Editorial

Die Dampfgeborenen

Entstehung des Lebens: Ein Team um den Bioenergetiker Armen Mulkidjanian von der Universität Osnabrück hat eine erstaunliche Erklärung für die Entstehung der ersten Zellen auf der Erde

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(11. Juni 2012) Der Mensch muss messen. Und wissen. Vielleicht ist es das, was den Menschen einzigartig macht: Neugierde und die Fähigkeit, sie zu befriedigen. 1903 stellte sich der Kanadier Archibald Macallum die Frage, welche anorganischen Verbindungen eigentlich in Blut und Lymphe des Menschen rumschwimmen. Das Ergebnis war verblüffend: Die Körperflüssigkeiten zeigten in ihrer Ionenzusammensetzung große Ähnlichkeiten mit Meerwasser, was dem alten Postulat, dass alles Leben aus dem Meer entstamme, entsprach.

Am Anfang war der Druck

Der Schluss liegt nahe, bestehen doch die Zellen und damit die daraus aufgebauten Lebewesen zum überwiegenden Anteil aus Wasser, in dem zahlreiche Ionen gelöst sind. Die Evolution hat natürlich kompliziertere Bausteine wie die Nukleinsäuren, Proteine und komplexe Lipide zugefügt, aber dennoch muss die Wiege der ersten Zellen, mit denen alles begann, im Wasser gestanden haben. Das war vor 3,5 bis 4 Milliarden Jahren, und zu dieser Zeit sah es auf Mutter Erde noch anders aus.

Gut eine Milliarde Jahre zuvor, als der Urknall schon gut neun Milliarden Jahre zurück lag, hatte ein Mars-ähnlicher Planet die Bremse verfehlt und knallte mit voller Wucht auf unsere Urerde. Durch den Zusammenstoß entstanden zwei Teile, die – abgekürzt dargestellt – zur heutigen Erde und unserem Mond wurden.

Die Oberfläche der Urerde war nach dem Auseinanderbrechen gute 2.000 °C heiß, kühlte sich aber in den folgenden 20 Millionen Jahren auf 200 °C ab. Der Druck, der auf der Oberfläche lastete, war so groß, dass sich trotz der hohen Temperaturen Wassermoleküle verflüssigten und zu Ozeanen zusammenflossen. Einmal auf der Erde, versickerte das Wasser durch Spalten und Risse im Gestein. Allerdings nicht auf Nimmerwiedersehen, sondern um an anderen Stellen als Hydrothermalquellen wieder an die Oberfläche zu treten. Und hier stieg Archibald Macallum mit seiner Theorie der Entstehung des Lebens ein.

Durch weiteres Abkühlen entstanden allmählich Bedingungen, die es einfachen Seife-ähnlichen Molekülen (Lipiden) erlaubten, sich zu Vesikeln (Bläschen) zusammenzuschließen und damit die ersten abgeschotteten Reaktionsräume zu bilden. Dabei herrschten anfangs gleiche Bedingungen innerhalb und außerhalb der Lipid-umschlossenen Vesikel. Das besagt auch das Prinzip der chemischen Konservierung: dass nämlich das anorganische Milieu der heutigen Zellen die Zusammensetzung des Gewässers widerspiegelt, in dem sie sich einst gebildet haben. Der Innenraum der Zellen konnte die Konzentration der Elemente stabil halten, während sich die Umgebung in ihrer Zusammensetzung änderte.

Ionen-Stau in den Zellen

Bis hierhin passte alles, doch Archibald Macallums Neugier gab immer noch keine Ruhe. Einmal in Schwung wollte der Biochemiker auch wissen, wie die anorganische Situation innerhalb der Zellen war, und maß nach. Hier passte das Bild nicht mehr so schön wie noch bei Blut und Lymphe: Die Zellen besitzen eine hohe Konzentration an Phosphat sowie ein extrem hohes Verhältnis von Kalium zu Natrium. Diese Parameter sind weit von den Konzentrationen entfernt, die im heutigen Meerwasser anzutreffen sind.

Die einfachste Erklärung für diesen Widerspruch wäre: Na klar, vor vier Milliarden Jahren sah es in den Ozeanen auch noch anders aus, und durch das Prinzip der chemischen Konservierung bilden die Zellen ein Guckloch in die Zeit der Zusammensetzung der Urzeitmeere.

Doch daran glaubt längst nicht jeder. Zum Beispiel Armen Mulkidjanian, ein armenischer Bioenergetiker, der an den Universitäten Osnabrück und Moskau forscht und unterrichtet. Mulkidjanian fragt sich schon viele Jahre, wie es zu diesem hohen Kalium-Natrium-Verhältnis in den Zellen kommen konnte. „Natürlich können wir heute nicht mehr mit Sicherheit sagen, wie die Ozeane zusammengesetzt waren, aber dass es damals mehr Kalium als Natrium im Wasser gegeben haben könnte, ist doch sehr unwahrscheinlich.“

In den Proben des Meerwassers, das in 3,5 Milliarden Jahre alten Gesteinen gefangen war, beträgt das Na+/K+-Verhältnis ungefähr 40 zu 1 und ähnelt damit jenem moderner Ozeane. Dies hat eine wissenschaftliche Begründung. K+ wird sehr leicht von Mineralen gebunden und damit dem Meerwasser entzogen, während Na+ eine höhere Tendenz hat, im wässrigen Milieu zu verweilen. So kommt es, dass im Meerwasser ungefähr vierzigmal mehr Natrium- als Kaliumionen umherschwimmen, während in der Zelle zehnmal mehr Kaliumionen vorhanden sind. Wie also ist das viele Kalium in die heutigen Zellen gelangt?

Ein weiteres Problem: Phosphat und Zink. Die Konzentration an gebundenem Phosphat ist in den Zellen tausendfach höher als in den Ozeanen. Noch drastischer ist der Unterschied im Fall von Zinkionen. Und es gibt einige Hinweise, dass Zink von Anfang an in den Zellen vorhanden gewesen sein musste, da zahlreiche ubiquitäre Proteine Zink als Kofaktor besitzen – von den Archaeen über die Bakterien bis zu den höheren Pflanzen und Säugetieren.

Meerwasser zu „dünn“

Diese Konzentrationsunterschiede zwischen Zellen und Meerwasser haben schon viele Theorien ins Wanken gebracht. Es gab keine Erklärung, die wirklich schlüssig und umfassend dieses Dilemma auflöste. Bis heute, denn Mulkidjanian könnte eine Erklärung gefunden haben. Fast könnte man meinen, Charles Darwin selbst hätte in einem Brief an einen Freund den ersten Hinweis darauf gegeben. Darwin schrieb sinngemäß: Was wäre, wenn sich in einem kleinen Tümpel durch unterschiedliche Ammonium- und Phosphatsalzverbindungen, Licht, Hitze, Elektrizität und Ähnlichem, komplexe Verbindungen gebildet hätten, die in der Lage wären, weitere komplexe Veränderungen einzuleiten?

Ein Tümpel also als mögliche Geburtsstätte. Mitten auf dem Land, unabhängig vom Meer?

Armen Mulkidjanian fand den Gedanken interessant, und da kam die Hilfe des Moskauer Geochemikers Andrew Bychkov gerade recht. Bychkov untersucht seit vielen Jahren Geothermalquellen auf der russischen Halbinsel Kamtschatka. Die geothermischen Systeme haben in einigen Fällen sowohl Ausgänge, die Wasser aus dem Inneren der Erde ans Tageslicht bringen, als auch weitere, aus denen sehr heißer Dampf entweicht.

Dem Wasser dieser Thermalquellen sagt man heilende Wirkung nach. Analysen des „heilenden“ Wassers offenbaren stark erhöhte Werte an Mineralien – viel Eisen, Mangan, Zink und Phosphor. Das passt zu der Vorstellung, wie die Urkomposition vom Plasma des Lebens gewesen sein musste. Allerdings ist auch in diesem Wasser mehr Natrium als Kalium enthalten, was im Widerspruch zu der Situation innerhalb von Zellen steht.

Der Dampf des Lebens

Der Geologe Bychkov ging einen Schritt weiter. Er kondensierte den Dampf der Dampfquellen und analysierte ihn. Was er fand war eine – in einer durch natürliche Bedingungen zustande gekommenen Flüssigkeit – höhere Konzentration an Kalium als an Natrium. Und er hatte sogar eine plausible Erklärung dafür parat: Das Wasser hat auf seinem langen Weg durch die steinernen Kanäle und Spalten bis in die Tiefen unseres Planeten all die Mineralien und Ionen aufgenommen und sich dabei immer mehr aufgeheizt. Zwar hielt der hohe Druck das Wasser auch bei 300 °C noch flüssig, doch es strebte wieder nach oben. Je näher die Erdoberfläche kam, desto geringer war der Druck. Es entstand Dampf, der sich vom restlichen Wasser trennte und seine eigenen Wege ging.

Die Elemente haben unterschiedliche Neigungen, sich in Wasser beziehungsweise Dampf zu lösen. Kalium, aber auch Schwefelwasserstoff, Ammonium und CO2, gehören zu denen, die sich wesentlich lieber in Dampf auf eine Reise begeben, als in Wasser. Daher sind in Kondenswasser mehr Kaliumionen vorhanden.

Mulkidjanian hatte endlich eine Lösung des solange hin- und her gewälzten Rätsels. Oder doch nicht? Dampfkondensate sind extrem sauer, haben oft einen pH-Wert von weniger als 1. Unter diesen aggressiven Bedingungen konnte sich mit Sicherheit nicht einmal die primitivste Vorstufe des Lebens entwickeln.

Doch es gab noch andere wichtige Veränderungen zwischen dem großen Knall und den heutigen Zuständen auf der Erde. Eine wichtige Veränderung war das Auftreten von Sauerstoff. Der durchlüftet erst seit 2,4 Milliarden Jahren durch die photosynthetische Aktivität von Cyanobakterien die Atmosphäre der Erde. Gleichzeitig oxidierte der Sauerstoff den Schwefelwasserstoff, der im austretenden Dampf enthalten war, zu Schwefelsäure. Fehlte Sauerstoff, so war der pH-Wert des austretenden Wasser nur ganz leicht sauer und wurde wahrscheinlich durch das leicht basische Gestein neutralisiert. „Das kann man alles auf einem Zettel ausrechnen“, schmunzelt Mulkidjanian.

Darwin im Mini-Tümpel

Mulkidjanian und seine Koautoren aus den Universitäten von Osnabrück und Moskau und auch dem US-amerikanischen National Center for Biotechnology Information der National Institutes of Health (NIH) haben die Rekonstruktion des Ursprungs der ersten Zellen kürzlich in PNAS veröffentlicht (2012, 109:821-30).

Die Hypothese lautet in aller Kürze: Darwin hatte wieder mal Recht. Das Leben entstand in einem kleinen Tümpel. Mulkidjanian stellt sich das so vor: Der Dampf, beladen mit allen wichtigen Metall-Ionen, CO2, Phosphat, Borat, Sulfiden, Ammonium, sowie in der Tiefe des heißen Gesteins gebildeten organischen Molekülen, kondensiert auf mineralischem Untergrund und bildet kleine Tropfen, während die mit dem Dampf transportierten Silikate Schichten von Tonmineralen bilden. Die Präzipitation von Silikaten kann man an den heute noch existierenden Dampfquellen beobachten. Sollten sich in diesen Tropfen einfache Lipide zu Vesikeln zusammenschließen, hätte man in wesentlichen Grundzügen die chemisch-anorganische Zusammensetzung heutiger Zellen.

Und noch einen Vorteil hätte die Idee des Lebens aus dem Kondenswasser. Da es in Abwesenheit von Sauerstoff noch keine Ozonschicht gab, könnten sich erste einfache Nukleinbasen und Zucker-Moleküle mit Hilfe von UV-Licht in dem Kondenswasser gebildet haben. Hilfreich sollte dabei das Borat sein, da es solche Reaktionen katalysiert beziehungsweise stabilisiert. Die Nukleinbasen und Zucker-Moleküle könnten sich dann zusammen mit dem ebenfalls im Thermaldampf enthaltenen Phosphat mit Hilfe der als „Templates“ fungierenden Tonmineralen zu ersten Ribonukleinsäuren verbunden haben. „Das Leben ist mit hoher Wahrscheinlichkeit als RNA-Maschine gestartet“, resümiert Mulkidjanian den Stand des Wissens. Und gerade in dieser Hinsicht bekommt Armen Mulkidjanian Unterstützung von angesehenen Biologen. Von denen gibt es einige, die sich sehr dafür interessieren, den Ursprüngen von sich selbst replizierenden und Informations-speichernden Molekülen auf den Grund zu gehen. John Sutherland von der Universität Manchester zum Beispiel hat herausgefunden, dass 2-Amino-Oxazol, das im Kondenswasser aus ebenjenen Thermalquellen, die auch Mulkidjanian im Visier hat, akkumulieren könnte, in Gegenwart von Phosphat weiter zu Ribonukleotiden reagiert. „Ich denke auch, es müsste reichen“, sagt Mulkidjanian. Gemeint ist die Überzeugungskraft seiner Hypothese.

Aber wie ging es dann weiter? Selbst wenn die ersten Zellen auf dem Land in kleinsten Flüssigkeitsmengen entstanden sind – Tiere können diese Aggregate schwerlich hervorgebracht haben. „Es ist am wahrscheinlichsten, dass die ersten mehrzelligen Gemeinschaften im Meer entstanden sind. Vielleicht sind die einfachen Zellen über Flüsse ins Meer gespült worden.“ Aber in welchem Entwicklungsstadium sich die Zellen befanden und zu welcher Zeit dies geschehen sein könnte, darüber besteht weiterhin Unklarheit. Nun gut, eine Hypothese muss ja auch nicht alles erklären können.

Die Entstehung des Lebens im kleinsten Format ist schon mal ein Anfang.


Thorsten Lieke
Bilder: Pavel Svoboda /Fotolia.com (Geysir), Anna S. Karyagina (Steine), privat (Mulkidjanian)

Dieser Text ist in Laborjournal 6/2012 erschienen.


Armen Mulkidjanian studierte an der Lomonosov Moscow State University Biophysik und Biologie und habilitierte an der Uni Osnabrück in Biophysik. An der Osnabrücker Physik entwickelt er mit Hilfe von Projekten zu Evolution und molekularen Mechanismen biologischer Energieumwandlung, Enzymkatalyse, der Elektrostatik von Membranproteinen und der Photosynthese Modelle über die Kinderstube der ersten Zellen. Diese Protozellen, so seine Theorie, können nicht im Meer entstanden sein – die Ionen-Zusammensetzung moderner Zellen spricht dagegen.



Letzte Änderungen: 21.06.2012
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