Editorial

Weniger Kopf- und Gliederschmerzen

Die saisonale Grippewelle wird wohl mild verlaufen

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(8. Juni 2012) Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt jährlich die aktuelle Zusammensetzung des Grippe-Impfstoffs für die kommende Saison an. Dieses Jahr bleibt fast alles beim Alten. Der Mediziner Emil Reisinger, Leiter der Abteilung für Tropenmedizin und Infektionskrankheiten an der Universitätsmedizin Rostock, erwartet deshalb für den Spätherbst nur eine milde Grippewelle. Laborjournal fragte nach, wie er zu dieser Einschätzung kommt.

Laborjournal: Herr Reisinger, man erwartet für 2012 nur eine abgeschwächte Grippewelle. Woher weiß man das denn?

Emil Reisinger: Wir haben eine weltweite Grippeviren-Surveillance, die unter anderem im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durchgeführt wird. Labore weltweit zeichnen die Grippeaktivität über das ganze Jahr auf; so kann man voraussehen, welches Grippevirus oder welche Grippeviren in der nächsten Saison vermehrt auftreten werden. Ende Februar jeden Jahres geben diese Labors die Information an die WHO, die sie dann weiter an die Impfstoffhersteller gibt. Die Hersteller fangen im März an, den neuen Impfstoff für den Herbst zusammenzustellen. Glücklicherweise waren die Vorhersagen der WHO in den letzten Jahren ident mit den Viren, die im Herbst auch aufgetreten sind. Seit drei Jahren haben wir eine besondere Situation. Damals, im April 2009, ist das Schweinegrippevirus H1N1 aufgetreten. Das war überraschend, weil es nicht klassisch während, sondern kurz nach der Grippezeit war. Man konnte schnell einen Impfstoff gegen dieses Virus herstellen und die Impfung wurde empfohlen. Für die darauf folgenden Jahre wurde wieder H1N1 vorausgesagt, sodass die H1N1-Impfung sich auch in den saisonalen Grippeimpfungen wieder fand. Wir haben Glück, dass die H1N1-Grippe mit relativ niedriger Letalität von etwa 0,5 Prozent verläuft. Bei einer normalen Grippe sterben ein bis fünf Prozent der Erkrankten. Im Februar 2012 hat die WHO erneut die Viren bekannt gegeben, die im kommenden Herbst und Winter höchstwahrscheinlich für die Grippepandemie verantwortlich sein werden. Da war wieder das H1N1-Virus dabei und, wie im letzten Jahr auch, ein H3N2-Virus, beide aus der A-Gruppe; zudem ein Virus aus der B-Gruppe, sodass die Impfstoffzusammensetzung für das kommende Jahr nahezu ident ist mit der Zusammensetzung der vergangenen drei Jahre. Diese Situation ist beruhigend. Wir haben nämlich jetzt, wenn H1N1 wieder das pandemische Virus wird, bereits viermal in Folge – einmal außerhalb der Saison, dreimal saisonal – dagegen geimpft und viele Menschen haben mittlerweile auch eine H1N1-Infektion durchgemacht. Ich rechne damit, dass im kommenden Herbst circa 60 Prozent der Menschen in Deutschland Antikörper gegen das H1N1-Virus haben werden. Deshalb erwarte ich, wenn sich im Herbst des Jahres weiterhin so viele Leute impfen lassen wie in den vergangenen 2 Jahren, wenn es keine genetischen Veränderungen des H1N1-Virus gibt und wenn keine unvorhergesehenen Grippeviren auftreten, dass in der kommenden Saison die Grippewelle nicht so dramatisch verlaufen wird, wie beispielsweise noch vor fünf Jahren, als durch die Grippe in den Wintermonaten 15.000 bis 20.000 Menschen gestorben sind.

Die Impfstoffe richten sich immer gegen drei Virentypen, warum sind es gerade drei?

Emil Reisinger: Es sind zwei Virentypen der Gruppe A und einer der Gruppe B. Das zweite A-Virus ist das, das neben dem ersten auch zirkuliert, allerdings nicht so weit verbreitet ist. Das ist sozusagen das Backup, eine gewisse Sicherheit. Zusätzlich ist ein zirkulierendes B-Virus mit dabei. Ein gewisses Risiko, ob diese Viren dann doch nicht zirkulieren werden, hat man immer. Das ist eine Frage der Wahrscheinlichkeiten. In den letzten Jahren hat die WHO jedoch jedes Jahr das richtige Virus vorausgesagt. Man überlegt inzwischen auch quadrivalente Impfstoffe auf den Markt zu bringen, das wären dann Impfstoffe, in denen vier Viren enthalten sind, um einen noch besseren Schutz zu erreichen.

Die WHO gibt eine Empfehlung heraus. Wie entwickelt man denn die Impfstoffe, ohne eine Vorlage zu haben?

Emil Reisinger: Man hat natürlich Vorlagen. Der Aufbau des Impfstoffes bleibt ja jedes Jahr gleich, nur das Virus-Antigen wird geändert. Die WHO nennt den Impfstoffherstellern die Stämme und stellt das Virus auch in einer Stock-Lösung zur Verfügung. Dann werden Hühnereier oder Zellkulturen beimpft, das Antigen gewonnen und die Impfstoffe hergestellt.

Sie führen jeden Sommer an der Uniklinik Rostock klinische Studien mit dem Impfstoff für den jeweiligen Herbst durch?

Emil Reisinger: Jeder Impfstoff, der im Herbst auf den Markt kommt, muss zugelassen werden. Mit den saisonalen Impfstoffen muss jedes Jahr eine klinische Studie durchgeführt werden, um nachzuweisen, dass die Impfstoffe auch gut verträglich und wirksam sind. Es gibt jedes Jahr mehr als fünf unterschiedliche Grippeimpfstoffe und jeder muss nach der Produktion in einer klinischen Studie getestet werden. Im Spätsommer werden die Studienergebnisse beim Paul-Ehrlich-Institut (PEI) eingereicht und bei erfolgreicher Prüfung zugelassen.

Wie läuft der Test auf die Wirksamkeit ab?

Emil Reisinger: Die Wirksamkeit von Impfstoffen wird indirekt über die Induktion von Antikörpern getestet. Es wird geimpft, dann werden die neutralisierenden Antikörper bestimmt und wenn die vorhanden sind, gehen wir davon aus, dass auch ein Impfschutz vorhanden ist.

Wird der Impfstoff nach einer klinischen Studie eventuell noch einmal angepasst oder ist dafür keine Zeit mehr?

Emil Reisinger: Dafür wäre keine Zeit mehr. Wenn ein Impfstoff in Ordnung ist, dann wird er zugelassen, wenn er nicht in Ordnung wäre, dann würde er nicht zugelassen werden.



Interview: Valérie Labonté
Bild: privat



Letzte Änderungen: 20.06.2012
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