art entwickele sich auf diese Weise evolutionsgeschichtlich unabhängig, bilde quasi eine separate evolutionsgeschichtliche Entwicklungseinheit, meinen die Vertreter dieser Sichtweise.

Dazu jedoch muss man akzeptieren, dass es überhaupt Arten gibt. Nicht jeder tut das. Vielmehr sieht eine durchaus starke Fraktion in „Arten“ lediglich abstrakte menschengemachte Konzepte – bar jeder biologischen Realität und lediglich dazu da, um die natürliche Vielfalt in verdaubare Happen einzuteilen. Deren Hauptargumente sind, dass Arten zum einen keine feste Größe sind, sondern sich vielmehr in stetig evolutionärem Fluss über die Zeit dynamisch verändern. Arten können von daher allenfalls Momentaufnahmen sein, sagen sie. Selbst Darwin gestand ihnen einst lediglich eine temporäre Existenz zu. Der zweite Punkt ist, dass es oftmals schwierig ist, klare Grenzen zwischen Nachbararten zu ziehen – vor allem da, wo gerade Speziation stattfindet, die ja in der Regel auch einen über längere Zeit stetigen Prozess darstellt. Arten sind folglich an den Rändern unscharf, der US-Genetiker Jody Hey spricht etwa ganz modern von Fuzzy Species.

Diese Unschärfe könne jedoch einfach daraus resultieren, dass wir die entsprechenden Grenzen nicht erkennen, entgegnen diejenigen, für die Arten stattdessen ganz real existieren: Denn schließlich sei nicht wirklich wichtig, ob wir Menschen die Unterschiede zwischen zwei Nachbararten erkennen – Hauptsache, die Arten selbst erkennen sie. Was sie zweifelsohne tun.

Überdies denke man beispielsweise an Parasiten, die ihren Lieblingswirt bisweilen sehr genau von den nächsten Verwandten unterscheiden können. All dies spräche dafür, dass Arten kein abstraktes Konzept sind, sondern konkret existieren, führen die „Realos“ ins Feld. Ernst Mayr jedenfalls sagt es ganz klar: „Der Begriff ‚Spezies’ bezieht sich auf ein konkretes Phänomen der Natur. Genauso wie die Worte ‚Mond’ oder ‚Planet’ technische Begriffe für konkrete Phänomene sind.“

Trend zu einer Reihe legitimer Konzepte

Einige philosophisch ausgerichtete Biologen oder biologisch ausgerichtete Philosophen gehen sogar noch weiter: Für sie gehören Arten in die philosophische Kategorie realer und historischer Individuen. Einer deren Vorreiter ist der US-Amerikaner Michael Ghiselin, der eine Spezies als konkretes Individuum betrachtet, das sich aus einer Anzahl von historisch und genetisch verwandten Organismen zusammensetzt, die ebenfalls jeweils Individuen sind. Wie jedes andere Individuum existiert demnach eine Art zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort – hat einen Anfang, eine kausale Vorgeschichte, verändert sich, hat einzigartige Eigenschaften, eine Geschichte und, bei Aussterben, ein Ende. Eine Art weist somit nicht die Charakteristika einer „Klasse“ auf, die im Gegensatz dazu unveränderlich, sowie räumlich und zeitlich unbegrenzt existiert. Eine einfache These mit weitreichenden Konsequenzen. Eine davon: Arten lassen sich nicht definieren, nur beschreiben – genauso wie etwa das Individuum Rudi Völler.

Möglicherweise geht auch deshalb der Trend momentan zum Pluralismus. Im Gegensatz zu den sogenannten Monisten haben die Pluralisten auf der Suche nach dem einen Spezieskonzept kapituliert. Sie proklamieren, dass es in der Biologie eine ganze Reihe legitimer Spezieskonzepte gibt und folgern ganz pragmatisch: „Die jeweiligen Spezialisten sollen das Konzept nehmen, das am ehesten ihre methodischen und theoretischen Bedürfnisse erfüllt.“ Der Knackpunkt liegt beim Wörtchen „legitim“. Innerhalb solch eines Pluralismus muss sehr klar sein, ab wann ein Konzept das „Legitimitäts-Kriterium“ erfüllt, ansonsten verkommt der schöne Pluralismus schnell zu einem aussageleeren „Anything goes".

Es sind vor allem die Philosophen, die solch ein Pluralismus wurmt. Wo immer Pluralismus droht, wittern viele von ihnen konzeptuelle Promiskuität und erkenntnistheoretische Anarchie – und fühlen sich besonders herausgefordert. Sicher mit ein Grund, weswegen sie sich seither mit Inbrunst in die Diskussion einmischen – und das eine Spezieskonzept suchen, auf dem alle anderen gründen.

Dagegen macht den meisten Biologen ein solcher Artkonzept-Pluralismus nur wenig Bauchschmerzen – solange sie einfach nur wissen, worüber sie reden. Definitionen haben für viele von ihnen sowieso nur den Status nützlicher pädagogischer Hilfsmittel, in deren Rahmen man die Ausnahmen sogar als „besonders interessant“ behandeln kann.

Morphologie kann täuschen – DNA auch

Was Biologen in aller Regel viel stärker interessiert als Spezies zu definieren, ist, Spezies zu identifizieren. Dabei helfen theoretische Konzepte kaum. Wer Arten bestimmen will, braucht vor allem operationale diagnostische Konzepte. Solche werden zwar gemeinhin Kon-zepte genannt, konkret handelt es sich jedoch eher um Re-zepte zur Grenzziehung zwischen einzelnen Spezies. Verständlich, dass solche operationalen Kon-/Rezepte insbesondere dort fruchtbar gedeihen, wo noch viele Arten zu entdecken sind – also etwa bei Prokaryoten, Protozoen und Pilzen.

Nur ist auch dies nicht einfach. Schon Darwin sagte, dass es keine feste Menge an Unterschieden gibt, die eine Spezies ausmachen. Phänotypen beziehungsweise der Grad an morphologischen, physiologischen, ökologischen oder anderen Unterschieden können täuschen – und tun dies auch. So häufen sich seit einiger Zeit die Beispiele, wonach sich Organismen, die bislang ein und derselben Spezies zugerechnet wurden, tatsächlich auf zwei oder mehrere Arten verteilen. Etwa die Elefanten: Dachte man bis vor kurzem, dass es lediglich zwei Arten gibt, den afrikanischen und den indischen, diskutiert man jetzt nach neueren Untersuchen, ob in Afrika nicht doch drei verschiedene Arten leben. Oder der kalifornische Salamander Batrachoseps attenuatus: Innerhalb weniger Jahre stellten Experten fest, dass diese vermeintliche „Art“ sich in mehr als zwanzig separate Spezies aufteilt.

Diese neuen Erkenntnisse verdanken wir natürlich in erster Linie methodischen Fortschritten, mit denen sich zusätzliche Unterschiede zwischen Organismengruppen deutlich feiner auflösen lassen. Stichwort: Sequenzvergleiche. Die genetische, oder neuerdings auch die genomische Distanz entwickelte sich in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten zu einem neuen, starken Kriterium bei der Unterscheidung von Arten. Vor allem dort, wo die bisherigen Kriterien kaum diskriminierten, erschließen sich seitdem ganz neue Möglichkeiten der Spezies-Identifikation: Prokaryoten, Protozoen, Pilze,...

Ein Allheilmittel sind Sequenzen allerdings nicht, auch wenn es zuerst viele hofften. Denn wiewohl Faustregeln für eine molekulare Spezies-Differenzierung bereits existieren, kann eine Artabgrenzung allein aufgrund der Menge an Basenunterschieden ebenfalls schwer in die Irre führen. Eindrucksvollstes Beispiel hier: Die berühmten Artenschwärme der ostafrikanischen Buntbarsche oder Cichliden. Allein im Victoriasee gibt es über fünfhundert morphologisch durchaus verschiedene Buntbarsch-Arten, dennoch sind diese genetisch deutlich homogener als etwa die Variationen unter den menschlichen Populationen. Ganz zu schweigen von derjenigen unter den vielen Rassen der einen Art „Hund“, bei denen die innerartliche Variation durch die unnatürlichen Zuchtverhältnisse wohl am weitesten getrieben wurde.

Spezies-Mechanismen entscheidend

Welches Kriterium man auch nimmt, die alte Kernfrage bleibt folglich bestehen: Welcher Grad an Unterschieden reicht aus, um zwei Organismen zwei verschiedenen Arten zuzusprechen? Und bis zu welchem Grad handelt es sich umgekehrt um die Variation zwischen zwei Populationen dergleichen Spezies? Fragen, die sich ziemlich wahrscheinlich niemals allgemeingültig beantworten lassen.

Womit wir wieder beim theoretischen Spezieskonzept wären. Solange Arten nicht aufgrund der Mechanismen oder Eigenschaften eingeteilt werden, durch die sie zu Arten werden und solche bleiben, sind die Gruppierungen artifiziell. Das spricht zunächst einmal grundsätzlich gegen rein morphologisch/typologische Konzepte, die auf der puren Evaluation von Ähnlichkeiten basieren. Geht man zudem davon aus, dass Spezies real sind, muss man sie sogar nach mechanistischen Gesichtspunkten definieren.

Insbesondere betrifft das die Mechanismen der Speziation und der Isolation. Und damit hat man auch schon das Problem: Diese Mechanismen sind vielfältig. Es gibt nicht nur eine Klasse von Mechanismen, durch die Arten entstehen und stabil bleiben. Aus diesem Grund kann es auch nur schwerlich ein universelles mechanistisches Spezieskonzept geben.

Arten als verschiedene Phänomene der Evolution

Dazu sind allein schon die Mechanismen, wie sich Arten isolieren, in den verschiedenen Organismendomänen zu unterschiedlich. Mit der Konsequenz, dass der Begriff „Spezies“ über Bakterien, Flechten, Protozoen, Vögel, Pilze, Parasiten und Gräser hinweg nicht jedes Mal exakt denselben Typ evolutionäres Phänomen beschreibt. Im Gegenteil: Die Spezies-Modi unterscheiden sich und scheinen jeweils für sich spezifische Eigenschaften verschiedener evolutionärer Linien zu sein. Oder anders gesagt: Die Eigenschaften und Mechanismen, die kausal Organismengruppen von anderen „verschieden machen“, haben sich selbst evolutionär entwickelt – und zwar viele unabhängig voneinander. Auch Mayrs „Biospezies“ ist demnach eine evolutionär abgeleitete Eigenschaft, die sich mit dem Entstehen sexueller Fortpflanzung vor etwa 600 bis 1.000 Millionen Jahren entwickelte. Letztlich entstand dadurch nicht mehr als eine neue Klasse von Art-Isolierungsmechanismen – neben all den anderen, die bereits existierten.

Es gibt daher nicht den einen, allgemeingültigen Modus, ein Art zu sein. Und so viele kausale Wege es gibt, eine Art zu sein, so viele mechanistische Spezieskonzepte wird es auch geben. Wahrscheinlich werden wir mit der Situation leben müssen, dass beispielsweise eine Pilzart etwas anderes ist als eine Bakterienart. Und eine Froschart wieder etwas anderes.

Ralf Neumann



Letzte Änderungen: 23.08.2019