Editorial

Eroberung der
dritten Dimension

(27.03.2023) Um ihren Zellen eine möglichst naturnahe Umgebung bieten zu können, setzen Forscher auf sulfatierte Hydrogele und Silikon-Gerüststrukturen.
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Zellkulturen sind ein unverzichtbares Werkzeug in der biomedizinischen Forschung: Nicht nur für die Aufklärung der Ursachen und Mechanismen komplexer Erkrankungen – auch Medikamente werden oft zuerst an kultivierten Zellen getestet. Allerdings bieten zweidimensionale Kulturen den Zellen ganz andere Wachstumsbedingungen als natürliche Gewebe oder Organe. Viele Ergebnisse aus Zellkulturen sind deshalb nicht auf Gewebe übertragbar, und manche Vorgänge lassen sich gar nicht erst untersuchen. Das macht Tierversuche notwendig, die nicht nur aufwendig und teuer, sondern auch ethisch bedenklich sind. Eine Alternative bieten Kultursysteme, die es Zellen ermöglichen, dreidimensional zu wachsen und im besten Fall komplexe Organ-ähnliche Strukturen zu bilden. Ansätze dazu gibt es viele, denn die Lösung muss immer auf die spezifischen Bedürfnisse unterschiedlicher Zelltypen und Fragestellungen abgestimmt sein.

Editorial

Die Umgebung entscheidet

In Dresden entwirft Carsten Werner mit seinem Team vom Center für Regenerative Therapien der Technischen Universität maßgeschneiderte Gele, in denen sich künstliche Gewebe entwickeln sollen – zum Einsatz bei regenerativen Therapien oder als Modellsysteme zur Erforschung von Krankheiten. Insbesondere Krebserkrankungen lassen sich in herkömmlichen Zellkulturen schlecht untersuchen, weil das Verhalten von Krebszellen sehr stark von der Interaktion mit ihrer Umgebung abhängt.

Diese sogenannte Tumor-Mikroumgebung spielt eine entscheidende Rolle für die Progression einer Krebserkrankung, kann aber experimentell nur schwer untersucht werden. Sie wird insbesondere von der extrazellulären Matrix geprägt, aber auch Krebs-assoziierte Fibroblasten, Endothelzellen, Fettzellen und Immunzellen tragen ihren Teil bei. Im Verlauf der Krankheitsprogression – also während der Tumor wächst und möglicherweise aggressiver und invasiver wird – kann die Tumor-Mikroumgebung ihre Eigenschaften verändern. So ist das Gewebe um einen Tumor typischerweise steifer als gesundes Gewebe, speziell bei besonders aggressiven Tumoren. Verantwortlich hierfür sind Fibroblasten, die vermehrt Typ-I-Collagen produzieren. Ihre Aktivität korreliert deshalb mit einer schlechten Prognose.

Steif macht Stress

Das Wachstum im steifen Gewebe löst bei Tumorzellen mechanischen Stress aus, der über Mechanosensoren wie Integrine wahrgenommen wird und Signalwege anschaltet, die wiederum wichtige Prozesse wie Proliferation, Migration und Invasion beeinflussen. In herkömmlichen 2D-Zellkulturen lässt sich dieser Zusammenhang kaum untersuchen, weil sich dort nur wenige Zell-Zell-Kontakte ausbilden und mechanischer Stress kaum zum Tragen kommt.

Stattdessen können Tumorzellen in ein Gel aus Bestandteilen der extrazellulären Matrix eingebettet werden und dort dreidimensionale Strukturen bilden. Diese Gele enthalten Collagen und Extrakte der Basalmembran. Letztere können jedoch in Zusammensetzung und Qualität variieren und sie sind in ihren physikochemischen Eigenschaften nur schwer einstellbar: Verändert man über ihren Anteil beispielsweise die Steifigkeit des künstlichen Gewebes, verändern sich gleichzeitig auch andere Eigenschaften, die das Verhalten der Krebszellen beeinflussen können. Dies lässt sich verhindern, indem dem Gel ein biologisch inertes und nicht abbaubares Polymer hinzugefügt wird. Alginate beispielsweise werden von Säugetier-Proteasen kaum abgebaut und lassen sich aufgrund ihrer negativen Ladung durch Calciumionen quervernetzen.

Einzigartige sulfatierte Zucker

Die Dresdener Forscher setzen bei ihren maßgeschneiderten Gelen ebenfalls auf Bestandteile der extrazellulären Matrix, wie Postdoc Valentina Magno erklärt. „Damit wollen wir verschiedene bioaktive Eigenschaften der Gele unabhängig voneinander kontrollieren. Dazu gehören neben der Steifigkeit die Abbaubarkeit, Adhäsionsfähigkeit von Zellen und die Freisetzung von Signalmolekülen.“

Dazu entwickeln die Dresdner modulare Hydrogele, die sich am Vorbild der extrazellulären Matrix orientieren und aus synthetischem Polyethylenglycol und natürlichen sulfatierten Zuckern (Glycosaminglycanen) bestehen. In dieses Gel können Zellen und Proteine eingeschlossen werden. „Das Einzigartige an unseren Hydrogelen sind die Glycosaminglycane, bei denen wir das Sulfatierungsmuster verändern können“, so Magno. „Dadurch können wir den Transport und die Freisetzung von Signalmolekülen wie Cytokinen und Wachstumsfaktoren im Gel genau steuern.“

Gradienten dieser Faktoren ermöglichen beispielsweise die Nachbildung von Blutgefäßstrukturen, an denen dann neue Medikamente getestet werden können. Ein wichtiger Schritt dafür ist die Implementierung eines automatisierten Produktionsverfahrens für die Hydrogel-basierten 3D-Kultursysteme. „Dadurch können wir Wirkstoffe parallel in großer Zahl an unseren Modellen der Vaskularisation testen“, freut sich Magno. Aktuell entsteht ein voll synthetisches sulfatiertes Gelsystem, das vollständig frei von tierischen Komponenten ist und eine noch präzisere Kontrolle von Signalmolekülen erlaubt.

Wie im natürlichen Gewebe

In der Arbeitsgruppe Angewandte Molekulare Hepatologie des Universitätsklinikums Leipzig unter der Leitung von Bruno Christ hat Peggy Stock im Rahmen des Projekts „Silikult“ eine 3D-Silikonstruktur für die Kultur von Säugetierzellen etabliert. Stock arbeitet mit mesenchymalen Stromazellen, die aus verschiedenen Geweben isoliert werden können. „Es handelt sich um multipotente Zellen, die ihre Differenzierungsfähigkeit auf einem niedrigen Niveau im adulten Organismus erhalten haben“, erklärt die Forscherin. Sie selbst isoliert die Zellen aus menschlichem Fettgewebe und lässt sie dann in Leberzellen, Knochenzellen und Fettzellen differenzieren. Dieses Potenzial macht mesenchymale Stromazellen interessant für die regenerative Medizin, so Stock: „Ihre gute Isolierbarkeit, die einfache Kultivierung und die immunmodulatorischen, antiapoptotischen und proproliferativen Eigenschaften, mit denen sie auf umgebendes Gewebe wirken, machen sie attraktiv als Zelltherapeutika.“

Allerdings fehlt in der 2D-Zellkultur die räumliche Orientierung, wodurch etwa Leberzellen schnell ihre Funktionsfähigkeit verlieren. Im Projekt „Silikult“ wurde deshalb in Zusammenarbeit mit der KET Kunststoff- und Elasttechnik GmbH im sächsischen Radeberg eine Gerüststruktur aus Silikon entwickelt, auf der die Zellen wie im natürlichen Gewebe wachsen.

Gummibärchen-Leber

Das Silikongitter passt in die Vertiefungen standardisierter Mikrotiterplatten und bietet den Zellen eine große Oberfläche zur Besiedlung. Weil es keine Toträume gibt, werden sie optimal mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Ein weiterer Vorteil von Silikult ist die Flexibilität: Indem sich neben der Steifigkeit auch die Porengröße und die Oberflächenbeschaffenheit verändern lassen, kann das Silikongerüst für alle adhärent wachsenden Zellen angepasst werden. Das sei wichtig, da ja auch verschiedene Organe unterschiedliche Eigenschaften hätten. „Es gibt Organe im menschlichen Körper wie das Gehirn, welches über eine sehr geringe Steifigkeit verfügt, aber auch Organe, welche ungefähr die Steifigkeit von Gummibärchen aufweisen“, sagt Stock. „Ein solches Organ ist die Leber, die zudem ihre Steifigkeit im Verlauf von Erkrankungen verändern kann.“

Letztlich – ist Stock überzeugt – „fühlen sich hochspezialisierte Zellen in einer Kultur besonders wohl, wenn das Umfeld, in dem sie wachsen, annähernd dem Umfeld im Organ entspricht.“ Und so differenzieren die mesenchymalen Stromazellen auf Silikult besser in die unterschiedlichen Zelltypen als in zweidimensionaler Kultur und erhalten auch langfristig ihre zelluläre Funktionalität aufrecht.

Aus Silikult wird Silcult

Die Leipziger Forscher hoffen, dass ihr Ansatz zur Entwicklung von Zelltherapien für die Behandlung von Organversagen und Gewebeersatz beitragen wird. So können an den künstlichen Lebergeweben Medikamente auf ihre Wirksamkeit gegen verschiedene Krankheiten getestet werden – eine Voraussetzung, um Tierversuche einzusparen.

Silikult heißt inzwischen Silcult und wird von der KET GmbH auch anderen Kunden zur Verfügung gestellt. Dazu können die Silikongitter-Strukturen variabel gestaltet und dimensioniert werden. „So sind Unterschiede bei Strang- und Porenstruktur, Muster der Matrixstruktur, Dimensionierung des Gesamtkonstrukts und eine produkt- und zelltypische Anpassung realisierbar“, heißt es auf der Unternehmensseite. Am Uniklinikum Leipzig selbst haben sich seit der Entwicklung von Silcult ebenfalls neue Kooperationen und Antragsideen entwickelt, die jetzt nach einer Corona-Zwangspause endlich Fahrt aufnehmen sollen.

Larissa Tetsch

Mehr zum Thema Organoide und 3D-Zellkultur erfahren Sie in einem Special in der April-Ausgabe von Laborjournal.

Bild: 3D-FectIN auf www.medibena.at


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Letzte Änderungen: 27.03.2023