Editorial

Toxikologie im Dornröschenschlaf

Die regulatorische Toxikologie, die Testmethoden zur Sicherheitsprüfung von chemischen Substanzen beurteilt, habe sämtliche technologischen Entwicklungen verpennt, die in den letzten Jahren die Biologie und Biomedizin geprägt haben, meint Thomas Hartung.

editorial_bild

(14. November 2011) Thomas Hartung, seit 2003 C4-Professor h.c. an der Universität Konstanz, kennt die wissenschaftliche Seite der Toxikologie ebenso wie die regulatorischen Formalia: Bevor er 2009 als Doerenkamp-Zbinden-Stiftungsprofessor in Boston den US-Arm des Centers for Alternativs to Animal Testing (CAAT) übernahm, war er sechs Jahre lang Chef des für die Zulassung neuer Methoden zuständige European Centres for Alternative Methods (ECVAM).

 

Laborjournal: Herr Hartung, Sie sagen, die Toxikologie hätte wissenschaftliche Entwicklungen verschlafen und nun sei ein Paradigmenwechsel nötig. Wer soll was wechseln?

 

Thomas Hartung: Wir benutzen in der regulatorischen Toxikologie, also bei der Sicherheitsbewertung, Methoden, die zum großen Teil vor 60 Jahren entwickelt wurden. Aber uns fehlen die Mechanismen, um veraltete Methoden zeitgemäß auszutauschen. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise haben wir in der Wissenschaft ja einen Wettbewerb der Ideen. Und jetzt, da man diese zuvor nie evaluierten Methoden genauer anschaut, ist man überrascht, wie limitiert deren Aussagekraft ist.

 

Nämlich?

 

Thomas Hartung: Eine der wichtigsten Sorgen in der Bevölkerung ist die Frage, ob Chemikalien in Produkten und Lebensmitteln Krebs auslösen. Die Tests dazu werden in der Regel mit Ratten gemacht. Doch nun stellt man fest, dass die Übereinstimmung der Tests an Maus und Ratte bei nur 57 Prozent liegt. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Wirkung von an Ratten getesteten Substanzen auf den Menschen besser vorhergesagt werden kann. Man muss sich also überlegen, ob es richtig ist, eine Million Euro für den Test einer einzelnen Substanz auszugeben, wenn die Übereinstimmungen zwischen Maus und Ratte schon so gering sind.

 

"Wir sind keine 70 Kilogramm-Ratten!"

 

Wenn man falsche Ergebnisse bekommt, ist es wichtig zu wissen, ob sie falsch-positiv oder falsch-negativ sind.

 

Thomas Hartung: Es sind vor allem falsch Positive. Man geht davon aus, dass 5 bis 20 Prozent aller Chemikalien irgendwie kanzerogen sind. In den Tests sind es aber 53 Prozent! Es gibt auch ein paar falsch-negativ getestete Substanzen, die im Tierversuch nicht krebserregend sind, im Menschen aber Probleme gemacht haben. Beispielsweise die in Schmerzmitteln gängige Kombination von Aspirin, Paracetamol und Koffein wird heute als krebserregend eingestuft. Ein anderes Beispiel ist Arsen, das im Menschen sehr kanzerogen ist. Aber in den Tieren sehen wir die dazu passenden Punktmutationen nicht. Und wir können im Tier bis heute nicht mit Zigarettenrauch Lungenkrebs auslösen.

 

Dabei ist Zigarettenrauch unbestritten die Hauptursache für Lungenkrebs.

 

Thomas Hartung: Wir haben ganz klar Probleme bei der Prädiktivität für den Menschen, und es scheint so, dass wir mit humanen Zellmodellen bei aller Limitation in der Aussagekraft oft mehr an die Realität herankommen als mit Tierversuchen. Sie sind aber auch kein Goldstandard. Jedes Modell ist falsch, aber manche sind nützlich.

 

Jedes Modell ist falsch?

 

Thomas Hartung: Ja. Es geht darum, dass wir verstehen, wie falsch die Modelle sind, und dass wir uns nicht auf einen einzelnen Test verlassen. Ein großer Tierversuch ist meist weniger aussagekräftig als eine Vielzahl von kleinen Tests, die ein biologisches Profil ergeben, was wir mit den neuen Technologien – "-Omics" und Hochdurchsatzanalysen – erstellen können. Da aber kein einzelner Test die Antwort auf alle Fragen gibt, muss man sie sinnvoll integrieren.

 

„Wir müssen die Probleme des 21. Jahrhunderts mit Technologien des 21. Jahrhunderts lösen.“

 

Derzeit müssen neue Methoden aufwändig validiert werden – obwohl die bisher verwendeten Methoden nie evaluiert wurden. Eine solche Validierung kann bis zu zehn Jahre dauern.

 

Thomas Hartung: Es ist richtig, die Validierung muss schneller gehen.

 

Ist das nur eine Frage von Geld und Manpower?

 

Thomas Hartung: Nein, ich denke, man kann oft auch ohne aufwändige Studien validieren. Wie das geht, hat meiner Meinung nach die Evidenz-basierte Medizin vorgemacht. Sie zeigt, dass man, wenn man alle Daten sichtet und die Fragen ausreichend objektiv angeht, durchaus zum Konsens kommen kann. Manchmal heißt der: Wir wissen es nicht. Dazu sollten wir auch in der Toxikologie kommen, ich spreche mich daher für eine Evidenz-basierte Toxikologie aus. Tatsächlich haben wir den ersten Schritt dazu schon unternommen. Als ich noch bei der ECVAM war, haben wir 2005 die retrospektive Validierung eingeführt. Bereits existierende Daten zur Validierung zu nutzen war vorher nicht möglich. Das haben wir mit dem Micronucleus-Test – einem Gentox-Test – gemacht. Anhand der existierenden Daten konnten wir innerhalb von zwei Jahren zu einer Validierung gekommen.

 

Ein gewaltiger Fortschritt und sehr ressourcensparend. Das war hoffentlich nicht nur eine Eintagsfliege.

 

Thomas Hartung: Nein, das passiert jetzt zunehmend. Was aber fehlt, ist die gleiche Form der Transparenz und der Objektivität wie in der Evidenz-basierten Medizin. Die Schwächen der Studien, die verschiedenen Einflussfaktoren müssen klar aufgezeigt werden.

 

Deshalb Ihr Ruf nach der Evidenz-basierten Toxikologie?

 

Thomas Hartung: Ja. 2007 haben wir das erste internationale Forum dazu durchgeführt, im März 2011 die Evidence-based Toxicology Collaboration gegründet, die sich an die Cochrane Collaboration anlehnt. Dies ist eine amerikanische Initiative, die verschiedene regulatorische Einrichtungen, Industrie und andere Stakeholder zusammen bringt, um das zu diskutieren. Zur EuroTox-Tagung 2012 planen wir als Satellitenveranstaltung den Start des europäischen Armes. Und schließlich habe ich den ersten Lehrstuhl für Evidenz-basierte Toxikologie. Wir glauben an dieses Konzept.

 

Es gibt doch aber die Grundlagenforschung in der Toxikologie, die genauso zellulär und molekular ist wie alle andere biologisch-medizinische Forschung. Warum gibt es so wenige validierte Tests und warum sind nur so wenige in der Validierung?

 

Thomas Hartung: Es ist bisher nicht wahnsinnig attraktiv, Labormethoden durch eine langwierige Validierung zu bringen. Das ändert sich aber gerade, denn beiderseits des Atlantiks haben wir das gleiche Problem: Von den rund 100.000 Substanzen in Gebrauchsprodukten wurden nur wenige Prozent toxikologisch getestet. Vermutlich stellen nur wenige Substanzen ein echtes Problem dar, aber die wollen wir finden. Die EU hat mit dem REACH-Gesetz zur toxikologischen Testung von Chemikalien das wohl größte Investment in die Sicherheitsforschung überhaupt gemacht. Aber leider hat man sich erst spät überlegt, wie man überhaupt so viele Substanzen testen kann. Also steckte man viel Geld in die Forschung, 400 Mio. Euro, die aber EU-typisch Bottom-Up auf viele Gruppen verteilt wurden. Das Geld ist in kleinen Initiativen versackt. An neuen Tests ist dabei wenig herausgekommen.

In den USA ging man anders vor, nämlich Top-Down. Hier erarbeitete man auf Initiative der Behörden ein ganz neues Konzept für die Chemikalienprüfung, die Tox21-Allianz. Die EPA hat mit ToxCast ein Programm gebildet, das versucht, dieses Konzept umzusetzen. Zentral organisiert gibt man Aufträge heraus und kauft Methoden ein. Das nationale Zentrum für chemikalische Genomforschung etwa hat Roboter gekauft, die im großen Stil Substanzen prüfen. Jetzt diskutiert man in Kongress und Senat eine mögliche Novelle der Chemikaliengesetzgebung in den USA im Hinblick auf ein REACH-ähnliches Programm. Dafür habe ich viel Sympathie, weil wir zwar oft gesagt haben, REACH ist von der Idee her toll, aber man hat nicht systematisch darüber nachgedacht, welche Konsequenzen das Programm hat. Wie soll man ein System, mit dem man bisher nur 100 oder 200 Substanzen pro Jahr testen kann, auf zigtausend Substanzen ausweiten?

 

Für in vitro-Methoden für Sicherheitsforschung hat man in den USA bisher nicht viel investiert.

 

Thomas Hartung: Stimmt, das geht jetzt erst so richtig los. Hier ist eine richtige Aufbruchstimmung für eine andere Art der Toxikologie. Gerade haben wir eine Deadline für ein Programm mit 140 Millionen US-Dollar zur Entwicklung von Cells-on-a-Chip für die Beurteilung von Medikamentensicherheit. Damit müssen sich die USA nicht hinter der EU-Förderung verstecken.

 

„'Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.' 

Ich denke, dieses Zitat von Victor Hugo beschreibt die jetzige Situation ganz gut.“

 

Was ist eigentlich mit biologischen, pharmazeutisch wirksamen Molekülen, den Biologicals? Wie kann man die testen? Im Tierversuch würde man doch eher Abwehrreaktionen als toxikologische Reaktionen messen, oder nicht?

 

Thomas Hartung: Mehr als die Hälfte aller neuen Medikamente sind humane Proteine oder Antikörper. Das heißt, es gibt jede Menge neue Produkte, die im Tier geprüft werden müssen. Den relevanten Endpunkt, die chronische Testung, kann man nicht machen, weil man nur die Antikörperproduktion messen würde. Denn viele dieser Produkte sind humanspezifisch. Das führt dazu, dass sie aufgrund ihrer speziellen Struktur im Tier gar nicht wirken können. Deshalb findet die Testung im ganz großen Stil an Affen statt. Aber auch das ist nur bedingt eine Lösung. Die Konsequenz davon ist, dass man überlegt, möglichst viele humane Zellsysteme einzusetzen, um solche Biologicals zu testen. Wir bilden gerade eine Arbeitsgruppe zwischen Pharmaindustrie und FDA, um hier Konsens herzustellen, wobei wir als eine Art „honest broker“ auftreten.

 

Honest Broker? Was vermitteln Sie denn?

 

Thomas Hartung: Die FDA tut sich aus formalen Gründen schwer, selber einzelne Firmen zu beraten oder eine Gruppe von Firmen zur Diskussion einzuladen. Deshalb haben wir diese Rolle übernommen. Schon seit diesem Jahr haben wir eine Arbeitsgruppe zur Verbesserung des Refinements von Tierversuchen. Wir haben zwölf Unternehmen zusammengebracht, die sich mit uns und der FDA darüber austauschen, wie man Tierversuche möglichst tierschonend durchführen kann. Denn die Situation ist unglaublich: es gibt viele Dinge – wie der Einsatz von schmerzstillenden Medikamenten – die man nicht tut, weil man Angst hat, dass die Studie später von den Behörden nicht akzeptiert wird und also wiederholt werden muss, was viel Geld und Zeit kostet – time to market. Da zählt jeder Monat. Eine „unwichtige“ Tox-Studie, die das aufhält, ist ein Risiko, das keine Firma eingehen will. Deshalb ist es so wichtig, Konsens darüber herzustellen, was generell akzeptabel ist, so dass dies alle Firmen anwenden können. Das selbe versuchen wir für die Biologicals zu machen.

 

Warum die FDA und nicht die EMEA, die Europäische Zulassungsbehörde? 

 

Thomas Hartung: Weil die USA 67 Prozent des Markts für neue Medikamente stellt. Aber wir hoffen sehr, dass auch die EMEA für eine Zusammenarbeit zu gewinnen ist.

 

Wird die EU von der FDA akzeptierte neuen Methoden übernehmen?

 

Thomas Hartung: Sicher. Die Industrie wird bestimmt keine Testmethode einsetzen, die nur auf einer Seite des Atlantiks akzeptiert ist. In diesem Sinne ist alles, was wir hier tun, transatlantisch. So gibt es ja auch das Center for Alternatives to Animal Testing – CAAT – auf beiden Seiten des Atlantiks, in Konstanz und an der Johns Hopkins University.

 

Wie kam diese Kooperation eigentlich zustande?

 

Thomas Hartung: Ich bin seit 1989 an der Uni Konstanz, seit 2003 habe ich dort eine Professur. Als ich in die USA ging, war uns klar, wie wichtig es ist, eine Brücke über den Atlantik zu schlagen. Und da es an diesen beiden Universitäten je einen Lehrstuhl für Ersatzmethoden gibt, war es eine natürliche Sache, die Brücke dazwischen aufzustellen. Wir haben ein Kompetenznetz aufgebaut und wir verstehen uns auch als Informationskanal. Wir sorgen dafür, dass in europäische Antragsstellungen auch US-Gruppen hineinkommen und umgekehrt.

Zusamenfassend kann man sagen, dass die Zeit für eine neue Idee gekommen ist. Der politische Wille ist auf beiden Seiten des Atlantiks da. Zum erstem Mal kritisiert sich die regulatorische Toxikologie selber und tut nicht so, als sei alles in Butter. Es gibt gute Forschungsförderung trotz wirtschaftlich schwieriger Zeiten. Und einige Industriezweige wie Kosmetik und Chemie haben aufgrund der Gesetzgebung massiv investiert. So wurde in der EU zu Beginn dieses Jahres das SEURAT-1 Programm mit über 50 Millionen Euro aufgelegt, das zur Hälfte von der Industrie bezahlt ist. Das hätte es früher nicht gegeben.

 

 

Interview: Karin Hollricher

 

Foto "Giftig": sijole / photocase.com

Foto Thomas Hartung: www.agilent.co.jp



Letzte Änderungen: 04.03.2013