Editorial

Nature beklagt sich über zuviel Demokratie

Das Wissenschaftsjournal Nature hat eine neue Gefahr für die Forschung entdeckt – nämlich die Demokratie. Das Glamour-Magazin sollte sich erst mal an die eigene Nase fassen, kommentiert Leonid Schneider.
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(4. Mai 2014) Demokratische Umtriebe gefährden die öffentliche Förderung der europäischen Forschung an embryonalen Stammzellen, mahnt ein kürzlich erschienenes Editorial der Zeitschrift Nature.

Der Hintergrund: das Europäische Parlament hat sich verpflichtet, allen Bürgerinitiativen eine formelle öffentliche Anhörung zu verschaffen, vorausgesetzt, diese erreichen europaweit mindestens eine Million Unterschriften. Die Bürgerbewegung „Einer von uns“ hat diese Voraussetzung erfüllt; die Unterzeichnenden fordern außer dem Stopp der EU-Förderung der embryonenverbrauchenden Forschung auch ein Verbot der Abtreibungen. Der religiös-ideologische Hintergrund der Initiative ist offensichtlich, und man darf erwarten,  dass das relativ aufgeklärte EU-Parlament diesen Forderungen nicht folgen wird.

Anti-demokratische Anhörungen?

Tatsächlich wurden ähnliche Initiativen bereits erfolgreich vom EU-Parlament abgeblockt, wie Nature auch berichtet. Dennoch finden die Autoren des Editorials es „anti-demokratisch“, wenn eine Minderheit ihre Anliegen zur Parlamentsanhörung bringen kann; es hätten ja nur 0,4% der EU-Bevölkerung unterschrieben. Interessanter Punkt, aber wenn diese Logik greift, was wäre dann mit anderen Petitionen? Was wäre zum Beispiel mit Minderheiten-Initiativen von Patientenverbänden, die Nature als Gegengewicht für Kampagnen wie „Einer von uns“ fordert?

Vielleicht sollte dann einfach ein Fachorgan darüber entscheiden, welche Bürgerinitiativen eine Parlamentsanhörung bekommen dürfen und welche nicht?

Nicht ganz ernst gemeinter Vorschlag meinerseits: Natures Zentralredaktion in London wäre sicherlich eminent genug, solche Empfehlungen für das EU-Parlament zu machen. Vielleicht sollte Nature die Verteilung der EU-Fördergelder gleich selbst übernehmen, denn laut eigener Aussage publizieren dort ja sowieso die allerbesten Wissenschaftler die allerbeste Forschung.

Nature schließt den Beitrag mit der bescheidenen Empfehlung ab, dass „Wissenschaftler und deren Unterstützer ein Gegengewicht aufbauen sollen, indem sie ihre Arbeit als notwendig für das Wohlergehen der gesamten menschlichen Gesellschaft darstellen, ungeachtet des Wahlverhaltens“.

Aussitzen und ignorieren

Das ist tatsächlich sehr schön formuliert, aber womöglich steht gerade dieser Ansatz vor einem schwerwiegenden Problem, an dem Nature nicht unschuldig ist. Die Seite Retraction Watch vermeldet immer öfter, dass Publikationen in namhaften Journals zurückgezogen oder zumindest als zweifelhaft enttarnt werden. Das Feld der Stammzellforschung ist da besonders problematisch. Zufälligerweise führt Nature gerade wieder eine Aussitz-und Ignorier-Aktion durch, diesmal gegen das Zurückziehen der beiden skandalträchtigen Publikationen über STAP-Zellen.

Diesen Studien wurde inzwischen schweres wissenschaftliches Fehlverhalten, dazu Unzuverlässigkeit und Nicht-Reproduzierbarkeit der Daten nachgewiesen. Und das ist nur ein besonders krasses Beispiel unter einigen anderen, die das Vertrauen der Bevölkerung in die Versprechen der Stammzellforschung nicht gerade stärken. Von der Krebsforschung, wo vieles mindestens genauso schief läuft, ganz zu schweigen.

Es ist eine elitäre und demokratiefeindliche Anmaßung, den Menschen ihr Recht auf das Anhören ihrer Bürgerinitiativen abzusprechen, selbst dann, wenn diese sich gegen Stammzellforschung und Kernphysik oder beispielsweise  für Homöopathie und Kreationismus aussprechen. Anders als in der referendumsfreudigen Schweiz (die sich neulich deswegen selber von der weltweiten Forschung weitgehend isoliert hat  - siehe hier), haben die europäischen Politiker unserer repräsentativen Demokratie die Freiheit der Wissenschaft immer als ein besonders hohes Gut vor populistischen Aktionen verteidigt. Problematisch wird es erst, wenn die Förderer, Gerichte und Gesetzgeber auf die Argumente der Wissenschaftler nicht mehr hören.

An die eigene Nase fassen

Die Wissenschaftler sollten sich also erst mal an die eigene Nase fassen und überlegen, wie lange die öffentliche Hand die Forschung an embryonalen Stammzellen und anderen kontroversen Themen noch unterstützen würde, angesichts weiterer Retractions und Skandale. Es könnte ja auch irgendwann zu auffällig werden, dass zu viele Wissenschaftler die öffentlichen Forschungsgelder für leere Ankündigungen und nicht reproduzierbare und unzuverlässige Daten verschwenden, nur um sich mit prestigeträchtigen Publikationen den Karriereaufstieg zu sichern.

Das Argument der akademischen Forscher gegenüber dem Gesetzgeber ist, laut Nature, „das Wohlergehen der gesamten menschlichen Gesellschaft“. Um diese unbefangene, idealistische Glaubwürdigkeit steht es jedoch nicht mehr so gut.

 

Leonid Schneider

 

Abb.: iStock



Letzte Änderungen: 30.09.2015