Editorial

Lobenswerte Bemühungen

Auf vielfachen Wunsch und wegen der großen Resonanz auf Ulrich Kutscheras Artikel in Laborjournal 6/2008 stellen wir den Text nun online.

(28. Juli 2008) Es ist ungewöhnlich, dass im Laborjournal Geisteswissenschaftler schreiben. Im Fall von Florian Mildenberger haben wir eine Ausnahme gemacht: Er hatte eine interessante These (Mildenbergers Beitrag ist hier zu lesen). Da wir ein Blatt der Diskurse sind, haben wir zwei Evolutionsbiologen gebeten, einen Kommentar abzugeben. Der eine lehnte entrüstet ab ("Das ist Bullshit!"), Ulrich Kutschera jedoch erklärte sich bereit, Mildenberger zu antworten.

Als Labor-Physiologe und Evolutionsbiologe, der seit einiger Zeit neben einem Haupt-Dienstort in Deutschland regelmäßig in den USA tätig ist, erstaunt es mich immer wieder, mit welcher Selbstverständlichkeit hier einzelne "Geistes"-Wissenschaftler über die Prinzipien und Erkenntnisse der Life Sciences urteilen. Im englischsprachigen Raum wird unterschieden zwischen den Sciences (Naturwissenschaften) und den Humanities ("Humanitäts-Studien"). Diese beiden Wissensbereiche kann man auch überspitzt als "Real- und Verbalwissenschaften" bezeichnen. Während der Naturwissenschaftler real existierende Dinge erforscht (vom sub-atomaren Teilchen, wie dem Elektron, bis hin zur Biodiversität von Regionen, zum Beispiel Lebensgemeinschaften im tropischen Regenwald), beschäftigt sich der Verbalwissenschaftler bevorzugt damit, das, was andere über reale Sachverhalte gedacht und geschrieben haben, gegeneinander abzuwägen, neu auszulegen und zu kommentieren. Man denke an die zahlreichen deutschen "Universitäts-Philosophen", deren Hauptaufgabe darin zu bestehen scheint, das, was originäre Denker (wie etwa Arthur Schopenhauer) über die Natur geschlussfolgert haben, neu zu editieren beziehungsweise zu kommentieren.

Eine Ausnahme bilden die Biologiehistoriker. Die führenden Vertreter dieses Faches der Humanities (Thomas Junker, Uwe Hoßfeld, Olaf Breidbach, Ekkehardt Höxtermann und andere) haben ein naturwissenschaftliches Studium absolviert und somit unsere Denk- und Arbeitsweise im Rahmen aufwändiger Labor-Praktika kennen gelernt. Sie wissen somit aus eigener Erfahrung, wie mühselig die Erarbeitung reproduzierbarer Daten sein kann, wie schwierig sich die Hypothesen- und Theorienbildung oft darstellt und, was das Wichtigste ist, dass immer solide Fakten an der Basis aller theoretischer Deduktionen zu stehen haben.

Während in Deutschland die Verbal- und Realwissenschaften getrennte institutionelle Bereiche besiedeln, gibt es zum Beispiel an der kalifornischen Stanford University seit langer Zeit eine "Fakultät für Geistes- und Naturwissenschaften" (School of Humanities and Sciences). Diese H & S bildet das Kernstück der US-Elite-Hochschule – nahezu achtzig Prozent aller Stanford Undergraduate Degrees und über vierzig Prozent aller Doktortitel (PhDs) werden von dieser größten Fakultät verliehen. Mit Humanities für Geschichte, Philosophie, Theologie, Kunst und so weiter und Sciences-Departments für Biologie, Chemie, Physik sowie zahlreicher finanziell unabhängiger assoziierter Forschungs- und Lehreinrichtungen (wie die Carnegie Institution und die Hopkins Marine Station) werden in dieser Mega-Fakultät alle relevanten Wissensbereiche von führenden Fachwissenschaftlern in Lehre und Forschung vertreten.

Dennoch habe ich es während meiner Forschungsaufenthalte und Seminarvorträge nie erlebt, dass sich ein Historiker oder Philosoph aus den Humanities in die inneren Angelegenheiten und Fragestellungen der Sciences einmischte. Zumindest in Stanford herrscht Konsens darüber, dass Theologen, Philosophen und Kunsthistoriker keine Scientists sind, sondern einer andersartigen, jedoch gleichwertigen Tätigkeit nachgehen.

In Deutschland hat man dagegen oft den Eindruck, dass sich Verbalwissenschaftler, die sich mit menschlichen "Geistes-Produktionen" befassen, immer wieder über jene Personen erheben wollen, die unter Einsatz enormer persönlicher und technischer Aufwendungen reale Phänomene der Natur erforschen: diese Scientists produzieren über Research Papers und zusammenfassende, auf diesen basierende Review Articles die Primär- und Sekundärliteratur, auf der letztendlich unser gesamter verlässlicher, technologisch verwertbarer Wissensschatz aufbaut. Der von manchen Geisteswissenschaftlern produzierten meist in Buchform verbreiteten Tertiärliteratur kommt bei weitem nicht dieselbe Bedeutung zu.

Der deutsche Stachel der Evolution

Auf den vorhergehenden Seiten (Laborjournal 6/2008, Seiten 30 und 31) hat sich der "Ghost Scientist" Florian Mildenberger in dem Artikel "Steter Stachel fördert die Evolution" bemüht, historische Zusammenhänge zwischen dem Kreationismus (wörtlich verstandener biblischer Schöpfungsglaube) und dem Vitalismus (der Glaube an das Wirken übernatürlicher Kräfte im Organismus) darzustellen. Dieses Ansinnen ist im Prinzip lobenswert und gut. Analysiert man den Aufsatz genauer, so fallen allerdings einige Dinge auf, die für sich in die Naturwissenschaften einmischende Soziologen, Politologen, Theologen, Philosophen und so weiter typisch sind.

Zunächst ist es erfreulich, dass sich Mildenberger von den Kreationisten distanziert – dies ist für Vertreter der reinen Verbalwissenschaften eher unüblich. "Warum sollte man denn nicht übernatürliche Wirkfaktoren (man denke an die Akte des "Intelligenten Designers") zulassen?", lautet deren immer wieder formulierte Frage. Zu den Geistesprodukten des Homo sapiens zählen ja auch imaginäre (biblische) Götter und Designer, und für Verbalwissenschaftler, die nicht dem Zwang einer experimentellen Verifizierung unterliegen, sind diese Begriffe gedanklich gleichwertig mit dem eines Butterbrotes oder Straßenbesens – jedenfalls so lange sie am Schreibtisch sitzen.

Dass in den Realwissenschaften nur Dinge relevant sind, die sich mit unserem Methodenarsenal nachweisen lassen, sollte man im naturwissenschaftlichen Studium erlernt und danach verinnerlicht haben. Wer kein Studium absolviert hat, sollte sich auf den so genannten "gesunden Menschenverstand" verlassen. Viele große Naturforscher ohne philosophisch-wissenschaftstheoretische Interessen haben das getan: Es wäre ihnen nicht im Traum eingefallen, subjektive, übernatürliche Glaubensinhalte in die naturwissenschaftliche Theorienbildung aufzunehmen.

Im Beitrag von Mildenberger fällt zunächst die Wortwahl auf: Der Autor spricht von "Darwins Evolutionstheorie", dem "Darwinismus", den (Anti)-"Darwinisten", der "Evolutionslehre" und den "Evolutionstheoretikern". Diese Terminologie zeigt, dass die Kreationisten über ihre medienwirksamen "Geistesprodukte" (Bücher, Videos, Internetseiten) beneidenswert gute Öffentlichkeitsarbeit geleistet haben: Der Allgemeinbevölkerung (das heißt den Nicht-Spezialisten) wurde mit Erfolg vorenthalten, dass es seit 1942 die Wissenschaftsdisziplin Evolutionsbiologie gibt und dass sich Charles Darwins klassisches Fünf-Theorien-System von 1859 über August Weismanns Neodarwinismus (circa 1890) und die Synthetische Theorie (circa 1950) zur Erweiterten Synthese (seit 2000) entwickelt hat (Kutschera, U. (2008) Evolutionsbiologie. 3. Auflage. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart). Die moderne Evolutionsbiologie ist somit ein Theoriensystem, das kilometerweit über Darwins rein makro-organismisch ausgerichtete Vorstellungen hinausgewachsen ist. Vom "Darwinismus" oder einer "Evolutionslehre" ist in der laufenden Fachliteratur (Zeitschriften wie Evolution, J. Evol. Biol., Trends Ecol. Evol.) nichts zu lesen.

Naturwissenschaftler sprechen in den Evolutionary Sciences eine eigene Sprache. Man hat leider den Eindruck, als würden die zum Thema Evolution schreibenden "Ghost Scientists" nicht einmal die Titel unserer wichtigsten zwanzig Fachjournale kennen, geschweige denn sie lesen. Wäre dem so, würden sie nicht noch heute die Begriffe der Biologie des 19. Jahrhunderts (und der modernen Kreationisten) verwenden.

Lebenskräfte und Spieldosen

Die Kernthese von Mildenberger lautet, dass letztlich die religiös geprägten Evolutionsgegner (Anti-Darwinisten) den Erkenntnisfortschritt in der Evolutionsforschung vorangebracht hätten. Der Autor spricht von "Intelligent Design-Forschern", denen man Respekt zollen solle. Hierzu ist zu sagen, dass man die geglaubten übernatürlichen Akte eines "intelligenten, männlichen gasförmigen Wirbeltiers" nicht nach naturwissenschaftlichen Prinzipien erforschen kann, so dass Mildenbergers Annahme, es gäbe auf diesem Gebiet Ernst zu nehmende, überprüfbare Konzepte, nicht korrekt ist.

Die allgemeine Schlussfolgerung, die Anti-Darwinisten hätten etwas Konstruktives zur Entwicklung der "Erweiterten Synthetischen Theorie" beigetragen, ist durch keine mir bekannten historischen Fakten belegbar.

Mildenbergers zweite These, die im Prinzip besagt, die Neovitalisten hätten bei der Ausformulierung der "Synthetischen Theorie" der 1940er Jahre indirekt mitgewirkt, ist ebenfalls durch keine mir bekannten Dokumente zu untermauern.

Betrachten wir den Vitalismus in der Pflanzenphysiologie, so wird deutlich, dass hier der Erkenntnisfortschritt über Jahrzehnte hinweg durch Glaubensbekenntnisse behindert wurde. So wurde im 19. Jahrhundert das noch heute im Öko-Landbau verbreitete Dogma einer nicht ergründbaren, übernatürlichen Lebenskraft in Lehrbüchern behandelt. Ohne die Leistungen des Botanikers Julius Sachs (1832 – 1897) und seines Kollegen Wilhelm Pfeffer (1845 – 1920) hätte sich die Pflanzenphysiologie kaum zu einer induktiven Naturwissenschaft entwickelt.

Pfeffer brachte die Unsinnigkeit des Vitalismus-Glaubens in einem Zitat aus dem Jahr 1904 auf den Punkt: "Will man aber unser Unvermögen, das Getriebe des Lebens zu durchschauen, als einen zureichenden Grund für die Forderung einer Lebenskraft zu Felde führen, so muss man auch dem Australneger die Berechtigung zugestehen, für die ihm gänzlich unverständliche Spieldose oder Uhr eine besondere unbegreifliche Kraft anzunehmen". Für unsere Soziologen und Politologen: der Physiologie Wilhelm Pfeffer war kein "Rassist": Seine Bezeichnung der Ureinwohner Australiens war damals in Deutschland üblich.

Fazit: Die Bemühungen mancher "Geistes"-Wissenschaftler, Erkenntnisse der Biologie aus ihrer Perspektive zu bewerten, sind lobenswert. Diese Schriften sollten allerdings auf den mühselig erarbeiteten Fakten der Life Sciences basieren, denn "Nichts in den Geisteswissenschaften ergibt einen Sinn außer im Lichte der Biologie" (frei nach T. Dobzhansky). Zur Vertiefung dieser Schlussfolgerung verweise ich auf das Buch "Einführung in (natur-)wissenschaftliches Denken" von Hans Mohr, ausgewiesener Real- und Verbalwissenschaftler, wodurch seine theoretischen Betrachtungen auch für "Labor-Biologen" von großem Nutzen sind.



Ulrich Kutschera

Institut für Biologie, Universität Kassel




Letzte Änderungen: 01.09.2008