Editorial

Markram reloaded

(2.4.2015) Das Human Brain Project soll sich bescheidenere, realistische Ziele setzen, fordert eine Schlichtungskommission unter Vorsitz des Jülichers Wolfgang Marquardt. Was bleibt von Henry Markrams Vision vom "Hirn in der Kiste"?
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Das vielfach kritisierte Human Brain Project (HBP), initiiert von Henry Markram (École polytechnique fédérale de Lausanne, EPFL), hat es vorerst geschafft, doch nicht aufgelöst zu werden. Letztes Jahr berichtete Laborjournal über die heftige Kritik am wissenschaftlichen Sinn und der Führungsstruktur des HBP, das von der EU zehn Jahre lang mit einer Milliarde Euro gefördert werden soll.

Markrams umstrittene Idee: Mal eben das menschliche Gehirn im Computer simulieren, in einem Bottom-Up-Verfahren (Brain-in-the-Box). HBP ist als konkurrierendes Gegenstück zur ebenfalls äußerst ambitionierten US-amerikanischen BRAIN-Initiative entstanden. Die Amerikaner haben sich aber das viel realistischere Ziel gesetzt, moderne Methoden zu entwickeln und einzusetzen, um das menschliche Gehirn und dessen Erkrankungen besser verstehen und analysieren zu können. Daher bewertet die Fachwelt BRAIN recht wohlwollend – ganz anders als HBP. Die Kritik von knapp 800 Fachleuten am HBP-Vorhaben ist nun erhört worden, wie das Journal Science berichtet (hier und hier).

Editorial

Das Projekt soll zwar weiter bestehen. Allerdings müsse es inhaltlich und strukturell reformiert und die Machtkonzentration bei Markram und EPFL beendet werden. Eine 30-köpfige Schlichtungskommission unter Vorsitz des Ingenieurs und Leiters des Forschungszentrums Jülich, Wolfgang Marquardt, gab den Kritikern in ihrem Bericht weitgehend recht. Markram selbst war explizit kein Mitglied dieser Kommission, dafür aber, neben HBP-Repräsentanten, auch einige seiner Opponenten. Das Ergebnis der Schlichtung, knapp zusammengefasst: Markram soll entthront werden und Science Fiction durch bescheidenere Science ersetzt werden.

Die Kritik

Wie im Magazin The Chronicle of Higher Education zu lesen war, hätten die von der Zeitschrift befragten Neurowissenschaftler für HBP (in Markrams bisheriger Version) überwiegend Spott übrig. Die Wortwahl einiger Fachkollegen soll von „absurd“ und „lächerlich“ über „irre“ und „blöd“ schnell ins vulgäre abgeglitten sein. Allseits wurde geurteilt, HBP sei Geldverschwendung und wissenschaftlich unrealistisch. Selbst wenn man das gesamte Gehirn mit seinen 100 Milliarden Neuronen am Computer schematisch darstellen könnte (rein theoretisch!), würde man dessen Funktionsweise immer noch nicht nachvollziehen, geschweige denn simulieren können.

Laut Kollegenurteil sei man weit davon entfernt, eine einzige kortikale Säule der Großhirnrinde in ihrer Funktion simulieren zu können – obwohl Markram mit seinem vorigen Blue Brain Project am EPFL doch genau dies gelungen sein soll. Im Rahmen des HBP will Markram mit Hilfe eines Großrechners und „einer Handvoll mathematischer Gleichungen“ seine Säulensimulation hochrechnen, und voila: fertig wäre das Brain-in-the-Box.

Simulation oder Kartierung?

Der Neurowissenschaftler Alexandre Pouget von der Universität Genf klärte gegenüber Laborjournal das Missverständnis auf: Eine Simulation müsste das Verhalten eines Systems genau wiedergeben. Dagegen wäre eine Kartierung der kortikalen Säule, die höchstens eine allgemeine Erregung anzeigen könne, in diesem Sinne keine richtige Simulation und außerdem bereits in anderen Laboren gezeigt worden. Daher, so Pouget weiter, gäbe es bis jetzt auch keine einzige Publikation aus dem Blue Brain Project, die eine echte Simulation einer Neokortex-Säule überzeugend zeigen würde. Markrams Ankündigung eines kleineren Gegenstücks zu HBP, ein simuliertes Mausgehirn in einem simulierten Mauskörper, schätzt Pouget als wissenschaftlich genauso unrealistisch ein wie das Hauptvorhaben.

Inzwischen sprach Markram in einem Zeitungsinterview auch nur noch vom vergleichsweise bescheidenen „Kartographieren“ des menschlichen Gehirns. Waren seine Versprechen für das Eine-Milliarde-Euro-Projekt, von Simulation der Hirnfunktion und Krankheitsheilung, also nur ein semantisches Missverständnis?

Das HBP wird in den Medien gerne als Markrams „Brain-Child“ beschrieben. Und Markram ist ein strenger Vater. Trotz der 113 Partnerinstitute in 20 Ländern ist die Zentrale des HBP die EPFL, regiert wird es neben dem Vorsitzenden Markram von lediglich zwei weiteren Mitgliedern der Exekutiv-Kommission: dem Arzt Richard Frackowiak, ebenfalls in Lausanne, und dem Physiker Karlheinz Meier aus Heidelberg. Mit Laborjournal wollte Meier aber nicht über die Kommissionsempfehlungen sprechen.

Unverbindliche Empfehlungen?

Pouget zeigte sich gegenüber Laborjournal „sehr glücklich“ über den „exzellenten“ Schlichterspruch der Kommission, kritisierte aber, dass dieser in Recommendations, sprich „Empfehlungen“, und Observations, also „Beobachtungen“, aufgeteilt wurde. Tatsächlich erläuterte der Kommissionsvorsitzende Marquardt: „Recommendations sind umzusetzende Empfehlungen, um den Mediationsprozess erfolgreich zu Ende zu bringen. Observations dienen der Unterstützung bei der Entscheidungsfindung zur Umsetzung der Recommendations“. Laut Pouget drohe damit das Gros der Kritik am wissenschaftlichen Sinn von HBP in den weitgehend unverbindlichen „Beobachtungen“ unterzugehen.

Den „Empfehlungen“ zufolge soll HBP zunächst einmal dezentral und unabhängig gemanagt werden, nach dem Vorbild des CERN oder des Heidelberger EMBL. So soll die EPFL nun als lediglich eines von mehreren Instituten an der HBP-Steuerung beteiligt werden. Weiterhin sollen Markram und seine Gefolgschaft nicht mehr exklusiven Zugriff auf die HBP-Daten haben. Es bestünde ansonsten Gefahr, dass diese womöglich für die weltweite Forschungsgemeinschaft verloren gehen könnten.

Die Kommission deckte außerdem haarsträubende Interessenkonflikte auf, die unbedingt aufgelöst werden müssen. Gemäß den Empfehlungen sollen HBP-Wissenschaftler nicht mehr ihre eigene Forschung bewerten und über Fördergelder-Verteilung an sich selbst mit-entscheiden dürfen. Außerdem sollen auch endlich externe und unparteiische Experten als Gutachter hinzugezogen werden. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, vor allem bei einem derart großen Förderprojekt, wie auch der oberste Schlichter Marquardt kommentierte. Komisch, dass Markram und EPFL früher offenbar so wenig von diesen elementaren Prinzipien der „Good Governance“ hielten. Denn Markram war bis jetzt laut Kommissionsurteil an „allen entscheidungsfindenden, ausführenden und verwaltenden Organen des HBP beteiligt, außerdem leitete er diese als Vorstand“.

Eine Milliarde: Doch etwas zu viel Geld?

Weiterhin steht im Kommissionsbericht, Markram war „Mitglied sämtlicher Beiräte, denen gegenüber er gleichzeitig Bericht erstattet“. Eine Farce, sowohl aus wissenschaftlicher Sicht,  als auch was den sorgsamen Umgang mit Steuergeldern betrifft.

Letztendlich fand die Kommission, dass eine Milliarde Euro unter diesen Umständen doch etwas zu viel Geld ist. Sie legt nahe, sämtliche HBP-Forschung aus dem EU-Fördertopf für das finanziell sichergestellte Kernprojekt zu betreiben – das auf 440 Millionen Euro beschränkt ist.

Was die Forschung selbst angeht, so soll der von Markram letztes Jahr aus der HBP-Finanzierung hinausbeförderte Teilbereich der Kognitiven und System-Neurowissenschaften (genannt „Cognitive Architectures“) nicht nur wiederaufgenommen werden, sondern sogar 10 % der Fördergelder zugeteilt bekommen. Damit würden die wissenschaftlichen „Empfehlungen“ Pouget zufolge das HBP aber lediglich auf den Stand von Mai 2014 zurückführen. Denn nur in den wenig verbindlichen „Beobachtungen“ brachte die Kommission heftigste Kritik an Markrams Versprechungen zum Ausdruck.

Tatsächlich empfand die Kommission das zentrale Vorhaben der Hirnsimulation im „Bottom-Up“-Verfahren als wissenschaftlich nicht haltbar. HBP soll sich nun an der amerikanischen BRAIN-Initiative ein Vorbild nehmen und realistische, kurzfristige Ziele setzen. Es soll, ganz bodenständig, um Entwicklung und Validierung von neurowissenschaftlichen IT-Plattformen gehen. Ob Markram und HBP sich diese „Beobachtungen“ tatsächlich zu Herzen nehmen, ist aber nicht unbedingt sicher. Der HBP-Vorstand hat zwar die „Empfehlungen“ einstimmig angenommen und soll angeblich schon an deren Umsetzung arbeiten. Über die „Beobachtungen“ sagte man aber nichts. Außerdem ist unklar, was bei Nichtbefolgen des Schlichterspruchs passieren würde. Die EU-Kommission hat sich, soweit bekannt, nicht dazu geäußert, ob in diesem Fall die HBP-Förderung eingestellt oder gekürzt wird.

EPFL-Präsident Patrick Aebischer, in einem Interview mit Lab Times als der Pate von HBP bezeichnet, erklärte damals: „Die Lebenswissenschaften fingen erst mit HBP an, groß zu werden“. Die Zukunft liege laut Aebischer in solchen Ziel-orientierten Großprojekten. Nun sagte Marquardt, HBP solle aufhören, unrealistische Versprechen über Krankheitsheilung oder gar über Vorhersagen des Hirnverhaltens abzuliefern. Die HBP-Kommunikation müsse laut Schlichtungskommission „ehrlich und bescheidener“ sein. Damit ist der große EU-Traum vom Hirn in der Kiste futsch. Das einzig Große am HBP war bis jetzt die investierte Geldsumme, und das Ego von Markram.

 

Leonid Schneider

Illustration: © rolffimages / Fotolia




Letzte Änderungen: 01.06.2015