Editorial

Es gibt keine unkultivierbaren Bakterien! - Interview mit Jörg Overmann

Bakterien, die in der Natur wachsen, sollten es theoretisch auch im Labor tun. Nur gelingt das nicht immer.

editorial_bild

(26. April 2011) Mikroorganismen zu züchten kann einfach sein oder sehr schwer. Das Medium animpfen, in den Brutschrank stellen und abwarten. Wenn sich aber auf der Platte oder im Kolben gar nichts tut, liegt im Budget-begrenzten Laboralltag die Versuchung nahe, eine Bakterienart kurzerhand als nicht-kultivierbar zu deklarieren. Laborjournal sprach mit Jörg Overmann, Direktor der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) in Braunschweig.

Laborjournal: Was halten Sie von der These, dass man die meisten Bakterien im Labor gar nicht kultivieren kann?

Jörg Overmann: Einer meiner Kollegen sagt immer, dass die Nicht-Kultivierbarkeit von Mikroorganismen keine Eigenschaft der Mikroorganismen ist, sondern desjenigen, der versucht, sie zu kultivieren. Die Organismen wachsen ja in der Natur. Wenn man sie im Labor nicht kultivieren kann, bedeutet das, dass man die geeigneten Umweltbedingungen im Reagenzglas noch nicht einstellen kann. In manchen Fällen ist das sicherlich schwierig. Ich hatte einen Doktoranden, der zwei Jahre lang versucht hat ein symbiontisches Bakterium zu isolieren und es schließlich geschafft hat.

Heißt „unkultivierbar“ auch, dass man es nicht richtig versucht hat?

Jörg Overmann: Das heißt es auch. Man muss sich die Zahlen vor Augen halten: Momentan gibt es 8.879 Bakterienarten, die anhand eines Isolates wissenschaftlich beschrieben und durch den  Review-Prozess validiert wurden. Man schätzt, dass es eine Million oder eine Milliarde Bakterienarten gibt – manche behaupten sogar, es seien 1017 Arten. Das heißt wir haben nur einen geringen Bruchteil von dem, was wir in der Natur vermuten, bisher ins Reagenzglas bekommen. Angesichts dieser Zahlen ist es ein Problem der Kapazitäten, alles zu kultivieren. Kultivierung kostet viel Zeit, und es ist oft fraglich, ob in einem Jahr genügend Daten und Material für eine Publikation zusammen kommen. Aus diesem Grunde befassen sich an den Universitäten wenige mikrobiologische Labors mit Kultivierungsversuchen. Außerdem bekommen Sie für solche Projekte nicht so einfach Forschungsmittel, wie für biochemische oder molekulargenetische Untersuchungen. 

Fällt Ihnen ein Beispiel für eine Art ein, die lange als unkultivierbar galt?

Jörg Overmann: In den letzten zwei, drei Jahren gab es mehrfach Erfolge bei der Gruppe der Acidobakterien. Das ist eine dominierende Bakteriengruppe im Boden, die bisher kaum erforscht ist, aber jetzt konnten einige neuartige Vertreter erstmals isoliert werden. Oder die Annamox-Bakterien, die man zumindest in langsam wachsenden Anreicherungskulturen mittlerweile gut ziehen kann. Die Bakterien können Ammonium mit Nitrit zu N2 oxidieren. Diese Reaktion ist relevant für die Abwasserreinigung, zur Entfernung des Stickstoffs, also direkt von großtechnischem Interesse. Es waren immer Forschungsarbeiten, die sich konzentriert mit den natürlichen Umweltbedingungen auseinander gesetzt haben und sehr viel ausprobiert haben.

Können Sequenzierungsdaten bei der Kultivierung helfen?

Jörg Overmann: Nur in begrenztem Maße. Zunächst einmal kann man nur eine grobe Einordnung machen. Beispielsweise, ob es sich um einen grampositiven oder gramnegativen Organismus handelt, oder um einen Angehörigen einer Gruppe, von der die anderen Vertreter als Sulfat-Reduzierer bekannt sind. Aber man erlebt natürlich immer wieder Überraschungen. Eine strikte Korrelation gibt es ebenso wenig bei enger phylogenetischer Verwandtschaft der 16SrRNA-Gensequenzen. Von Genomsequenzen könnte man theoretisch natürlich weitere Eigenschaften ableiten, aber hier sind immer noch dreißig bis vierzig Prozent der gefundenen offenen Leseraster nicht zuzuordnen. Viele physiologische Eigenschaften kann man daher gar nicht ableiten, weil der Datensatz in der Sequenzdatenbank nicht vollständig genug ist.

Finden Sie, dass die moderne Mikrobiologie zu Genetik-orientiert ist und sich wieder mehr der klassischen Kultivierung zuwenden sollte?

Jörg Overmann: Ich würde das nicht so polarisierend ausdrücken. Wir selber versuchen an der DSMZ beides zu kombinieren. Ohne die modernen molekulargenetischen Methoden könnte man nicht so viele neue Bakterienarten beschreiben. Die Kurve der Neupublikationen von Bakterienarten weist einen deutlichen Knick auf: Sie wird ab dem Zeitpunkt steiler, als die Sequenzierungstechnologie so weit war, dass man routinemäßig das 16SrRNA-Gen von Neuisolaten sequenzieren konnte. Ab da ist die Neubeschreibung von Bakterien deutlich schneller geworden. Ich denke, dass die rasante Entwicklung der molekulargenetischen Methoden sehr hilfreich ist. Auch um schnell zu überprüfen, ob man überhaupt das Isolat in den Händen hält, das interessiert. Das konnte man früher nicht so einfach erkennen. Umgekehrt hat sich gezeigt, dass diese neuen Isolate sehr häufig ganz neue biochemische Eigenschaften haben, deren Untersuchung dazu beitragen kann, Eigenschaften von bekannten oder auch pathogenen Bakterien besser zu verstehen. Wir beobachten im Moment natürlich auch eine gewisse Modeströmung, die eine Finanzierung der Molekulargenetik vielleicht etwas bevorzugt. Aber meine feste Überzeugung ist, dass nur beides zusammen die biologische Wissenschaft weiter bringt.



Interview: Valérie Labonté
Bildnachweis (2): iStock/CrackerClips,
                          DSMZ
            



Letzte Änderungen: 04.03.2013