Der Widerspenstigen Zähmung

(21.02.2019) Es sollte Roches neuer Blockbuster werden. Im Praxistest offenbart das Grippemittel Xofluza jedoch Mängel. Ist der Tamiflu-Nachfolger schon am Ende?
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Editorial

Die Grippe zähmen – keine leichte Aufgabe, aber eine lohnende. Denn Jahr um Jahr erwischt es hunderttausende Menschen: sie werden von Typ A oder B Influenzaviren attackiert und infiziert. Fieber, Glieder­schmer­zen, Übelkeit und Husten sind das bekannte Ergebnis. Ein Medikament, das den Krankheitsverlauf beschleunigt und/oder abmildert, scheint daher wie ein Gold­brunnen für Pharmafirmen, der nicht versiegt.

Einen solchen Brunnen fand Roche tatsächlich vor rund 30 Jahren in San Francisco. Dort hatte Norbert Bischofberger, ein österreichischer Biochemiker in Diensten der US-ameri­kanischen Biotech-Firma Gilead Sciences, Anfang der 90er Jahre ein Medikament ent­wickelt, das gegen beide Influenza-Typen wirkt und in Tablettenform verabreicht werden konnte. Ausgangsprodukt der Substanz ist die Shikimisäure, die Bischofberger aus einem Extrakt des Sternanis (Illicium verum) isolierte. Heute lässt sich die Säure auch biotechnologisch in E. coli herstellen. Und auch für die eigentlich aufwendige und komplizierte Synthese gibt es inzwischen Shikimisäure-freie Alternativen. Am Ende kommt aber immer dasselbe heraus: Oseltamivir oder besser bekannt unter seinem Markennamen Tamiflu (tame = zähmen).

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Freisetzung verhindert

Der Grippe-Dompteur Tamiflu zählt zu den Neuraminidase-Inhibitoren. Normalerweise sorgt das virale Enzym dafür, dass neugebildete Viruspartikel die infizierte Zelle verlassen können, um sich anschließend auf Ansteckungstour im menschlichen Körper zu begeben. Tamiflu unterbindet diese Virion-Freisetzung.

Der Rest der Geschichte klingt wie ein Traum für jeden Pharmahersteller. Roche sicherte sich 1996 die Vermarktungsrechte und kurze Zeit später begannen die ersten klinischen Studien. Bereits drei Jahre später erhielt Tamiflu die Zulassung für die Schweiz. Im Jahr 2000 war auch die FDA überzeugt; die EU ließ sich etwas mehr Zeit – erst 2002 konnten auch französische, schwedische oder niederländische Ärzte ihren Grippe-geplagten Patienten das Medikament verschreiben. Damit setzte endgültig der große Geldregen ein: allein im Jahr 2006 scheffelte Roche über zwei Milliarden Schweizer Franken. Nicht ganz unbeteiligt am Umsatz war die WHO, die allen Staaten empfahl, möglichst viel des Grippemittels einzulagern für den befürchteten Fall einer Pandemie – die dann aber ausblieb.

Jeder Traum ist aber irgendwann mal ausgeträumt. Zuletzt sanken die Einnahmen erheblich: im ersten Halbjahr 2018 brachte Tamiflu „nur“ noch 320 Millionen Franken ein. Grund dafür ist auch, dass im Jahr 2016 der Patentschutz abgelaufen ist. In den USA erhielt das erste Generikum am 3. August 2016 die Zulassung durch die FDA, in Europa sicherte sich Actavis bereits 2014 eine „marketing authorisation“ für ein Tamiflu-Nachahmerprodukt namens Ebilfumin. Schlechte Träume bescherte den Schweizern wohl auch eine Meta-Analyse der Cochrane Collaboration, die zeigte, dass Tamiflu nicht so wirksam ist wie behauptet.

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Nachfolger gesucht

Lange Rede, kurzer Sinn. Für Roche bedeutete der Verlust des Patentschutzes vor allem eins: Damit die Geldströme wieder fließen, muss ein neues antiviral wirkendes Produkt her. Ein Produkt wie Baloxavir marboxil (Markenname: Xofluza). Auch Xofluza soll Influenza­viren zähmen. Allerdings auf eine andere Art und Weise als Tamiflu. Baloxavir marboxil hemmt das virale Enzym Polymerase Acidic (PA) Protein, das Teil der viralen RNA-Polymerase ist. Hemmung von PA führt daher zu Problemen bei der viralen RNA-Transkription und Replikation. Entwickelt wurde das Medikament vom japanischen Pharma-Unternehmen Shionogi, das Roche 2016 als Kooperationspartner anwarb. Der interkontinentale Deal sieht vor, dass Roche die Entwicklung finanziell unterstützt, dafür erhalten die Schweizer Anteile an den Vermarktungsrechten.

Zwei klinische Studien (eine Phase-2- und eine Phase-3-Studie) reichten für eine Zulassung in Japan (Februar 2018) und den USA (Oktober 2018). Mit einer einzigen Tablette sollen die Grippe-Symptome auf 2,3 Tage verkürzt werden. „Das ist das erste antivirale Grippemedikament mit neuem Wirkmechanismus, das von der FDA in den letzten 20 Jahren zugelassen wurde“, urteilte die amerikanische Zulassungsbehörde. „Tausende Menschen erkranken jedes Jahr an der Grippe, und viele von ihnen werden ernst­haft krank, daher ist es von entscheidender Bedeutung, verschiedene sichere und effektive Behandlungsmöglichkeiten zu haben. Dieses neue Medikament stellt so eine wichtige, zusätzliche Behandlungsoption dar“.

Milliarden-Umsatz

Der Schweizerische Blick schätzt den jährlichen Spitzenumsatz für Xofluza auf rund drei Milliarden Franken. Aus anderen Teilen der Welt gibt es bereits konkrete Zahlen. So vermeldet das Wall Street Journal, dass das Medikament in Japan (Kostenpunkt: 44 Dollar) im Oktober-Dezember-Quartal 90 Millionen Dollar, in den USA (Kostenpunkt: 150 Dollar) im gleichen Zeitraum 13 Millionen Dollar eingespielt hat.

Japan leidet momentan unter einer der schlimmsten Grippewellen seit Jahren. Xofluza, zwischenzeitlich das meistverschriebene Medikament des Landes, konnte so gleichmal in der Praxis getestet werden. Patienten waren durchaus begeistert. Allerdings fand das Tokioter National Institute of Infectious Diseases bei Routine-Untersuchungen gleich sechs Virenstämme, die sich von Xofluza nicht aufhalten ließen. Alle gehören zu den Influenza A-Viren: A(H1N1)pdm09, ein Virus-Subtyp, der sich während der Influenza-Pandemie 2009/10 ausbreitete, und seither immer mal wieder auftritt. Weitere fünf Stämme konnten dem Subtyp A(H3N2) zugeordnet werden. A(H3N2) steckt hinter der Hongkong-Grippe, die in den später 60er-Jahren weltweit grassierte und eine Million Menschenleben forderte. Gut zu wissen: alle anderen getesteten Antivirals, inklusive Tamiflu, waren gegen diese sechs Stämme wirksam.

Resistenz versus Reduktion

Bereits in den beiden klinischen Studien gab es Auffälligkeiten. Bis zu 10 % der behan­delten Patienten sprachen nicht vollständig auf die Behandlung an. Verantwortlich dafür waren Varianten des Polymerase Acidic Proteins, das Xofluza ja hemmt, mit einer I38T/M/F-Mutation. Diese Mutation tritt häufig in den oben genannten, Baloxavir-resistenten Virus-Subtypen auf. Roche sprach jedoch in dem Fall von „Reduced Susceptibility“ und erklärte, dass es per Definition der Zulassungsbehörden eben keine Resistenz ist – denn das Medikament wirkt ja trotzdem, nur eben schwächer.

In Europa ist Xofluza noch nicht zugelassen, es gibt keine Einträge bei der Europäischen Arzneimittelagentur. Laut Blick gibt es aber in der Schweiz Gespräche mit der zuständigen Behörde. Allerdings könnte sich die Zulassung noch eine Weile hinziehen, denn zunächst muss sich Roche dem Resis-…, nein, dem Reduced-Susceptibility-Problem annehmen.

Kathleen Gransalke



Letzte Änderungen: 21.02.2019