Köstlicher Medusen-Snack

(15.04.2019) Quallen bestehen zu einem Großteil aus einem geleeartigen Gel. Gastrophysiker können aus ihnen dennoch eine knusprige Knabberei herstellen.
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Editorial

Wer am Strand schon einmal gesehen hat, wie eine Qualle vor sich hin trocknet, wird wahrscheinlich nicht sofort darauf kommen, dass sich aus dieser glibberigen Masse leckere Quallen-Chips herstellen lassen. Dabei gehören Quallen schon seit Jahr­hunderten zur asiatischen Küche und auch in Europa kommen sie auf den Teller. „In Dänemark isst man lokal, was die Halb­insel bietet. Quallen gibt es zuhauf“, erklärt Thomas Vilgis vom Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz.

Der Gastrophysiker hat zusammen mit Mie Pedersen von der Universität von Süddäne­mark eine auf physikalischen Grundlagen basierende Methode zur Zubereitung von Quallen-Chips entwickelt. In Asien werden Quallen, insbesondere Schirmquallen (Scyphozoa), für ihren knackigen Geschmack geschätzt. Quallen und knackig? Ja, wenn man sie richtig zubereitet. Kochen, braten oder trocknen funktioniert nämlich nicht. Eine getrocknete Qualle zerfällt zu Staub, eine gekochte wird gummiartig und schleimig.

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Fest und flüssig zugleich

Dies versteht man, wenn man sich ihren Aufbau anschaut. Im Prinzip bestehen Quallen aus einer geleeartigen Substanz, die zwischen zwei Epithelien gequetscht ist. Die Gallerte ist das Bindegewebe der Qualle, die Mesogloea, und macht den größten Teil der Qualle aus. Sie besteht zu etwa 96 Prozent aus Wasser und ist für den Physiker ein Gel, also eine leicht verformbare, elastische Substanz, die gleichermaßen Eigenschaften von Flüssig­keiten und Festkörpern besitzt. „Dänische Physiker kamen deshalb auf die Idee, die Qualle als Modell für ein lebendes Gel zu verwenden“, erklärt Vilgis. „Aus Sicht der Grundlagen­forschung ist das ein wundersam, einfaches – weil molekular übersichtliches – ‚Objekt‘. Auf jeden Fall ist es das schmackhafteste und spannendste Beispiel an Gelen, das mir während meiner foodphysics-Tätigkeit über den Weg ‚lief‘ und immer noch läuft.“

Gemeinsam mit Flüssigkeiten, Schäumen, Flüssigkristallen, Polymer-Schmelzen, Polyelektrolyten (z. B. das Absorbermaterial in Windeln), kolloidalen Suspensionen wie Tinte und Blut, Gummi, Tensiden und jeder Menge biologischer Materialien gehören Gele zur weichen Materie, die in der Physik als Modellsystem dient, um grundlegende Phänomene wie etwa Selbstorganisation, nicht-lineare Materialeigenschaften, Phasen- bzw. den Glasübergang zu untersuchen.

Das Quallen-Gel besteht aus Polymeren, die eine große Menge an Lösungsmittel aufnehmen und dadurch anschwellen können. Die etwa ein Prozent organische Materie der Mesogloea enthält Strukturproteine wie Kollagen und Elastin sowie wasserlösliche Mucopro­teine (Proteine, die Zuckerketten tragen, die wiederum Aminozucker enthalten) und Polysaccharide. Das Kollagen sorgt für die Stabili­tät des Quallen-Körpers, Elastin für dessen elastische Beweglichkeit. Beim Erhitzen denaturiert es zu Gelatine, beim Trocknen zerfällt es und damit auch der Quallen-Körper. Kulinarisch kein Genuss!

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Gerben statt einlegen

Mithilfe zweier Salze, Natriumchlorid und Alaun, einem schwefelsauren Aluminiumsalz, werden die Quallen in der asiatischen Küche im Prinzip gegerbt, wie es auch mit Leder gemacht wird. Dabei reduziert das Kochsalz die Wasseraktivität, während das Alaun den pH-Wert senkt.

Diese beiden Faktoren spielen auch eine Rolle, wenn Gemüse durch Salz und Essig haltbar gemacht wird – aber eine Essigbehandlung hilft bei Quallen nicht. Stattdessen sind die multivalenten Aluminiumionen wichtig. Ihre Ionenvalenz und der Ionenradius sind genau passend, um die Kollagen-Polymere dauerhaft zu vernetzen. Das Natriumchlorid hat neben der Senkung der Wasseraktivität noch eine weitere Funktion: „Die Ladungen des Elastins sind sehr stark netto positiv. Die müssen erst abgeschirmt werden, damit der Gerbprozess überhaupt funktioniert. Durch die Zugabe von monovalentem NaCl werden die Polyelektrolyte hinreichend auf großer Skala ‚neutral‘ und stoßen sich nicht mehr ab. Die höhervalenten Salze können dann lokal die elektrostatische Bindung ermöglichen“, so Vilgis.

Vor dem Servieren werden die Quallen rehydriert und serviert. Beim Draufbeißen wirken sie knackig, etwa wie ein Apfel oder Spaghetti al dente, erklärt der Forscher. Beim ersten Biss werden die Kollagen-Elastin-Fasern deformiert, wodurch Wasser freigesetzt wird und einen weichen, eher geleeartigen Geschmackseindruck hinterlässt. Beim zweiten Biss nimmt die Kraft zu und die Fasern brechen – die Qualle schmeckt knackig.

Essbares „Glas“

Das Quallen-Gerben funktioniert, aber mit einer Einwirkzeit von einem Monat sehr lang­wierig. Wer nicht so lange auf seine Spezialität warten möchte, kann jetzt auf eine Metho­de der molekularen Küche zurückgreifen. Um ein ähnlich interessantes Geschmacks­erlebnis zu erzeugen, werden die Quallen hierbei in Ethanol getränkt. Dabei handelt es sich um ein schlechtes Lösungsmittel für geladene und polare Mucoproteine sowie Poly­saccharide, so dass das Gel kollabiert statt anzuschwellen. Auf diese Weise wird das Netzwerk dichter, und die Qualle elastischer, also gummiartiger.

Das hört sich jetzt noch nicht so lecker an, aber wenn der Ethanol verdampft, kommt es zu einem Glasübergang. Bei Polymeren beruht dieser auf einem „Einfrieren“ der Ketten: „Beim Glas liegen amorphe Strukturen vor, die Mucoproteinketten schnurzeln unter Alkoholeinwirkung zusammen, verschlaufen und verknoten sich wie ein Berg Spaghetti. Wenn der Alkohol verdampft ist und auch kein Wasser mehr da ist, rücken die Moleküle so eng zusammen, dass sie sich nicht mehr weit bewegen können. Beim Beißen auf die Quallen-Chips kann die Energie nicht mehr durch molekulare Bewegung abgefangen werden. Sie brechen wie Glas und schmecken knusprig wie Kartoffelchips oder Cornflakes. Wir finden das im Mund sensorisch lustig, wenn es kracht.“

Deshalb ist Vilgis auch überzeugt: „Mit Sicherheit kommen Quallen-Chips, aber auch analog hergestellte Kartoffel-/Gemüse.Chips irgendwann auf den Markt bzw. in die Restaurants.“ Na dann, guten Appetit!

Larissa Tetsch

M. T. Pedersen, T. A. Vilgis (2019): Soft matter physics meets the culinary arts: From polymers to jellyfish. International Journal of Gastronomy and Food Science, 16, 100135.