Editorial

Konkurrenz für Saccharin & Co.

Anfang Dezember wurde in der Europäischen Union ein neuer Süßstoff für Lebensmittel zugelassen, der aus dem süß schmeckenden Kraut Stevia rebaudiana Bertoni gewonnen wird.

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(6. Dezember 2011) Süß und sicher: Nach zwanzig Jahren Zulassungsstreit darf Stevia nun auch in der EU Limo, Eis und Marmeladen zugesetzt werden. Laborjournal sprach mit dem Agrarwissenschaftler Udo Kienle von der Universität Hohenheim über den neuen kalorienarmen Zuckerersatz.

Laborjournal: Herr Kienle, woher kommt Stevia?

Udo Kienle: Stevia rebaudiana Bertoni gehört zu den Korbblütlern und kommt ursprünglich aus dem Dreiländereck Paraguay, Brasilien und Argentinien. Heute liegen 95 Prozent der Anbaufläche in China. Die Pflanze wurde Ende des 19. Jahrhunderts durch den Naturforscher Moisés Bertoni und den Chemiker Ovidio Rebaudi zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieben und erforscht. Bei den Guaraní-Indianern aus dem Nordosten Paraguays war das süßende Kraut aber schon länger bekannt.

 

Welche Bestandteile der Pflanze sind für die Süße verantwortlich?

Udo Kienle: Das sind die sogenannten Steviolglykoside. Sie schmecken süß, weil sie wie gewöhnlicher Zucker an Rezeptoren auf sensorischen Zellen in den Geschmacksknospen der Zunge binden. Im Gehirn wird dieser Geschmacksreiz als „süß“ interpretiert. Steviolglykoside lassen sich aus Blättern und Stängeln der Pflanze chemisch extrahieren. Auf Lebensmittelverpackungen wird der neue Süßstoff übrigens mit der Kennzeichnung E 960 angegeben.

Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat die tägliche Aufnahmemenge für Steviolglykoside begrenzt. Warum?

Udo Kienle: Lebensmittelzusatzstoffe wie Süßstoffe müssen für ihre Zulassung in der EU bestimmten Reinheitskriterien entsprechen und auf ihre gesundheitliche Unbedenklichkeit geprüft sein. Dazu verabreicht man Ratten in Langzeitstudien über zwei Jahre hohe Süßstoffmengen und bestimmt die Dosis, bei der bei täglichem Verzehr keine schädigende Wirkung auftritt. Diese Dosis wird noch einmal durch einen Sicherheitsfaktor, mindestens 100, geteilt. Für die Zulassung der Steviolglykoside hat man sich auf eine 16 Jahre zurückliegende japanische Langzeitstudie und neue Kurzzeitstudien gestützt. So ist die EFSA zu einer unbedenklichen maximalen täglichen Aufnahmemenge von 4 Milligramm Stevioläquivalenten pro Kilogramm Körpergewicht gekommen. Das entspricht 10 Milligramm Steviolglykosiden pro Tag pro Kilogramm Körpergewicht. In den zugelassenen Mengen ist der Süßstoff auf jeden Fall sicher.

Weshalb hat es über 20 Jahre gedauert, bis der neue Süßstoff in der EU zugelassen wurde?

Udo Kienle: Die bisherigen toxikologischen Studien waren nicht ausreichend. Das ist auch eine Geldfrage. Die Getränkefirma Coca Cola und der Süßungsmittelhersteller Cargill haben für neue Kurzzeitstudien und Humanstudien nach eigenen Angaben mehrere Millionen Dollar ausgegeben. Die Getränkeindustrie hat Interesse an neuen Substanzen, mit denen sie ihren Produkten eine angenehme Süße verleihen kann, um den Absatz zu steigern. Es wird allerdings keine Lebensmittel geben, die ausschließlich mit Steviolglykosiden gesüßt werden. Es müssen zusätzlich Zucker oder andere Süßstoffe zugegeben werden, weil die zulässige tägliche Aufnahmemenge an Steviolglykosiden begrenzt ist. Um festzustellen, ob auch höhere Mengen des neuen Süßstoffs ohne Bedenken aufgenommen werden können, hätte man eine neue Langzeitstudie an Ratten zur Toxizität und zum Krebsrisiko mit einer deutlich höheren Tagesdosis machen müssen.

Welchen Eindruck haben Testpersonen von dem neuen Süßstoff?

Udo Kienle: Steviolglykoside schmecken etwa 200 bis 300 mal süßer als Zucker. Das sind aber keine absoluten Zahlen, da die Süßkraft von Süßstoffen bei höheren Konzentrationen im Vergleich zu Zucker abnimmt. Steviolglykoside sind auch Geschmackssache. Testpersonen, die sieben Steviolglykosid-Proben gleicher Reinheit und Zusammensetzung, aber unterschiedlicher Herstellung beurteilen sollten, kamen zu sehr unterschiedlichen Bewertungen. Ein Viertel der Tester mochte keine der sieben Proben, ein Viertel fand alle Proben akzeptabel und die Hälfte der Tester bevorzugte die eine oder die andere Probe.

Braucht es neben den bisher zugelassenen Süßstoffen überhaupt einen weiteren?

Udo Kienle: Ich denke ja. Je mehr Süßstoffe es gibt, umso vielfältiger kann man sie kombinieren und umso geringere Mengen muss man von einer einzelnen Sorte einsetzen. Dadurch werden Süßstoffe insgesamt verträglicher. Verschiedene Süßstoffe haben auch unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten – je nach ihren physikalisch-chemischen Eigenschaften. In Backwaren müssen sie zum Beispiel hitzebeständig, in Limonaden wasserlöslich und säurebeständig sein. Außerdem sind bestimmte Süßstoffe für manche Lebensmittelgruppen zugelassen, für andere nicht. Die hitzestabilen Steviolglykoside dürfen zum Beispiel für industriell hergestellte Marmelade, aber nicht für Lebkuchen verwendet werden. Auch die festgesetzten Höchstmengen schwanken je nach Lebensmittel.

 

 

Interview: Bettina Dupont
Bild: Udo Kienle



Letzte Änderungen: 22.12.2011
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