“Es wird zu viel Geld verschwendet“

(24.06.2019) Denn um eine Zöliakie zu diagnostizieren, braucht es nicht zwangsläufig teure Gentests und Biopsien, sagt Gastro­enterologin Sibylle Koletzko.
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Editorial

Glutenfreie Kost überall im Supermarktregal – ob wirklich alle Käufer dieser Produkte unter einer klinisch diagnostizierbaren Nahrungsmittel-Unverträglichkeit leiden, sei mal dahingestellt. Zöliakie jedenfalls gibt es wirklich, und die bislang einzig bekannte wirksame Therapie ist eine lebenslange glutenfreie Diät. Sibylle Koletzko wirkt an der Entwicklung von Leitlinien mit, und zwar zur Diagnostik der Zöliakie bei Kindern. Die Kinder- und Jugendärztin leitet die Pädia­trische Gastroenterologie & Hepatologie am Dr. von Haunerschen Kinderspital des Klinikums der Universität München. Koletzko ist die einzige Frau unter den dreißig meistzitierten Köpfen unseres Gastroenterologie-Rankings.

Laborjournal: Im Vorfeld des Interviews sagten Sie, Zöliakie werde von Kinderärzten noch immer zu selten erkannt. Wie kommt das? Zöliakie ist doch eine klar definierte Erkrankung.

Sibylle Koletzko: Leider ist es eben nicht so einfach. Kinderärzte kennen natürlich diese klassische Manifestation mit dem dickbäu­chigen misslaunigen Kind, das Durchfälle hat und nicht richtig gedeiht. So typisch ausgeprägt ist die Zöliakie aber vielleicht bei zehn bis fünfzehn Prozent der betroffenen Kinder. Viel häufiger sind unspezifische Symptome. Bauchschmerzen hat halt jedes Kind mal. Vielleicht ist ein Kind etwas untergewichtig, aber man denkt da nicht immer an Zöliakie.

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Doch irgendwann muss ja auffallen, dass etwas nicht stimmt.

Koletzko: Dass man Zöliakie übersieht, ist in der Erwachsenenmedizin noch ausgepräg­ter. Ich bin überzeugt, dass viele der mit Reizdarm diagnostizierten Personen gar nicht auf Zöliakie untersucht werden. Hinzu kommt, dass sich die Krankheit nicht immer am Darm äußert. Einige Betroffene haben eine verspätete Pubertät oder bekommen als Erwachsene Schwierigkeiten, schwanger zu werden. Vermehrte Knochenbrüche können ebenso ein Hinweis auf Zöliakie sein.

Für Ihre Studien beobachten Sie Probanden aus internationalen Kohorten von frühester Kindheit an.

Koletzko: Ja, da haben wir inzwischen Verläufe von vielen tausend Kindern. Wir wissen, dass das größte Risiko für das Auftreten einer Zöliakie im Alter zwischen zwei und drei Jahren liegt. Und bei all denen sehen wir auch eine bestimmte Variante der HLA-Markers.

HLA – das steht für „Humanes Leukozyten-Antigen-System“. Bei Menschen mit Zöliakie findet man praktisch immer das HLA-Allel DQ2 oder DQ8, schreiben Sie in Ihren Papern. Weiß man denn, was bei diesen Allelen funktionell anders ist?

Koletzko: Die Enzyme der Bauchspeicheldrüse spalten Proteine während der Verdauung nicht komplett; es bleiben also längere Ketten übrig. Die Peptide des Glutens gehen durch die Darmschleimhaut und werden durch die Gewebe-Transglutaminase trans­aminiert. Diese Transglutaminase ist bei der Zöliakie das Autoantigen, auf das das eigene Immunsystem reagiert. Die deaminierten Peptide werden von Immunzellen erkannt. Die HLA-Marker sitzen wie Ärmchen auf den Immunzellen. Dabei passen die Gluten-Peptide sterisch in die Varianten DQ2 und DQ8 hinein. Wenn diese Bindung an HLA nicht erfolgt, dann kommt es nicht zu dieser immunolo­gischen Kaskade, die zur Schleimhaut-Schädigung führt. Deswegen sind besagte HLA-Allele sozusagen conditio sine qua non für eine Zöliakie. Wenn jemand sie nicht hat, und das sind etwas zwei Drittel der Bevölkerung, kann er Weizen essen, so viel er will und wird keine Zöliakie entwickeln.

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Spielt es eine Rolle, ob man homozygot oder heterozygot für solch ein Allel ist?

Koletzko: Ja, auch das wissen wir aus den Kohortenstudien. DQ2 und DQ8 kommen ungefähr gleich häufig in der Bevölkerung vor. Und trotzdem haben 95 Prozent der Zöliakie-Patienten DQ2. Die Affinität von DQ2 zu diesen Peptiden ist sehr viel höher als die von DQ8. Und bei denen, die homozygot für DQ2 sind, entwickelt etwa jeder Vierte eine Zöliakie.

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Sibylle Koletzko: "Es ist völliger Unsinn, Weizen grundsätzlich zu verteufeln." Credit: LMU München

Zöliakie beruht also zum einen auf einer Immunreaktion gegen Peptide aus dem Gluten. Und es findet eine Autoimmunreaktion gegen die Transglutaminase statt. Das führt dann zu den typischen Entzündungsreaktionen im Darm, die man durch Biopsien nachweisen kann. In den europäischen Leitlinien zur Zöliakie aus dem Jahr 2012 schreiben Sie und Ihre Koautoren, dass man bei gegebenen Voraussetzungen eine sichere Diagnose auch ohne eine Biopsie stellen kann.

Koletzko: Genau. Wir wissen schon länger, dass eine Korrelation zwischen Höhe des Antikörper-Titers gegen das Autoantigen Transglutaminase und der Schwere der Zotten-Schädigung besteht. Wer mit diesen Antikörpern zehnfach über dem Grenzwert liegt, der hat ziemlich sicher eine Zöliakie. In einer großen internationalen Studie mit 33 Zentren in 21 Ländern aus Europa, aber auch Israel, Iran, und Russland, haben wir prospektiv an über 700 Kindern und Jugendlichen mit positiven Transglutaminase-Antikörpern validiert, dass bei diesen hohen Titern und Nachweis der sehr spezifischen Endomysium-Antikörper in einer zweiten Blutprobe eine Zöliakie mit einem Vorhersage-Wert von über 99 Prozent vorliegt. Wenn die Leitlinien strikt befolgt werden, kann bei rund der Hälfte der Kinder mit Zöliakie die Diagnose zuverlässig ohne Endoskopie und Biopsien gestellt werden. Und das ist ein riesiger Fortschritt. Zwar sind heutige Narkosen sehr sicher, doch die von Zöliakie betroffenen Kinder sind ja häufig mangelernährt und haben daher ein höheres Restrisiko. Und viele Kinder und Eltern haben Angst vor dem Eingriff.

Sind die Leitlinien auch heute noch gültig, oder haben sich inzwischen Änderungen ergeben?

Koletzko: Die aktualisierten Leitlinien werden in wenigen Wochen veröffentlicht. Die teuren genetischen Tests auf die HLA-Marker werden zur Bestätigung der Zöliakie-Diagnose in Zukunft nicht mehr benötigt. Wenn ich diese hohen Antikörper-Titer habe, bin ich immer positiv für DQ2 oder DQ8. Also muss man das nicht explizit testen. Wenn die Antikörper nachweisbar, aber unter dem Zehn­fachen liegen, muss biopsiert werden. Die Genetik hilft da nicht weiter. Die dient mehr dem Ausschluss der Zöliakie-Diagnose – zum Beispiel, wenn schon länger glutenfrei gegessen wird.

Mir liegt an dieser Stelle noch ein ganz wichtiger Punkt am Herzen, den wir auch in den neuen Leitlinien stark betonen. Wenn der Verdacht auf eine Zöliakie besteht, dann sollten initial nur zwei Untersuchungen angefordert werden: IgA-Antikörper gegen die Transgluta­minase und die Konzentration des gesamten IgA. Ein Teil der Menschheit kann nämlich kein oder nur sehr wenig IgA herstellen. Und bei diesen „IgA-Mangel-Menschen“ könnte ein Test gegen Transglutaminase-Antikörper falsch-negativ ausfallen. Wenn sowohl Gesamt-IgA normal als auch Transglutaminase-IgA-Antikörper unauffällig sind, ist eine Zöliakie sehr unwahrscheinlich. Das ist im klinischen Alltag bei 95 Prozent der Personen der Fall. Nur wenn einer der Tests auffällig ist, sind weitere Untersuchungen im Blut oder eine Endoskopie notwendig. Leider wurde und wird da viel Geld verschwendet, indem weitere, weniger zuverlässige Antikörper bestimmt werden – die dann aber eher verwirren, als dass sie weiterhelfen. Für die Labordiagnostik kann das Gesundheitssystem da manchmal zum Selbstbedienungsladen werden.

Nun scheint es immer mehr Menschen zu geben, die kein Gluten und andere Nahrungs­mittel vertragen. Ich habe ja manchmal schon selber das Gefühl, mich schlecht zu ernähren, nur weil ich zum Frühstück Brot oder Müsli esse.

Koletzko: Weizen wird ja für vieles Schlechte verantwortlich gemacht, und vor allem in den USA sieht man diesen Hype auf glutenfreie Ernährung. Es gibt definitiv auch eine Nicht-Zöliakie-Weizensensitivität, die eher einer nicht durch IgE-vermittelten Allergie entspricht. Dazu forscht übrigens Detlef Schuppan an der Universität Mainz, der 1997 auch die Transglutaminase als Autoantigen der Zöliakie entdeckt hatte (Nat Med, 3(7): 797-801). Was man aus verschiedenen Studien aber abschätzen kann: Von hundert Menschen, die glauben, sie vertragen Weizen nicht, bleiben vielleicht fünf übrig, die wirklich eine Unverträglichkeit haben. Also kurz gesagt: Ja, es gibt Gluten-Unverträglichkeit. Aber sie ist viel seltener als die meisten Menschen glauben. Wer eine Zöliakie oder Weizenallergie hat, der muss glutenhaltige Produkte konsequent meiden. Für alle anderen ist Weizen unproblematisch, reich an Ballaststoffen und Spuren­elementen – und übrigens für die Welternährung das wichtigste Nahrungsmittel. Den Weizen grundsätzlich zu verteufeln, ist also völliger Unsinn.

Die Fragen stellte Mario Rembold