Editorial

Verräterische Mutationen

(3. September 2014) Eineiige Zwillinge und ihre quasi identische DNA bringen Forensik und Vaterschaftstests aus der Spur. Ein paar verräterische DNA-Unterschiede gibt es aber schon. Um sie zu finden, muss man die Hochdurchsatz-Sequenzierer anwerfen.
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Der kauzige Kommissar hat den Täter in seinem kniffligen Mordfall schon so gut wie dingfest gemacht. Ein genetischer Fingerabdruck führt zu einer zwielichtigen Gestalt, die der Fahnder von Anfang an im Visier hatte.

Aber dann der Schock: Der vermeintliche Mörder hat zur Tatzeit ein wasserfestes Alibi – er war bei der Geburtstagsfeier des Polizeipräsidenten. Sollte der Dienstherr unseres fiktiven Ermittlers etwa gelogen haben und den Verdächtigen decken? Die überraschende Wende: Quasi aus dem Nichts taucht ein lange verschollener Zwillingsbruder auf, der – da eineiigen Ursprungs – den gleichen genetischen Fingerabdruck hat und der wahre Täter ist.

Zwillings-Sex überlistet Vaterschaftstest

Wenn sich in der frühen Schwangerschaft die Morula teilt und zwei genetisch quasi identische Knaben heranwachsen, kann das nicht nur fiktive Kriminalhauptkommissare, sondern auch Vaterschaftstests in die Bredouille bringen. Zwei Zwillingsbrüder haben kurz nacheinander Sex mit derselben Frau. Einer der beiden zeugt dabei ein Kind – wer war's? Auch in dieser Situation ist der genetische Fingerabdruck nutzlos.

Die Marker, die in der DNA-Analyse routinemäßig zum Einsatz kommen (meist Short Tandem Repeats), sind innerhalb einer Population hoch variabel. Wegen der fast unendlich vielen Kombinationsmöglichkeiten der Allele der untersuchten Genorte ist eigentlich jeder Mensch eindeutig identifizierbar – mit Ausnahme eben der eineiigen Zwillinge.

Das ist nicht nur dankbarer Stoff für Krimi-Autoren. 2009 ermittelte die Staatsanwaltschaft Berlin  wegen eines Einbruchs in das „Kaufhaus des Westens“. Es sah nicht gut aus für die Hauptverdächtigen. Die am Tatort gefundenen DNA-Spuren waren identisch mit ihrem genetischen Fingerabdruck. Das Problem: Die Verdächtigen sind Zwillingsbrüder. Wer von beiden nun wirklich seine DNA im KaDeWe hinterlassen hatte, konnten die Ermittler mangels anderer Indizien nicht aufklären – das Verfahren wurde eingestellt.

Exklusive Mutationen

Einen theoretischen Ausweg aus den Zwillings-Dilemma kennen Humangenetiker natürlich schon. Denn in jeder Zelle, in jedem Stadium der Entwicklung, können spontane Mutationen auftreten. Ist eine Stammzelllinie betroffen, so tragen alle aus dieser Linie entstehenden Gewebe und Organe die Neumutation. Diese somatischen Mutationen könnten Zwillingsgeschwister also zweifelsfrei identifizieren, sofern sie nach der Teilung der Morula auftreten (oder die betroffene Vorläuferzelle zumindest nur zur Zellpopulation eines der Zwillingsembryonen beiträgt).

Wie gesagt, theoretisch. In der Praxis muss man diese Mutationen erst einmal finden. Erstens ist die spontane Mutationsrate extrem niedrig und man weiß nicht, wo man im Genom nach den „neuen“  SNPs (Single Nucleotide Polymorphisms) suchen soll.

Zweitens sind diese somatischen Mutationen eben nicht in jeder Zelle des Körpers anzutreffen, sondern nur in bestimmten Zelllinien. Ein SNP, der nur in der DNA der Epidermis des linken großen Zehs eines der Zwillinge vorkommt, ist in der Praxis eher wertlos. Praktisch nützlich könnten eher solche Punktmutationen sein, die in möglichst frühen Embryonalstadien auftreten und die Vorläufer ganzer Zell- und Gewebetypen betreffen. Idealerweise solche Zelltypen, die Forensiker üblicherweise einsammeln, also Zellen der Mundschleimhaut, (weiße) Blutzellen und Spermien.

Für das Vaterschaftsproblem sind rein somatische Mutationen allerdings von vornherein nutzlos.  Die Trennung der potentiell „unsterblichen“ Keimbahn (also zukünftige Spermien oder Eizellen) vom todgeweihten Soma (alle anderen Körperzellen) erfolgt früh in der Embryonalentwicklung. Die Vorläufer der späteren Eizellen oder Spermien wandern in die embryonalen Gonaden ein und beteiligen sich nicht an der Bildung der anderen Organe. Trotzdem gehen Keimbahn und Soma natürlich auf eine gemeinsame Zelllinie zurück – schließlich stammen sie von derselben befruchteten Eizelle ab.

Es geht auch ohne Sperma

Die Keimzellen gehen aus dem embryonalen Ektoderm hervor, das später auch die Mundschleimhaut hervorbringt. Theoretisch sind also Punktmutationen denkbar, die ein Zwillingspaar eindeutig abgrenzen, und dazu noch in Keimbahn und Zellen der Mundschleimhaut nachweisbar sind. Für Forensiker öffnet sich deshalb eine Perspektive: Denn routinemässig sammelt man von Verdächtigen (eines Verbrechens oder einer Kindszeugung) Zellen aus dem Mund, während die Aufforderung zur Abgabe einer Spermaprobe in der Praxis vielleicht auf Schwierigkeiten stösst.

Bis vor kurzem fehlte jedoch der praktische Nachweis, dass es diese individuellen SNPs in Keimbahn und Soma eineiiger Zwillingsgeschwister überhaupt gibt und dass man sie mit heutiger Sequenziertechnik und bioinformatischen Methoden finden kann.

Bruce Budowle, Editor-in-Chief der Zeitschrift „Investigative Genetics“, bespricht in seinem aktuellen Editorial eine Ende letzten Jahres erschienene Studie von Jaqueline Weber-Lehmann et al., die sich eben diese Frage vorgeknöpft hatten. Die Autoren, Mitarbeiter der Ebersberger Firma Eurofins Genomics, analysierten DNA-Proben aus dem Mund, dem Blut und dem Sperma eineiiger Zwillingsbrüder und verglichen sie mit der DNA des Sohnes eines dieser Brüder.

Fünf verräterische SNPs

Insgesamt 600 Gigabasen umfasst der Datensatz, gewonnnen mit Next Generation Sequencing – Technologie aus dem Hause Illumina. Ein Humangenom hat zwar „nur“ ca. 3 Milliarden Basenpaare, aber wenn man nach der „Nadel im Heuhaufen“ sucht (so auch der Titel der Publikation), muss die Abdeckung entsprechend hoch sein, um möglichst viele der lästigen Sequenzierfehler zu eliminieren. Nach Überprüfung der in diesem Datenberg herausgefischten SNP-Kandidaten durch die langsame, aber akkurate Sanger-Methode identifizierten die Ebersberger ganze fünf Punktmutationen, die Vater und Sohn teilen, aber nicht der Onkel.

Vier der fünf exklusiven SNPs im Genom von Vater und Sohn fanden sich sowohl in Spermien als auch in der Mundschleimhaut des Vaters – was darauf hindeutet, dass diese Mutationen tatsächlich innerhalb eines kritischen Zeitfensters der Zwillingsschwangerschaft aufgetreten sein mussten: Vor der Trennung von Keimbahn und Soma, aber doch so spät in der Entwicklung der Embryos, dass die betroffene Stammzell-Linie nur zur Zellpopulation eines der beiden Zwillingsbrüder beitragen konnte.

Ob diese Methode demnächst in die Praxis einzieht, ist allerdings eine andere Frage. Ein Gericht müsste die Analyse erst einmal als Beweismittel zulassen. Verglichen mit einem Routine-DNA-Test ist die Prozedur zudem extrem aufwändig und kompliziert. Und so häufig sind Mordfälle oder Vaterschaftsstreitigkeiten mit Beteiligung eineiiger Zwillinge dann auch wieder nicht.

 


Hans Zauner

 

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Letzte Änderungen: 28.10.2014