Editorial

Wer wird hier von der Industrie bezahlt?

Sind Handystrahlen eine Gefahr? Eine Studie von Rüdiger et al. behauptet, dafür Hinweise gefunden zu haben. Der Bremer Biologe Alexander Lerchl findet diese Studie jedoch äußerst mangelhaft.

(25.04.2008) Mit einer Ausnahme hat jeder meiner Bekannten ein Händi, manche sogar zwei. Die Ausnahme bin ich. Der Grund dafür ist nicht Angst vor den elektromagnetischen Feldern des Geräts oder der Basisstationen, sondern die Abneigung gegen einen Apparat, der es jedermann ermöglicht mich jederzeit zu stören: das Händi mindert meine Selbstbestimmung und stiehlt meine Zeit. Soviel zu meiner Einstellung zu Händis.

Ein Drittel der Bevölkerung über 14 Jahre hält Händis bzw. die Mobilfunkstationen für gesundheitsschädigend (infas). In Internetforen (z.B. Mobilfunk Bürgerforum) und Broschüren (z.B. "Die Fälscher. Mobilfunkpolitik und Forschung", "Generation Handy - grenzenlos im Netz verführt") wird sogar behauptet, Händis würden Krebs auslösen. Wissenschaftliche Studien hätten dies nachgewiesen, und diese Studien würden unterdrückt. Wissenschaftliche Untersuchungen dagegen, die auf eine Harmlosigkeit des Mobilfunks hinwiesen, seien von der Mobilfunkindustrie gekauft, ihre Verfasser bestochen worden.

Dass Forscher von der Industrie gekauft werden, um die Gefahren ihrer Produkte zu verharmlosen, hat es tatsächlich gegeben und gibt es vermutlich immer noch. Ein Beispiel ist die Zigarettenindustrie. Thilo Grüning von der London School of Hygiene & Tropical Medicine hat nachgewiesen, dass die Tabakindustrie leitende Wissenschaftler zu gewinnen versuchte, um die Forschung über die Gefahren des Passivrauchens in ihrem Sinne zu beeinflussen. In Deutschland war der 1975 vom "Verband der Cigarettenindustrie" gegründete "Forschungsrat Rauchen und Gesundheit" die Drehscheibe dieser Aktivitäten. Er rekrutierte einflussreiche deutsche Klinikprofessoren und verteilte Millionen an der Tabakindustrie genehme Forscher und vor allem an die eigenen Mitglieder. Manche Tabakfirmen sprachen auch einzelne Forscher persönlich an. Nach Spiegel (49/2005): "Anfangs verlangte "Big Tobacco" Untersuchungen, um die angebliche "Diskriminierung" des Rauchers in der Gesellschaft bekämpfen zu können. Dann wollte man Ergebnisse, um leichtere Zigaretten besser vermarkten zu können. Schließlich drängelte man die Forscher, die Gefahren des Passivrauchens abzustreiten."

Ob auch die Mobilfunkindustrie derartige Praktiken betreibt, dafür liegen mir keine Unterlagen vor. Wenn, dann ist sie erfolgreich: Der überwiegende Anteil wissenschaftlicher Untersuchungen über die Gefahren des Mobilfunks konnte keine gesundheitliche Schädigung feststellen. Doch wäre eine solche Schädigung auch schwer verständlich denn die auftretenden Energien sind zu niedrig, um z.B. kovalente Bindungen in DNA-Strängen aufzubrechen: Es gibt keinen biophysikalischen Mechanismus, der zu einer Schädigung führen könnte.

Auf Jubel bei Mobilfunkgegnern stieß daher eine Studie, die 2005 von der Wiener Arbeitsgruppe von Hugo Rüdiger veröffentlicht wurde (Diem et al., 2005, Nonthermal DNA breakage by mobile phone radiation (1800 MHz) in human fibroblasts and transformed GFSH-R17 rat granulosa cells in vitro. Mutat Res 583:178-183). Rüdiger, geboren 1936 in Dresden, ist Arbeitsmediziner und seit Oktober letzten Jahres emeritiert. In Diem et al. behauptet er, das die bei Händis verwendeten GSM Frequenzen zu DNA-Brüchen führen können. Nachgewiesen wurde das mit dem Komet-Assay.

Bei diesem Assay werden Zellen auf einen Objektträger gegeben, in eine Agarosematrix eingebettet, lysiert, einer horizontalen Elektrophorese unterworfen und die DNA schließlich mit Ethidiumbromid gefärbt. Intakte genomische DNA ist zu groß, sie wandert nicht ins Gel. Zellen dagegen, deren DNA Strangbrüche aufweist, entwickeln bei der Elektrophorese einen Kometenschweif von DNA-Bruchstücken. Das Ausmaß des Kometenschweifs erfassten Diem et al. halbquantitativ in Klassen: In Klasse A werden die Anzahl der Zellen ohne bzw. fast ohne Schweif gesammelt und mit einem Kalibrierungsfaktor von 2,5% (Anteil des Schweifs an der gesamten DNA) versehen, es folgt Klasse B mit einem Kalibrierungsfaktor von 12,5 % usw. bis Klasse E, deren Zellen die längsten Schweife und damit auch den höchsten Kalibrierungsfaktor von 97,5% haben. Klasse und Kalibrierungsfaktor geben also in etwa die Länge des Schweifes und damit die Zahl der Strangbrüche wieder. Um den Zustand der genomischen DNA einer Zellkultur/Petrischale in eine Zahl zu fassen, teilten Diem et al. manuell mit einem Fluoreszenzmikroskop unter 400-facher Vergrößerung 500 Zellen eines wie oben behandelten Objektträgers in die obigen Klassen ein (insgesamt lagen auf dem Objektträger ca. 30 000 Zellen einer Petrischale). Aus den Zellzahlen in den Klassen und den Kalibrierungsfaktoren berechneten sie den sogenannten Kometenschweiffaktor: Die Summe über die Produkte (Zahl der Zellen x Kalibrierungsfaktor) dividiert durch 500 gibt den Kometenschweiffaktor der Zellen auf diesem Objekträger bzw. der entsprechenden Petrischale. Der Kometenschweiffaktor ist also ein Schätzwert für die Zahl der Strangbrüche der Zellen einer Zellkultur. Pro Experiment wurden drei Kometenschweiffaktoren, also die Werte von drei Objektträgern/Petrischalen, bestimmt, und davon Mittelwert und Standardabweichung berechnet. Die Ergebnisse von Diem et al. konnte Günter Speit vom Universitätsklinikum Ulm nicht reproduzieren (Speit et al., 2007, Mutat Res 626: 42-47). Dennoch erschien kürzlich von der Gruppe von Rüdiger eine weitere Publikation, in der behauptet wird, auch UMTS Frequenzen könnten bei menschlichen Fibroblasten zu DNA-Strangbrüchen führen und dies bei Energien, die weit unter dem Grenzwert der spezifischen Absorptionsrate von 2 W/kg liegen. Der Artikel erschien in der Springer Zeitschrift Int Arch Occup Environ Health (2008, 81, 755-767): Schwarz et al., Radiofrequency electromagnetic fields (UMTS, 1,950 MHz) induce genotoxic effects in vitro in human fibroblasts but not in lymphocytes. Als Autoren zeichneten Claudia Schwarz, Elisabeth Kratochvil, Alexander Pilger, Niels Kuster, Franz Adlkofer und Hugo Rüdiger. Die Arbeit scheint eine Fleißleistung ersten Ranges zu sein: Allein für Tabelle 2 mussten 30 000 Zellen abgeschätzt und eingeordnet werden. Dies alles wurde von Elisabeth Kratochvil, vormals Diem, geleistet. Die Experimente wurden über die ITIS-Stiftung in Zürich doppelt verblindet.

Anfang April ging bei Laborjournal anonym ein Manuskript des Bremer Biologen Alexander Lerchl zu, das in der Zeitschrift Int Arch Occup Environ Health erscheinen sollte und inzwischen auch erschienen ist. Lerchl ist Mitglied der Strahlenschutzkommission des Bundesumweltministeriums und untersucht seit Jahrzehnten die biologischen Wirkungen elektromagnetischer Felder (EMF). Lerchl hat auch die Broschüre "Macht Mobilfunk krank?" verfasst. Lerchl hatte sich die Arbeit von Schwarz et al. genauer angeschaut und kommt in seinem Manuskript zu dem Schluss: "The critical analysis of the data given in the figures and the tables further-more reveal peculiar miscalculations and statistical oddities which give rise to concern about the origin of the reported data.” Lerchl bemängelt unter anderem folgendes:
  • Die Variationskoeffizienten der Kometenschweiffaktoren von Schwarz et al. liegen bei durchschnittlich 2,9% und überschreiten nie den Wert von 5%. Das sei: "truly remarkable for this kind of biological experiment with a huge number of possible confounders and methodological inaccuracies, among them differences in the cells' status and cycle, possible differences in cell culture conditions (from at least 15 independently performed experiments), differences in exposure to EMFs and UV, variations during electrophoresis and staining, and most importantly, differences in microscopic examination and manual classification.”
  • Noch erstaunlicher sei, dass die Variationskoeffizienten bei hohen Kometenschweiffaktoren (also bei EMF-exponierten Zellen und den positiven Kontrollen) mit 2,6 und 1,2% niedriger seien als bei den scheinexponierten Zellen oder den negativen Kontrollen (3,9 bzw. 4,1%). Das sei deswegen seltsam, weil schon die Variationskoeffizienten der spezifischen Adsorptionsraten bei 26% lägen. Die Variationskoeffizienten in der Replikationsstudie von Speit et al., die die gleichen Zellen verwendeten wie Schwarz et al., lägen bei 30 bis 40%.
  • Die interindividuellen Unterschiede der Werte für die Kometenschweiffaktoren widersprächen zuvor publizierten Daten von Rüdigers Gruppe.
  • Der Variationskoeffizient für die Zahl der Zellen in Klasse E ist für die negativen Kontrollen und die scheinexponierten Zellen mehr als zehnmal so groß wie der Variationskoeffizient der Kometenschweiffaktoren. Dabei sollten die Kometenschweiffaktoren (wegen der hohen Kalibrierungsfaktoren) maßgeblich von der Zahl der Zellen in Klasse E abhängen.
  • Die Summen der Zahlen in den fünf Klassen in Tabelle 2 des Papers müssten nach Adam Riese immer die Zahl 500, also die Zahl der Zellen, ergeben. Bei den positiven und negativen Kontrollen werde aber regelmäßig von dieser Zahl abgewichen (z.B. 502,5 oder 513 oder 514,6).
  • Schwarz et al. erklären ihre niedrigen Standardabweichungen mit der hohen Zahl (500) der untersuchten Zellen: "Due to the scoring of 500 cells, being about ten times the cells usually processed by computeraided image analysis, standard deviations become very low.” Die 500 Zellen dienen jedoch nur zur Bestimmung des Kometen-schweiffaktors der Zellen eines Objektträgers bzw. einer Petrischale. Wenn man statt 50 Zellen 500 nimmt, wird der Wert des einzelnen Objektträgers genauer bestimmt, auf die Variation zwischen den drei Objektträgern jedes Experimentes (z.B. bedingt durch die unterschiedliche spezifische Absorbtionsrate) hat dies jedoch nur geringen Einfluss. Hätte man mehr Objektträger ausgezählt und hätte man auch nicht notwendigerweise eine niedrigere Standardabweichung erhalten, sondern einen genaueren Wert derselben. Nicht die Standardabweichung, sondern der Standardfehler nimmt mit zunehmender Zahl unabhängiger Experimente ab.
Weitere Argumente finden Sie in Lerchls Manuskript (siehe "Alexander Lerchl: Zweifelhafte Statistik in Händi-Studie") und im Interview mit Herrn Lerchl (siehe unten).

Wir haben vom Leiter der Studie, Hugo Rüdiger, eine Stellungnahme eingeholt (erstaunlicherweise war er nur über Händi erreichbar). Danach seien Lerchls Kommentare zum Teil ungültig. Seine statistischen Argumente könnten möglicherweise ("may not change") die prinzipiellen Schlussfolgerungen von Schwarz et al. nicht ändern. In einer Tabelle zählt Rüdiger über 30 Publikationen auf, die eine genotoxische Aktivität von Radiofrequenz-Elektromagnetischen Feldern nachgewiesen hätten. Er gibt allerdings zu, dass es auch Studien gäbe, die keinen Effekt nachweisen konnten. Zudem konnten manche der Studien, die eine genotoxische Aktivität nachgewiesen haben wollten, nicht reproduziert werden. Rüdiger legt nahe, dass genotoxische Effekte von Radiofrequenz-EMF über oxidative Effekte, z.B. Radikale, vermittelt werden könnten, wobei er offen lässt, wie Photonen, die zu schwach sind, um einen DNA-Strangbruch herbeizuführen, Radikale bilden können. Was die niedrigen Standardabweichungen betreffe, so hätte seine Gruppe schon immer niedrige Standardabweichungen im Komet-Assay gehabt. Auch drei andere Gruppen könnten solch niedrige Werte vorweisen. Wenn Lerchl auf frühere Daten aus Rüdigers Gruppe verweise, die ebenfalls hohe Standardabweichungen aufwiesen, so habe es sich damals um interindividuelle Untersuchungen gehandelt. Des weiteren sei der hohe Variationskoeffizient der E-Zellen in negativen und scheinexponierten Kontrollen keineswegs erstaunlich sondern zu erwarten, da E-Zellen in diesen Kontrollen selten seien. (Lerchl allerdings fand nicht dies erstaunlich, sondern die Tatsache, dass die u.a. mit den E-Zellen berechneten Variationskoeffizienten der Kometenschweiffaktoren so niedrig seien, H.R.). Rüdiger meint weiter, es sei nicht immer klar, woher Lerchl seine Daten nehme, z.B. die 14,6 Zellen (gemeint ist die Summe der Zellen über alle Klassen in Tabelle 2, die von der Zahl 500 abweicht. 514,6 Zellen erhält man aus der Quersumme der fünften Zeile von unten, H.R.). Rüdiger wirft Lerchl weiter vor, dass er nicht die Rohdaten angefordert habe. Weitere Argumente von Rüdiger finden Sie in seiner Erwiderung (siehe unter "Rüdiger sagt: Händi Studie in Ordnung"). Rüdiger kommt zu dem Schluss: "the critical comments concerning the publication by Schwarz et al. are largely based on an incorrect and perfunctory consideration of relevant publica¬tions in the field. The statistical points being made do neither give reason to doubt the validity of the data nor to modify the conclusions of the paper by Schwarz et al.”

Bei meinen Recherchen wurde mir mehrfach nahegelegt, Alexander Lerchl sei ein Lobbyist der Mobilfunkindustrie. Ich konnte dafür keine Anhaltspunkte finden. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber folgendes: Der zweite Seniorautor der Studie, Franz Adlkofer, ist Mitglied des Stiftungsrates und Geschäftsführer der vom Verband der Zigarettenindustrie gegründeten und (nach Adlkofer bis 2001) finanzierten Verum-Stiftung, der Nachfolgeorganisation des Forschungsrates "Rauchen und Gesundheit". Nach Thilo Grüning (Stern Interview vom 16. Dez. 2005) betreibt auch "Verum" Forschung, "die von den Gesundheitsschäden durch Rauchen ablenken soll, die andere Ursachen für Krebs aufzeigen will." Grüning hält die Händistrahlung für solch ein Ablenkungsfähnchen. Der Nichtraucher und Händibenutzer Adlkofer war auch von 1976 bis 1992 Leiter der wissenschaftlichen Abteilung des Verbandes der Zigarettenindustrie. Im Spiegel 49/2005 war zu lesen: "Franz Adlkofer, der Organisator der deutschen Tabakforschung, habe seinen Kollegen in USA versichert, dass eine Studie über Nikotin als Krebs-verursacher "verheimlicht", eine andere Studie "garantiert nicht veröffentlicht" würde." Franz Adlkofer sagte zu Laborjournal, er sei jetzt keineswegs auf der Seite der Zigarettenindustrie, er sei vielmehr nur auf seiner Seite. Zu Schwarz et al. habe er Diskussionen und Geld beigesteuert. Auch an der Datenauswertung sei er beteiligt gewesen. Adlkofer steht hinter der Erwiderung seines Coautors Rüdiger. Er hätte sogar eine schärfere Formulierung gewählt. Die Diskrepanz zwischen der Aggressivität Lerchls und seinen Argumenten sei unverständlich groß.





Siegfried Bär

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Letzte Änderungen: 04.08.2008