Editorial

Hektische Betriebsamkeit

(19. Juli 2014) Wir haben Grund zu feiern: Seit 20 Jahren gibt es das Laborjournal nun. Zum Geburtstag haben uns 18 Persönlichkeiten Beiträge zu Themen geschickt, die ihnen am Herzen liegen.
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Lesenswert sind die Artikel der Jubiläumsausgabe natürlich alle. Aber der Essay des Evolutionsgenetikers Diethard Tautz (MPI Plön) legt meiner Meinung nach besonders wirkungsvoll die Finger in diverse Wunden, die sich in den vergangenen 20 Jahren in den Lebenswissenschaften aufgetan haben.

Tautz beklagt zum einen die (Über-)Spezialisierung und die Publikationsflut, unter der die Forscher heute leiden. Ist es nicht seltsam, dass man viele aktuelle Forschungsarbeiten knapp ausserhalb des eigenen Fachgebiets kaum kennt und versteht? Am Interesse fehlt es sicher nicht. Es bleibt einfach keine Zeit, sich in Ruhe einzulesen. Publikationen und Anträge wollen geschrieben werden, alles andere zählt kaum. Dabei den Überblick zu behalten ist eine echte Herausforderung geworden.

Zur Unmöglichkeit, alles zu wissen und alles zu lesen, fällt mir folgende Geschichte ein: Douglas Kell (Universität Manchester) beschloss eines Tages, sich einen rigorosen Überblick über „die Rolle von Eisen-Chelaten bei Gefäßkrankheiten und anderen entzündlichen Erkrankungen“ zu verschaffen. Er wollte alles - wirklich alles - zusammentragen, was man zu diesem doch recht speziellen Thema weiß.

Gewichtheben mit Zitaten

Die Übung in tiefgängiger Literatur-Recherche nahm ungeahnte Ausmaße an. Das Manuskript einer Übersichtsarbeit, das Kell im Jahr 2009 bei BMC Medical Genomics einreichte, führte 2184 Literaturquellen auf (die Kell nach eigenen Angaben auch tatsächlich alle gelesen hatte). Der Peer Review brachte dann noch eine Überraschung: Einer der Gutachter entdeckte Lücken, so dass am Ende fast 2500 Referenzen den Artikel bereichern – eine rekordverdächtige Leistung in der nicht-olympischen Disziplin „Gewichtheben mit Zitaten“. Insgesamt aber wohl ein ebenso beeindruckender wie einmaliger Stunt, der nicht zur Nachahmung empfohlen ist.

Sicher, man kann der Publikationsflut auch positive Seiten abgewinnen. Die Digitalisierung beschleunigt die Kommunikation und es gibt immerhin Werkzeuge, die den Paper-Berg besser handhabbar machen. Text- und Datamining ist das Stichwort.

Aber die grundsätzliche Frage bleibt doch: Wo führt dieses hektische Betriebsamkeit hin? Und wie wird in 20 Jahren Wissenschaft betrieben werden? Welche Strukturen bilden sich heraus, um mit der Datenflut zurecht zu kommen?

Small Science is Good Science

Hier spielt ein zweiter Trend hinein, den Tautz ebenfalls anspricht, nämlich die zunehmende Industrialisierung des Forschungsbetriebs. Big Data geht Hand in Hand mit Big Science, also mit großen, zentralistisch organisierten Konsortien, in denen oft Hunderte Forscher nach festgelegtem Master-Plan eine gemeinsame Aufgabe angehen.

Auch dazu eine Anekdote: Ich saß vor einiger Zeit mit einem gelernten Physiker zusammen, der am Anfang seiner Karriere als Teilchenforscher gearbeitet hatte. Er wechselte jedoch die Disziplin und wurde Biologe. Warum er sich in der Biologie wohler fühlt als unter Kernphysikern, erklärte er mir so: Selbst eine Fragestellung entwickeln und kreativ werden, selbst entworfene Experimente durchdenken und diese mit einem kleinen Team von Anfang bis Ende durchziehen – in der Big Science-Welt der Teilchenphysik mit ihrem Zwei-Milliarden-Euro Spielzeug, dem Large Hadron Collider, geht das nicht. In der Biologie ist eine eher individualistische Arbeitsweise dagegen die Regel – noch.

Werden bald auch weite Teile der Biowissenschaften so straff organisiert sein wie das europäische Kernforschungszentrum CERN, mit einem Leitungsstab aus politisch versierten Forschern, die mehr oder weniger von oben herab die Weichen für das Forschungspersonal stellen?

Es gibt wohl manche, die sich das wünschen. Gerade auch die Politik setzt Hoffnungen auf prestigeträchtige Großprojekte. Manchmal hat es gar den Anschein, dass alleine schon die immensen Kosten eines neuen Mammut-Unterfangens als Gütesiegel herhalten müssen – nach dem Motto, dass es bahnbrechende Ergebnisse geben muss, wenn das Projekt schon so teuer ist.

Aber es gibt auch Kritik an diesem Trend. In biology, small science is good science behauptete Bruce Alberts schon 1985. Wissenschaftlichen Fortschritt dadurch erzwingen zu wollen, dass man einen Haufen Geld in Richtung eines wohlklingenden Großprojekts wirft – dieser Ansatz hat bei Insidern aus den jeweiligen Fachgebieten oft eine zweifelhafte Reputation, um es vorsichtig zu sagen (siehe die Kontroversen um ENCODE, ein Projekt zur Kartierung funktioneller DNA-Elemente, und, ganz aktuell, der Boykottaufruf im Zusammenhang mit dem Human Brain Project).

Da hält man lieber den Mund

Sind wir irgendwann so weit, dass nicht mehr die Kreativität vieler individueller Forscherpersönlichkeiten über den Fortgang der Lebenswissenschaften entscheidet, sondern in erster Linie Hybris und Machthunger einiger weniger, politisch ausgefuchster Wissenschaftler an Schlüsselpositionen?

Vielleicht hängt diese seltsame Entwicklung auch mit einem Umstand zusammen, den der langjährige Laborjournal-Autor Axel Brennicke („Ansichten eines Profs“) in seinem Beitrag zur  Jubiläumsausgabe beklagt: Kaum ein Forscher wagt es, sich öffentlich zu Fehlentwicklungen in seinem Umfeld zu äußern. Doktoranden haben Angst um ihren Abschluss. Postdocs brauchen positive Beurteilungen, um eine Stelle zu ergattern. Da hält man lieber den Mund und konzentriert sich auf das Publizieren möglichst vieler Papers in Journals mit möglichst hohem Impact Factor. Gegen besseres Wissen, denn dass die üblichen Messlatten der Forscherleistung nichts taugen, und noch dazu zu Fehlentwicklungen wie epidemischer Nicht-Reproduzierbarkeit beitragen, ist mittlerweile quasi Allgemeinwissen.

Aber die Glücklichen, die es bis zu einer Festanstellung in akademischer Professoren-Freiheit schaffen, die könnten doch (konstruktiv) lästern und stänkern? Nein, denn plötzlich tragen sie  Verantwortung für das Eintreiben von Fördergeldern, und sie müssen das Schicksal ihrer Doktoranden und Postdocs im Auge haben, deren Karrieren man nicht durch Aufmüpfigkeit behindern will.

Wo das alles hinführt? Wir werden sehen. Die nächsten 20 Jahre werden jedenfalls spannend.

 

Hans Zauner


Abb.: iStockPhoto



Letzte Änderungen: 01.09.2014