Editorial

Gehtnichts Bratwürste

Alte Bratwürste müssen es sein. Unbedingt. Sagt der alte Gehtnicht aus unserem Sportverein.

(10.08.2004) In unserem Sportverein von 1927 gibt es einen alten Mann namens Gehtnicht. Wenn Gehtnicht seine krächzige Stimme erhebt, erstarrt die fröhliche Runde in betretenem Schweigen. Gehtnicht meldet sich immer dann zu Wort, wenn jemand eine neue Idee hat oder sonst irgendetwas anders machen will, als es in den letzten 77 Jahren gemacht wurde.

Neulich zum Beispiel. Da schlug der Neue vor - er ist noch unerfahren, dem Verein erst vor sechs Jahren beigetreten - er plädierte also dafür, beim alljährlich veranstalteten Sommerfest nebst fetten Bratwürsten und knorpeligen Koteletts auch mal frisches Obst, Müsliriegel und Eis zu verkaufen.

"Das geht nicht", sagte Gehtnicht mit starrem Blick. "Nein nein nein. Haben wir ja noch nie gemacht. Will bestimmt keiner haben. Und was ist, wenn das Eis schmilzt? Nein, das geht nicht, auf keinen Fall. Zu riskant."

Man könne es doch zumindest mal probieren, nahm der Neue kleinlaut einen zweiten Anlauf. Man müsse doch mal etwas Neues wagen, alte Zöpfe abschneiden. Experimentieren und neue Wege gehen und unser Sommerfest aufpeppen mit frischem Wind.

Frisches Obst? Braucht niemand.

Schweigen. "Obst", sagte Gehtnicht endlich beißend. "Hatten wir noch nie. Verdirbt bloß, wird schlecht. Braucht niemand."

Die Müsliriegel seien bis mindestens 2007 haltbar, murmelte der Neue zerknirscht.

"Und dann?" fragte Gehtnicht triumphierend. "Und was ist danach? Na??" Unwirsch schüttelte er den Kopf. "Bisher hat sich keiner über unsere Würste beschwert. Oder?!"

Geducktes Schweigen. Der Antrag wurde dann einstimmig abgelehnt. Zum Sommerfest kamen wieder wie immer die knapp vierzig Besucher, der Neue wendete unter Gehtnichts Aufsicht fettige Bratwürste und trat anschließend heimlich aus dem Verein aus.

Auch anderswo setzt man auf alte Bratwürste.

Gehtnicht hat eine große Verwandtschaft. Der Großteil von ihr hockt zaudernd in bundesdeutschen Amtsstuben und Großkonzernen, blickt kaninchenängstlich in die Zukunft und lässt deshalb lieber alles so, wie es immer schon war. Hat es schon immer so gemacht - da könnte ja jeder kommen. Auch außerhalb unseres Sportvereins setzt man auf alte, fettige Metzgerkost und scheut panisch vor Frischobst zurück.

Aber dass nun auch noch das Börsenpublikum Gehtnicht spielt, ist zumindest höchst seltsam. Börsianer, die normalweise mit Begriffen wie Phantasie, Innovation oder Zukunftshoffnung unbeschwert Federball spielen, haben Angst vor neuen Ideen? In Deutschland ist das so. Als vor wenigen Wochen, nach drei mageren Jahren, mit Epigenomics endlich mal wieder ein Biotech-Unternehmen den riskanten Gang ans Parkett wagte, verweigerte die Anlegerschaft stur den Kauf der ohnehin bereits zum Dumpingpreis feilgebotenen Aktien: "Zu riskant, zu gefährlich, zu unabwägbar", jammerten die Sparbuchbesitzer erschrocken. Der Preis für einen Epigenomics-Anteil fiel von 14,50 auf elf und dann auf neun Euro. Nach der Emission purzelte der Kurs auf mittlerweile sechs Euro (Stand 10. August).

Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich bekomme für diese aufmunternden Zeilen keinen müden Cent von Herrn Olek, dem Chef dieses völlig missglückten IPO-Kandidaten, ehrlich! Ich weiß nicht mal, ob die mit ihren komischen Genanalyse-Baukästen jemals Geld verdienen und sich damit aus den roten Zahlen hangeln werden. Aber es ist an der Zeit, dass wir uns mal am Riemen reissen, das Jammern beenden, und ab und zu sogar mal voller Risiko auf ein paar junge, unkonventionelle Pferde setzen, die nicht schon zwanzig oder hundert Jahre alt sind.

Gehtnicht schüttelt schon wieder erzürnt sein Haupt und hebt den knotigen Zeigefinger.

Kusch, Gehtnicht - schweig still! Geh zu Deinen Bratwürsten.

Winfried Köppelle



Letzte Änderungen: 11.08.2004