Editorial

Das Leben der Steine

Expedition auf dem Pazifik-Atoll Kiritimati

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(17. Mai 2012) „Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Drum nähme ich den Stock und Hut und tät das Reisen wählen.“ – So sprach Matthias Claudius irgendwann zwischen 1740 und 1815. Joachim Reitner hält sich noch heute daran. Hut, Hammer und pH-Meter hat er immer dabei, wenn er durch die Natur streift, denn Reitner ist Geobiologe aus Leidenschaft. Gut und gerne vier Monate im Jahr fliegt er durch die Weltgeschichte und lässt in Erzählungen die Faszination für seine Studienobjekte durchblitzen. Und Reitner hat eine Menge zu erzählen, auch so manche Anekdote.

Aug in Aug mit dem Tsunami

Im März 2011 war Reitner mit Kollegen aus Bremen, Magdeburg und Braunschweig gerade auf dem Südseeatoll Kiritimati auf Expedition, als in Japan die Erde bebte und ein Tsunami das Atomkraftwerk in Fukushima und die halbe Ostküste zerstörte. Obwohl das kleine Eiland, das am 24. Dezember 1777 von James Cook entdeckt wurde und deshalb auch unter dem Namen Christmas Island bekannt ist (Weihnachten heißt auf kiribatisch Kiritimati), weit über 10.000 Kilometer von Japan trennen, wurde das Expeditionsteam nachts aus den Hotelbetten geklopft – der Tsunami war im Anmarsch.

Jetzt war guter Rat teuer. Wohin fliehen auf einer Insel, die aus einem Korallenriff entstanden ist? Die zwar mit 320 km2 die größte Landmasse von allen Atollen der Erde besitzt, aber dennoch nicht größer ist als München und flach wie ein Flunder? Die Gesellschaft fuhr möglichst weit ins Innere der Insel und stellte sich auf eine Düne, die wenigstens einige Meter über dem Meeresspiegel lag.

So abgelegen das Atoll vom Rest der Welt auch sein mag, die Infrastruktur ist gut ausgebaut. Es gibt eine Landebahn, wo einmal die Woche ein kleiner Flieger aus Hawaii landet. Und es gibt Straßen, die die Landebahn im Süden des Atolls mit den kleinen Orten im Norden verbinden, die London, Banana oder Poland heißen, und in denen die rund 5.000 Einwohner von Kiritimati wohnen (Paris ist seit Jahren unbewohnt, wie man hört). Der zivilisatorische Ausbau wurde vor allem von den Engländern vorangetrieben, die das Atoll 1889 in Besitz nahmen. Zuvor hatten es die Amerikaner von den Briten annektiert, um Guano abzubauen.

Die kleine DFG-Forschergruppe verbrachte also die Nacht auf der Düne und wartete auf die große Welle. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Tsunami Kiritimati überspülen würde. Vor Tausenden von Jahren hatte unter anderem ein Tsunami Bedingungen geschaffen, die Kiritimati für Reitner wissenschaftlich so interessant machen.

Reitner absolvierte sein Studium und seine Promotion in Tübingen. Dann ging er als Postdoc nach Berlin an die Freie Universität und nahm dort auch eine Assistenz-Professur an. In dieser Zeit war er viel in Australien am Great Barrier Reef unterwegs – die Arbeiten dazu brachten ihm 1996 den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ein. 1994 folgte er einem Ruf nach Göttingen. Dort lebt und lehrt er heute noch.

Kleine Kalkscheißerchen

Reitner beschäftigt sich mit Bio- und Organofilmen auf Mineralien – also auf Steinen, salopp gesagt. Organofilme bestehen aus dünnen Schichten organischer Moleküle. Wenn sich solche Moleküle auf der Oberfläche von bereits bestehenden Steinen ablagern, kann es zu Reaktionen kommen, bei denen sich die abgelagerten Moleküle mit dem Mineral verbinden und so zur Gesteinsbildung beitragen – den Stein „wachsen“ lassen.

Ähnliches passiert im Fall von Biofilmen, nur dass sich in diesem Fall Bakterien und andere Mikroorganismen auf der Oberfläche von Steinen ansiedeln. Als Produkt ihres Stoffwechsels scheiden sie Kalkverbindungen wie zum Beispiel Aragonit aus. Ein Großteil der vorhandenen Kalksteine und Kalksteingebirge sind auf diese Weise aus biologischer Aktivität hervorgegangen. Das ist auch gerade das Spannende für Reitner. Er wandert durch die Alpen, durch Gebirge in Zentralchina, analysiert Felsformationen in Namibia und ist immer wieder aufs Neue beeindruckt von den Strukturen, die sich in den Biomineralien bewundern lassen. Viele Ausprägungen sind typisch für bestimmte Regionen, bedingt durch die Umweltbedingungen und vorhandenen Bakterien zur Zeit der Entstehung der Gesteine.

Fenster in die Urzeit

Reitner liest in präparierten Steinplatten wie in einem Buch – kann sagen, welche Bakterienarten am Werk waren, sieht, welche Stoffwechselprodukte in den Stein eingebaut sind, und stellt ziemlich präzise Vermutungen an, wo der Stein herkommt, wenn er eine Platte mal nicht selbst gefunden hat.

Joachim Reitner, der dieses Jahr seinen 60. Geburtstag feiert, hat also einen großen Erfahrungsschatz. Der kam ihm bei seinem ersten Besuch auf Kiritimati zugute. Das war 2002. Zusammen mit seinem französischen Kollegen Jean Trichet und seinem Mitarbeiter Gernot Arp nahm Reitner die Gegebenheiten vor Ort in Augenschein. Trichet hatte ihn auf das Atoll aufmerksam gemacht – die Geologengemeinde ist klein und man weiß um die Interessen des anderen. Die kleinen Tümpel, die überall auf dem Atoll verteilt sind, über 500, wären für Otto Normal unscheinbare Pfützen, die jedem Science Fiction- oder Endzeit-Film als Kulisse dienen könnten. Keine Pflanzen, karger Stein, ein rostroter Belag am Wassergrund und überall Salzkrusten. Denn bei den Tümpeln handelt es sich um Salzseen mit einem salinen Gehalt von bis zu 29 Prozent (Meerwasser hat einen Salzgehalt von 3,5 Prozent). „Das war wie ein Fenster in die Urzeit“, erinnert sich Reitner. Drei Wochen lang erkundeten die drei die Gegend und wohnten bei einem französischen Missionar in der Nähe des Hauptortes London. Ab und zu genossen sie auch mal ein Bad in der Lagune, die wie aus einem Prospekt für Karibik-Urlaube daherkommt und per Definition vonnöten ist, um ein Korallenriff zu einem Atoll zu machen.

Atolle entstehen um eine Vulkaninsel herum, an deren Flanken Korallen Gesteinsbildung betreiben. Im Fall von Kiritimati erhob sich das Riff während der letzten Eiszeit und dem damit verbundenen Absinken des Meeresspiegels aus dem Meer. In Vertiefungen blieb vermutlich das Meerwasser erhalten und versalzte durch Verdunstung. Nach einem erneuten Anstieg des Meeresspiegels lag das Riff nur noch wenige Meter über Null. Durch ein Erdbeben, so vermutet man, kam das Atoll vor 3.500 Jahren in leichte Schieflage und ein Teil der Lagune, die sich durch den ansteigenden Meeresspiegel gebildet hatte, wurde isoliert. Ein Tsunami hat dann weiteres Meerwasser in das Tümpelsystem des Atolls gespült. „Warum trocknen die Tümpel nicht aus?“ frage ich, denn die Gewässer sind im Mittel so tief wie ein Gartenteich. „Das liegt wohl an El Niño und La Niña“, mutmaßte Reitner. Die Klimaphänomene bringen periodisch abwechselnd große Trockenheit (La Niña) oder enormen Regen (El Niño). „Dadurch entsteht ein Wechselspiel aus Wasserzufuhr und Verdunstung, das die Lebensbedingungen in den Gewässern einigermaßen konstant hält.“

Wohnen im Schleim

Wie so oft haben sich vor allem Bakterien oder allgemein Mikroorganismen an die extremen Umstände angepasst. In dicken Schichten, auch Matten genannt, leben Hunderte, wenn nicht Tausende von Bakterienarten miteinander und durcheinander. Photosynthese treibende Cyanobakterien, Purpurbakterien, sulfatreduzierende Bakterien und methanogene Archaeen tummeln sich in aeroben und anaeroben Habitaten, zum Teil symbiontisch, auf alle Fälle aber „gesellschaftlich“ miteinander verbunden. Für ebendieses Miteinander interessierten sich die Expeditionisten. Die Wissenschaftler haben nicht nur kokkenförmige Cyanobakterien mit wohlklingenden Namen wie Entophysalis, Spirulina und Johannesbaptista oder Vertreter der Stämme der Firmicutes, zu denen auch die Clostridien zählen, und Alphaproteobakterien aus den Matten gefischt und auf ihren Stoffwechsel untersucht.

Danny Ionescu, Postdoc am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie Bremen, ist mit auf das Atoll gereist, um das Milieu in mikrobiellen Matten zu untersuchen, und lässt sich dabei von HighTech unterstützen. Um pH-Wert, Sauerstoffgehalt, Konzentrationen von Sulfiden, Kationen oder Anionen analysieren zu können, versenkte Ionescu in den Matten Mikrosensoren. Diese bestehen aus Glasröhren, die an ihrer Spitze die jeweiligen Detektoren haben – allesamt handgearbeitet von Technikern des Bremer MPIs. Computergesteuert werden die Glassäulen in 100-µm-Schritten in den durchschnittlich 2 bis 5 cm dicken Matten versenkt und auf diese Weise ein Milieuquerschnitt durch die gesamte Matte hergestellt.

So konnte Ionescu bestätigen, dass in der oberen Schicht, in der die Cyanobakterien Photosynthese betreiben, naturgemäß reichlich Sauerstoff vorhanden ist. Die Konzentration nimmt mit zunehmender Tiefe der Matten immer mehr ab, unter anderem weil heterotrophe Bakterien exopolymeren Schleim (EPS) unter Verbrauch von Sauerstoff verstoffwechseln. EPS wird sehr oft in Bakteriengemeinschaften, die sich zu einem Biofilm zusammengeschlossen haben, produziert. Der Schleim bietet Schutz vor Umwelteinflüssen (wie Antibiotika oder sonstige Angriffe auf Leben und Gesundheit der Mikroben), bildet eine Matrix zur Adhärenz – und eine Nahrungsgrundlage für einige Bakterien innerhalb der Kolonien. „Dass das lokale Mikromilieu eine Aggregatbildung von Kalk und Aragonit unterstützt, war uns schon klar. Unklar war, welche Bedingungen vorherrschen müssen“, sagt Ionescu.

Es sind noch längst nicht alle Daten ausgewertet, die vor gut einem Jahr aufgenommen wurden, doch die ersten Ergebnisse zeigen schon jetzt, dass sich vor allem im Grenzbereich vom aeroben zum anaeroben Milieu die Mineralkristalle bilden. Diese Ablagerungen sind mit der Zeit immer dichter miteinander verwoben, bis sich porige Türme ausbilden. Doch auch die Poren werden durch den Kalk der Mikroorganismen geschlossen und als Endprodukt entsteht Kalkstein, der auch massenweise abgestorbene Bakterien einschließt. Dadurch wird der Stein marmoriert, mal durch einfache Linien, mal durch eindrucksvollere blumenkohlartige Strukturen, auch Stromatolithen genannt.

Bis auf Atomtests unberührt

„Das besondere an Kiritimati ist, dass die Umgebung keinen oder nur geringen menschengemachten Einflüssen ausgesetzt ist, die die biologischen Prozesse in Bahnen lenken, wie sie vor Jahrmillionen nicht vorgekommen wären“, hebt Reitner die einmalige Situation auf dem Atoll hervor. Ich stutze. Unberührte Natur? Haben nicht Engländer und Amerikaner in den 1950er und 60er Jahren auf oder dicht bei Kiritimati massenhaft Atom- und Wasserstoffbomben überirdisch gezündet? Wie kann man da von natürlichen Bedingungen sprechen? Viele der alten Bewohner leiden unter den Folgen dieser Tests. Der Missionar zum Beispiel, der Reitner und seinen Kollegen Obdach gewährte, hatte Geschwüre entwickelt, wie sie typischerweise durch Verstrahlung auftreten. Aber Joachim Reitner ficht das nicht an. „Wir haben in den untersuchten Mikroorganismen bis dato keine charakteristische Häufung von Mutationen gefunden. Das nehmen wir als Anzeichen, dass die Tests wahrscheinlich bei den Bakterien keine nachhaltig beeinflussenden Schäden verursacht haben.“ Das Fenster in die Urzeit bleibt also offen.

Mikro-Architekten

Die Mineralien, die auf Kiritimati entstehen, zeigen Ähnlichkeiten zu Gesteinen, die Reitner an anderen Orten auf der Welt bereits gesehen hat. Auf die Frage, was ihn immer wieder antreibt, seine Sachen zu packen, Expeditionen zu organisieren, Laborequipment wie Mikroskope, Chemikalien, Sonden und andere Utensilien bruchsicher zu verpacken und um die halbe Welt zu verschiffen, gibt Reitner zur Antwort: „Zusammenhänge zu begreifen.“ Also eine Verbindung herzustellen mit dem, was schon lange ist und dem, was entsteht. Überraschend, ist der Laie doch der Meinung, dass Geologen und Paläontologen Menschen sind, die sich hoffnungslos in Details aus der Steinzeit verstrickt haben. Reitner beweist, dass auch die Geologie lebendig sein kann. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Und weil die Expeditionsteilnehmer an diesen dynamischen Ereignissen der Gesteinsbildung interessiert sind und eine DFG-Forschergruppe bilden, standen Reitner und seine Kollegen im März 2011 denn auf der kleinen Düne und durchwachten eine Nacht voll Furcht, von einem Tsunami in den Pazifik gespült zu werden. Selbst wenn dieser schlimmste Fall nicht einträte, weil die Welle auf dem Weg ins Inselinnere ihre Wucht verloren hätte, so bestand doch höchste Gefahr für die Ausrüstung im Hotel, das direkt an der Tsunamizugewandten Küste lag.

Nach Stunden ereignisloser Warterei beschlossen sie, wieder in die Autos zu steigen und zurückzufahren. War doch der von ihnen errechnete Zeitpunkt des Eintreffens der Welle auf dem Atoll schon lange vorüber. Kurz nach ihrer Rückkehr ins Hotel, das bezeichnenderweise nach James Cook benannt ist, und als sich gerade alle noch eine Mütze voll Schlaf holen wollten, bevor es wieder an die Tümpel ging, kam der Tsunami doch. Die Berechnung der Ankunftszeit war offensichtlich ein wenig falsch, doch der Tsunami war glücklicherweise nur noch ein 30-Zentimeter-Wellchen, aber immerhin...



Thorsten Lieke
Bilder: AG Joachim Reitner

Dieser Text ist in Laborjournal 5/2012 erschienen.



Letzte Änderungen: 20.12.2012
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