Märchenstunde (1): Der Hirsch

(10.10.17) Eigentlich wollen Wissenschaftler eher weniger Märchen aufgetischt bekommen. Wir versuchen's trotzdem: Hier kommt "Der Hirsch"! Wer Analogien und Ähnlichkeiten zum Wissenschaftsbetrieb findet, darf sie behalten...
Editorial
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Vor langer, langer Zeit gab es irgendwo am Rande eines finsteren Waldes eine wunderschöne Wiese. Die Leute, die auf dieser Wiese lebten, widmeten sich damals vollständig der Erforschung ihrer Umgebung. Ausgerüstet mit einer Vielzahl von Geräten und Instrumenten bestimmten die einen sorgfältig die Länge der Grashalme; andere maßen die Gewichte der Steine, die sie in der Wiese fanden; und die Klügsten und Erfahrensten unter ihnen bestimmten gar Wachstumsraten oder Intensität der Blütenfarben verschiedener Wiesenkräuter in Abhängigkeit von der Niederschlagsmenge. Oft trafen sie sich dann am Abend um ihre neuesten Daten und Statistiken ausgiebig miteinander zu diskutieren.

In den dunklen Wald allerdings gingen sie nie.

Eines Tages jedoch kam ein forscher Junge daher, der so gar kein Interesse an Grashalmen, Steinen und Wiesenkräutern hatte, und berichtete, dass er im Wald etwas Großes sich bewegen gesehen habe. Und am Ende fragte er die versammelten Kollegen, ob er mit einigem Proviant und Geräten ausziehen dürfe, um der Sache auf den Grund zu gehen.

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Ein besonders geschätzter Wiesen-Forscher wandte daraufhin jedoch ein, ob er denn eine Hypothese habe, was dort im Wald sei – und, wenn ja, wie er sie testen wolle. Unser junger Mann hatte natürlich keine, und so verweigerten die hochgestellten Kollegen ihm am Ende die Unterstützung.

Also zog er allein in den Wald – und stand bald vor einem riesigen Hirsch, der ihn mit neugierig Blick fixierte. Aufgeregt zog unser Jungforscher an dem Tier, um es mit auf die Wiese zu nehmen – aber es bewegte sich keinen Zentimeter...

Frustriert machte er sich schließlich auf den Rückweg. Als er jedoch die Wiese schon fast erreicht hatte, sah er plötzlich eine abgeworfene Geweihstange auf dem Boden liegen. Glücklich nahm er sie auf und präsentierte seine Evidenz den Kollegen. Doch die lachten ihn nur aus.

Wütend ging er zurück in den Wald. Wieder fand er den Hirsch, doch jetzt warf er Steine nach ihm und trieb ihn so vor sich her. Am Ende brach der Hirsch tatsächlich aus dem Wald hervor und trabte über die Wiese. Alle Kollegen sahen das Tier, und jetzt begriffen sie, dass ihr junger Freund recht hatte...

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann vermessen sie auch heute noch freudig die Hufabdrücke des Hirsches auf ihrer Wiese…

Ralf Neumann

Letzte Änderungen: 03.11.2017