Fangfrische Fische

(22.02.2018) “Kaum entdeckt, schon ausgerottet.” Das gilt nicht nur für seltene Arten, sondern auch für diverse Laborutensilien.
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Editorial

(22.02.2018) Ich habe sie gefunden. Die ideale Methode, wie Laborzubehör nahezu ewig hält und sich nicht abnutzt. Im Grunde ist es so banal, dass ich nicht begreifen kann, warum ich nicht längst darauf gekommen bin: Es darf einfach niemand von der Existenz der Dinge wissen.

Zu dieser Erkenntnis verhalf mir folgendes Szenario: Rührfische haben bei uns eine verhältnismäßig kurze Halbwertzeit. Sie verschwinden in Abflüssen, richten sich häuslich in Stehlösungen ein oder verkrümeln sich im unergründlichen Schubladendickicht.

Daher war ich wenig überrascht, als eine Bachelor-Studentin aus dem Nachbarlabor bei uns vorbeischaute, um sich zwei kleine Rührfische zu borgen.

„Unsere sind alle verschwunden“, stellte sie mit traurigem Gesicht fest.

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„Die hat bestimmt jemand ausgesetzt. Fische gehören in den Ozean“, witzelte einer unserer Bachelor-Studenten von außerhalb der Szene.

„Halt einfach mal die Angel in den Ausguss. Vielleicht beißt was an“, riet ein Doktorand.

Die Bachelor-Studentin nickte und wendete sich zum Gehen.

„Petri Heil! Aber vergiss nicht, den Beifang wieder reinzuwerfen“, rief der witzige Bachelor-Student ihr hinterher. Sowie die Tür zum Nachbarlabor zugefallen war – es sollten schließlich nicht gleich alle das große Geheimnis mitbekommen –, fragte ich meine Backbord-Kollegin:

„Haben die nebenan keinen neuen Satz Rührfische bekommen?“

Sie sah mich an, als hätte ich einen soeben geangelten, kapitalen Großbarsch wieder zurück ins Wasser geworfen.

„Was für ein neuer Satz Rührfische?“

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„Vor drei Monaten haben wir für jedes Labor einen neuen Satz Rührfische angeschafft.“

„Ach ja?“

„Ja!“

Da sie offenkundig nach wie vor am Wahrheitsgehalt meiner Worte zweifelte, öffnete ich zum Beweis die Schublade, in der wir unsere Rührfische aufbewahren. Andere Kollegen, die unserem Gespräch zugehört haben, umstellten uns.

Sofort zog ich langsamer. Soviel Aufmerksamkeit bekommt man ja selten dafür, dass man eine Schublade öffnet. Da wollte ich keine Lucky-Luke-Nummer abziehen, sondern ein bisschen Spannung aufbauen – eine gute Show abliefern. Ganz allmählich öffnete sich die Schublade.

Darin lag, unmittelbar neben der Schale, in der sich die verbliebenen gebrauchten Rührfische tummelten, eine flache Schachtel. Unangetastet, nagelneu. “PTFE Stirrers“ stand auf dem schneeweißen Deckel.

Ich nahm sie heraus, hielt sie der vor Erwartung zappelnden Menge entgegen, klappte sie auf. In Zeitlupe.

„Hier! Nagelneue Rührfische. Sozusagen fangfrisch!“

Es folgten einige "Ohs" und "Ahs" aus dem Publikum. So muss sich ein Künstler fühlen, der ein bislang unbekanntes Kunstwerk feierlich der Öffentlichkeit enthüllt.

Nachdem sich die Menge zerstreut hatte, sprach meine Backbord-Kollegin aus, was ich dachte: „Diese Rührfische sind bald weg!“ Damit sollte sie leider Recht behalten.

Kaum entdeckt, schon ausgerottet. Dieses Schicksal hat ja schon viele Spezies ereilt. Solange sie unentdeckt in ihrem Habitat, vor sich hin leben, ist alles gut. Doch wehe, ein Mensch macht die Schublade auf.

Da wir keinerlei Fangquote festgelegt hatten, setzte der Rührfisch-Exodus tatsächlich noch in derselben Woche ein.

Einen Monat später brauchte ich selbst drei große Rührfische. Voller Hoffnung öffnete ich die inzwischen nicht mehr ganz so schneeweiße Schachtel. Das Fach mit den großen Rührfischen war komplett leergefischt. Nicht mal im Abfluss fand sich ein einziges Fischlein.

"Selbst Schuld", dachte ich seufzend –, und machte mich auf den Weg ins Nachbarlabor, um mir welche zu borgen.

Maike Ruprecht

Letzte Änderungen: 22.02.2018