Editorial

Laborgeschichten (6) - Forscher im ewigen Eis

Das Spektakel kündigte sich lange an: Lage um Lage umwuchs das Eis die Schubladen, die sich immer schwerer rausziehen und wieder reinschieben ließen. Die Tür überzog von innen ein krustiger weißer Überzug, der an diesem Morgen die maximale Schichtdicke erreicht hatte – gewaltsames Zudrücken half nicht mehr und auch Eis kratzen war vergebens. Ganz klar, der Gefrierschrank musste abtauen – und zwar sofort.

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(20. Januar 2011) Also alles stehen und liegen lassen, heute gibt’s ein Großexperiment, vergleichbar mit der jährlichen Feuerübung: Keiner hat Lust dazu, aber dennoch müssen alle sofort ihre Arbeit unterbrechen und mitmachen – sonst gibt’s Ärger.

In diesem Fall droht sogar großer Ärger, der -70 Grad Gefrierschrank ist so was wie der Heilige Gral des Labors. In ihm liegen hunderte Röhrchen, Dosen, Schachteln, Flaschen, in denen die Grundlagen für all die Paper, Vorträge, Diplom- und Doktorarbeiten der Arbeitsgruppe gelagert sind: RNA-Sonden, Zellen, Antikörper, Cryo-Schnitte, Protein-Aufreinigungen und in situ-Hybridisierungen.

Erste Hilfsmaßnahmen: Heizung aus, bis das Gefriergut in Sicherheit ist. Styroporboxen zusammensuchen und Eis holen – viel viel Eis. Vor allem aber verzweifelt durchs Haus laufen und um freien Platz in fremden Gefrierschränken betteln. Das übernimmt sogleich Postdoc O., der schon länger einen Anlass suchte, mal bei der hübschen Doktorandin einen Stock höher vorbeizuschauen. Und weil er so hektisch und nervös ist, räumt sie ihm auch gleich eine Schublade frei. Während die anderen die ersten Schachteln nach oben tragen, organisiert O. gutgelaunt noch weiteren Gefrierraum.

Im Labor kämpfen die tapferen Forscher derweil weiter mit dem Gefrierschrank, der seinen Inhalt gar nicht hergeben will. Die wertvollen Gefäße der hinteren Reihen müssen einzeln mit dem Spatel aus dem Eis geborgen werden. Stück für Stück kommt das Gefriergut heraus, Brocken um Brocken kommt mehr Eis zu tage, die eiskalten Finger werden immer unbeweglicher. Auf dem Boden breitet sich eine Überschwemmung aus, alles Wischen ist überflüssig, aufgeweichte Papierhandtücher liegen herum.

Als einige Stunden später der Gefrierschrank leer, sauber und trocken ist, steckt die Reinigungs-Crew ihn wieder ans Netz. Jetzt heißt es Dutzende von Schachteln aus den anderen Gefrierschränken holen und die schlimmste Arbeit angehen: Überflüssiges gnadenlos aussortieren und nur Proben zurück in den Gefrierschrank stellen, die wirklich jemand benutzt. Leichter gesagt, als getan. Was passiert mit den Sachen von G. und S., die lange nicht mehr im Labor arbeiten? A. findet, dass man Eppis von vor sieben Jahren wegwerfen kann, I. will sie aufbewahren. P. will gar nicht ausmisten, sondern künftig eine ganze Schublade für sich allein. Und C. will Schubladen nach Gefäßarten sortieren, um Platz zu sparen.

Nach langen Diskussionen ist der Gefrierschrank um ein Viertel seines Inhalts erleichtert – zum Beispiel um ein Döschen mit der Aufschrift „Rest E. coli Nr. 3, gekratzt, 5/08“. Auch die Schätze der Praktikanten kamen in die Tonne: „Großprakt. 2007, BSA-St.lsg., 10 mg/ml, Y.“, davon gab es ganze sieben 50 ml Röhrchen. Und „FA-70mg-Suc/2001, gelb!“ – was auch immer es ist – braucht niemand mehr (beschlossen mit nur einer Gegenstimme). Am Ende des Tages sind alle erledigt, aber glücklich. Nur F. grummelt der Magen – hoffentlich gab es beim Auslagern keinen versehentlichen Gütertausch, sonst ist die Panik im nächsten Labor vorprogrammiert.

Weil alle ihre Versuche stehen ließen, gibt es für den nächsten Tag einen Haufen Arbeit: O.s Gel ist ausgelaufen, F.s Zellen an der Luft vertrocknet und M.s Zuckergradient hat sich in der ruhenden Zentrifuge wieder gemischt. Aber es kommt noch härter, denn abends schlendert Postdoc D., der den Tag über frei hatte, ins Labor und belehrt: „Ich hab doch gesagt ihr sollt nicht so oft die Tür vom -70 Grad-Schrank aufmachen, damit er nicht so viel Feuchtigkeit zieht!“ – „Na, vielen Dank Herr Oberschlaumeier, hätten wir deinen Rat befolgt, hätten wir bestimmt nie im Leben abtauen müssen. Aber wir hatten auch einen schönen Tag ohne Dich!“

 

 

Valérie Labonté



Letzte Änderungen: 04.03.2013