Editorial

Der Kellerforscher

Die vermutlich längste Promotion der Welt

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(16. Mai 2012) Hin und wieder beschleicht einen Doktoranden das Gefühl, dass es auch außerhalb des Labors noch eine Welt gibt, in der man sein Leben verbringen könnte. Aber man forscht auch gerne und hängt an seinem Projekt. Wie bringt man beides unter einen Hut? Herbert Jelinek hat beides gemacht – sein Leben gelebt und geforscht.

Herbert Jelinek öffnet die Tür seines Hauses in Rissen, einem ruhigen Stadtteil am Rande Hamburgs. Mit seinem zerzausten weißen Haarkranz erinnert er ein wenig an den Professor aus der Sesamstraße. Jelinek ist Lehrer und seit 2008 im Ruhestand. Im minimalistisch eingerichteten Wohnzimmer steht ein Laufstall – Jelineks Enkel war für einige Tage zu Besuch. Sieht alles nach einem gemütlichen Lebensabend aus. Doch so beschaulich wie heute ist sein Leben als Pensionär nicht immer gewesen.

Artbildung bei Wenigborstern

Dabei verlief erstmal alles „ganz normal“. Jelinek hatte an der Uni Hamburg Chemie und Biologie studiert und sich nach dem Examen 1974 entschlossen, in der Arbeitsgruppe von Michael Dzwillo eine Promotion aufzunehmen. Damals war Dzwillo Professor in der Abteilung Niedere Tiere I des Zoologischen Museums in Hamburg. Jelineks Thema waren Schlammröhrenwürmer (Naididae), eine Untergruppe der Wenigborster (Oligochaeten). Er wollte herausfinden, nach welchen Kriterien sich Arten abgrenzen lassen, welche Arten in welchen Biotopen vorkommen und wie sich Individuen einer Art je nach Standort unterscheiden. Ein Jahr lang sammelte er in Tümpeln und Mooren, in der Elbe und im Süßwasserwatt, in Hamburger Parks und auf Urlaubsreisen Würmer aus dem Schlamm.

Bilden Vertreter der Naididae in verschiedenen Biotopen unterschiedlich große und geformte Borsten? Oder handelt es sich um unterschiedliche Arten? Er versuchte, die 1 bis 30 mm kleinen, durchsichtigen Tiere in verschiedenen künstlich nachempfundenen Biotopen zu kultivieren und betrachtete dann ihre Borsten. „Der chaetotaxonomische Ansatz, den ich damit verfolgte, war schwierig, denn einige Arten lassen sich nur schwer kultivieren“, erklärt Jelinek.

Schwierige Würmer

Und in der Tat lesen sich Jelineks Aufzeichnungen stellenweise wie ein Kochbuch. Er experimentierte mit Brunnen- und Leitungswasser, Haferflocken und Reis, Katzenfutter und gekochtem Salat, einzelligen Grünalgen und mit Schlick versetztem Agar. Für einige Arten fand er ein geeignetes Kulturmedium. Bei vielen aber blieben Jelineks Bemühungen vergebens. Die Tiere vermehrten sich außerhalb ihres Lebensraumes nicht.

„Parallel dazu verfolgte ich einen zytogenetischen Ansatz. Wir nahmen damals an, dass Tiere derselben Art in verschiedenen Biotopen Unterschiede in ihrem Ploidiegrad aufweisen und dass sich Arten aufgrund ihrer Chromosomenzahl unterscheiden lassen, so wie es von anderen Oligochaeten-Taxa beschrieben war.“ Doch auch das war nicht einfach, da sich die Zellen nicht gut vereinzeln ließen. „Ich habe also die Chromosomen gefärbt und Quetschpräparate ganzer Tiere angelegt.“  

In diesen Präparaten ganzer Würmer befinden sich aber nur wenige Zellen in der Mitose. Und diese Zellen werden nicht gut getrennt – die gefundenen Chromosomen lassen sich daher nur schwer einzelnen Zellen zuordnen. So ist eine Polyploidie kaum zu erkennen. Außerdem besitzen viele nominale Arten die gleiche Chromosomenzahl. Und was ist mit Zellen in der Meiose? Schwierig bei Tieren, die die Paratomie, also die Organverdoppelung mit anschließender Querteilung des ganzen Organismus‘, der sexuellen Fortpflanzung vorziehen!

Ein Jahr lang widmete sich Jelinek ausschließlich seiner Doktorarbeit, dann kündigte sich Nachwuchs an und er wechselte in den Schuldienst. Seine Forschungsarbeit verfolgte er weiter. Vormittags brachte er Kindern Chemie und Biologie bei, nachmittags, wenn die Schüler nach Hause gegangen waren, widmete er sich im Biologieraum der leeren Schule weiter den Naididen, beurteilte Borsten, quetschte Würmer und zählte Chromosomen. Aber die Systematik der Naididen blieb unübersichtlich. Lediglich höhere Taxa konnte er zuordnen.

Die Schule beanspruchte ihn zunehmend, er arbeitete zusätzlich in der Schulbehörde, übernahm Aufgaben in der Lehrerfortbildung und gestaltete Lehrpläne. Er kam immer weniger zum Forschen. Und als nach drei Jahren die Ergebnisse für seine Doktorarbeit noch immer dünn und uneindeutig blieben und er inzwischen dreifacher Vater war, brach er 1978 seine Bemühungen ab, packte seine Präparate in Kisten in den Keller und konzentrierte sich auf seinen Lehrerberuf.

Jelinek erinnert sich: „Vier oder fünf Jahre lang rief Professor Dzwillo zwar noch regelmäßig an und fragte, wann die Arbeit denn fertig wäre. Aber ich hatte damit abgeschlossen.“ Er ging in seinem Beruf als Lehrer auf, bis er 2008 altersgemäß aus dem Schuldienst ausschied und sich auf ein ruhiges Rentnerdasein einstellte. Doch es kam anders.

Stimme aus der Vergangenheit

Hin und wieder hörte er sich die Vorträge beim Naturwissenschaftlichen Verein Hamburg an. Sein Leben änderte sich schlagartig, als ihn auf einem dieser Vorträge ein alter Herr ansprach: „Guten Abend, Herr Jelinek!“ Jelinek erkannte seinen inzwischen 79-jährigen, ehemaligen Professor. Und bevor er etwas erwidern konnte, fuhr Dzwillo fort: „Ich bekomme noch eine Arbeit von Ihnen.“ Jelinek, der seinen Doktorvater seit Jahrzehnten nicht gesehen hatte, erwiderte: „Guten Abend, Herr Dzwillo. Nein, das ist nicht Ihr Ernst.“ Aber da täuschte er sich. „Doch doch, Herr Direktor. Das meine ich so.“

Kann man eine Doktorarbeit nach über dreißig Jahren überhaupt wieder aufnehmen? Unter Umständen ja. Während manche Doktoranden sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen um Ergebnisse liefern, wies die Klassifikation der Naididae auch nach 35 Jahren ungelöste Probleme auf. Die Taxonomie war auch 2009 noch ein Kuddelmuddel aus Arten, Unterarten und Variabilitäten. Jelinek besprach sich mit seiner Frau, die ihn ermutigte. Also machte er sich ans Werk. Er holte seine jahrzehntealten Präparate und Protokolle aus dem Keller. Ihm schwebten weitere morphologische Analysen und Chromosomenzählungen vor. Dann begann er, die Literatur zum Thema zu lesen und stellte fest: Es hatte sich einiges getan.


Jelinek suchte die Expertise erfahrener Taxonomen, sprach Walther Traut in Lübeck an, ob er Tipps habe, wie er seine chaetotaxonomischen und karyologischen Methoden optimieren könne. Aber Traut hatte einen anderen Vorschlag: „Es gibt doch heute Barcoding!“ Davon hatte Jelinek noch nie gehört.

Crashkurs in die Gegenwart

In den siebziger Jahren waren Sequenzvergleiche undenkbar gewesen, und jetzt war die Sequenzierung genomischer DNA eine Standardmethode. Die Sache schien umfangreicher zu werden als gedacht. Aber anders würde es nicht gehen. „Mir wurde dann klar, dass ich mich in die PCR einarbeiten musste.“ Und er, der noch nie routinemäßig eine Mikroliter-Pipette in der Hand gehabt hatte, musste bei Null anfangen. Glücklicherweise gab es in Hamburg zwei Biologinnen, die ihm die Technik der PCR beibrachten: Im Naturwissenschaftlichen Zentrum in Mümmelmannsberg. Dorthin fuhr Jelinek jetzt regelmäßig, eine Kühltasche mit Würmern im Kofferraum, 35 Kilometer quer durch Hamburg. „Die haben mich richtig unter ihre Fittiche genommen“, erzählt er. Geduldig erklärten sie ihm Begriffe, die er in 35 Jahren als Biologielehrer bestenfalls am Rande gehört hatte: Aliquot, Agarose, Alignment. Er amplifizierte aus unterschiedlichen Individuen verschiedener Biotope das Gen für die mitochondrial-codierte Cytochromoxidase I, das weltweit Standard ist, um die Art eines Tieres zu bestimmen. Und mit großem Ernst erklärt Jelinek die Probleme, die bei der PCR auftraten: keine Banden, Doppelbanden, Banden falscher Größe.

Doch im Naturwissenschaftlichen Zentrum lernten tagsüber Schüler, so dass er oft nur am späten Nachmittag und abends die Geräte und Maschinen benutzen konnte. „So ging es nicht weiter. Wenn ich wirklich etwas erreichen wollte, brauchte ich ein Labor in der Nähe“, erzählt Jelinek. Und was läge da näher als der eigene Keller? Er fing an, sich einzurichten. Kaufte eine PCR-Maschine, eine Zentrifuge, einen Autoklaven. Einen Kühlschrank, in dem er seinen Würmern den Winter vorspielte, um sie zur Fortpflanzung zu motivieren. Er kaufte DNA-Extraktionskits, Pipetten, Spitzen und Verbrauchsmaterial, Chemikalien für die Histologie und einen Heizpilz mit Rückflusskühler, um die Lösungsmittel zurückzugewinnen.

Die Tiere selbst kultivierte er in seinem Arbeitszimmer: In gläsernen Dessertschälchen im Bücherregal, zwischen Romanen von Stephen King und zoologischer Fachliteratur, direkt neben seinem Schreibtisch mit dem Binokular und dem Mikroskop. „Nur Ethidiumbromid wollte ich nicht im Haus haben.“ Die Gele ließ er nach wie vor im Zentrum laufen. Und einen Sequencer schaffte er auch nicht an. „Die Proben habe ich immer zu einem Anbieter nach Südkorea geschickt, und kurze Zeit später bekam ich die Sequenzen per Mail.“ Und die Stammbaumanalyse? Wenn die Freeware aus dem Internet nicht reichte, durfte er an der Uni Hamburg Software verwenden und mit seinen Sequenzen füttern. Er verglich die molekulargenetischen mit seinen alten Ergebnissen aus den siebziger Jahren und konnte Befunde anderer Arbeitsgruppen zum Teil bestätigen, zum Teil widerlegen.  

Besser spät als nie

Zwei Jahre später sammelte er alle seine Ergebnisse und schrieb sie auf 400 Seiten zu einer Doktorarbeit zusammen, die Disputation absolvierte er vor kurzem an der Uni Hamburg. Sein ehemaliger Doktorvater Dzwillo war zwar nicht mehr prüfungsberechtigt, aber einer der Fragesteller der Disputation und einer der ersten Gratulanten. Und sichtlich stolz. Abschließend geklärt ist die Taxonomie der Naididen noch lange nicht. Aber jetzt weiß Jelinek ein bisschen genauer, welche Tiere sich im Schlick der Elbe tummeln, die wenige hundert Meter von seinem Haus entfernt die letzten Kilometer Richtung Nordsee fließt.



Julia Offe
Bilder: Luis Louro/Fotolia.com, Julia Offe (Jelinek)

Dieser Text ist in Laborjournal 5/2012 erschienen.



Letzte Änderungen: 20.12.2012
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