Editorial

Ein Jungbrunnen in silico

Selbst die phantastischsten Spekulationen bewahrheiten sich gelegentlich, denken Sie nur an Jules Vernes „Reise zum Mond“. Hubert Rehm hat sich von einem anderen Phantasten anstecken lassen.

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Gescannter Geist?

(28. Juni 2010) In Laborjournal 6/2010 wurde das Buch „Niemals alt!“ von Aubrey de Grey vorgestellt. De Grey behauptet darin, es sei in absehbarer Zeit möglich, den Alterungsprozess umzukehren. Man müsse nur geeignete molekularbiologische Techniken entwickeln, z.B. die mitochondriale DNA in den Kern verlagern. In 30 Jahren sei es soweit, jeder, der wolle, könne dann ewig jung bleiben.

Abgesehen davon, dass de Grey sich sowohl im Zeitrahmen als auch überhaupt täuschen kann, ist dies ein geringer Trost für jene, die heute schon siebzig sind. Es gibt deshalb Leute, die sich nach dem Tode einfrieren lassen, in der Hoffnung, mit Anbruch des de Greyschen Zeitalters wieder ins Leben zurückkehren zu können. In den USA sollen schon über 200 Leichen kopfunter wie die Fledermäuse in Edelstahlkanistern mit flüssigem Stickstoff hängen. Kopfunter deswegen, weil bei einer eventuellen Panne in der Stickstoffnachlieferung zuerst die Füße zu faulen anfangen, während der Kopf noch kühl bleibt. Frei nach dem Motto meiner Oma: „Kühler Kopf und warme Füße“.

Sie sehen, es liegen Fallgruben auf diesem Weg zum ewigen Leben. Wer kann schon garantieren, dass über 50 oder 100 lang Jahre regelmäßig flüssiger Stickstoff nachgeliefert wird - über Finanzkrisen, Revolutionen, Kriege hinweg? Zudem haben sich die Klienten nicht als Lebende, sondern als Tote einfrieren lassen. Sie haben also, zusätzlich zu den Alterserscheinungen, einen fatalen Defekt: abgestorbene Hirnareale oder verödetes Herzgewebe. Zum Leben erweckt wird dann - wenn überhaupt – kein Klient, sondern ein Zombie.

Aber vielleicht gibt es noch andere Wege zum ewigen Leben. Überlegen wir einmal.

Was macht den Menschen aus?

1.Seine vollständige genomische DNA-Sequenz

2.Sein Immunstatus, d.h. seine sämtlichen B- und T-Zellklone.

3.Die Verschaltungen seiner Synapsen im Gehirn.

Punkt 1, die individuelle Genomsequenz, kann in einigen Jahren für ein paar Euro (oder wieder Mark?) bestimmt und in silico gespeichert werden. Das gleiche dürfte für Punkt zwei, die B- und T-Zellklone gelten. Hier muss ja nicht jeweils das gesamte Genom, sondern nur ein kleiner Ausschnitt (der z.B. für den jeweiligen Antikörper kodiert) gespeichert werden. Die Crux liegt in Punkt drei. Was den Menschen ausmacht sind seine Erinnerungen, seine Fähigkeiten (z.B. zum Tangotanzen, Autofahren), seine Antriebe und Wünsche. Das materielle Korrelat dazu liegt im Verschaltungsnetzwerk der Nervenzellen, in Synapsen und Axonen. Man kann dies Netzwerk auch „Geist“ nennen. Um ihn, den Geist, zu erfassen müsste man das Gehirn des lebenden Menschen auf Nanometer-Niveau scannen und zwar mit einer Methode, die jedes Axon, alle Verschaltungen und jede Synapse, erfasst. Letztere soweit, dass sich auch die Funktion der Synapse, z.B. Transmitter, Zahl der synaptischen Vesikel und Beladungszustand usw. ergibt.

Ist solch ein Geisterscan möglich?

Zur Zeit ist er nicht einmal vorstellbar und seine Informationsmenge sprengt vermutlich jede heute verfügbare Speicherkapazität. Aber wenn mir einer vor 20 Jahren vorgeschlagen hätte, aus etwas Knochenmehl die genomische Sequenz des Neanderthalers zu bestimmen, hätte ich ihn auch für verrückt erklärt. Jedenfalls: Mit Genomsequenz, Immunstatus und nano-Hirnscan wäre der Mensch vollständig erfasst: Seine Individualität, seine Persönlichkeit, sein Geist. Er könnte jederzeit abgerufen werden und als Bauplan für ein sich entwickelndes Gehirn dienen. Am Ende dieser Entwicklung stünde genau der Mensch, von dem einst der Scan gemacht wurde: In alter Frische und ohne abgefaulte Füße. Und ewig grüßt das Murmeltier!

Wie setzt man den Hirnscan als Anleitung für ein sich entwickelndes Gehirn ein? Ein weiteres Problem, dessen Lösung ich mir nicht einmal vorstellen kann, aber: siehe Neanderthaler! Jedenfalls: Wenn es gelingt, dann kann man den gleichen Menschen, mit (anfangs) den gleichen Gedanken immer wieder herstellen, gleich ob der Träger von einem Lastwagen platt gefahren wurde oder an einem Herzinfarkt starb.

 

Hubert Rehm



Letzte Änderungen: 04.03.2013