Editorial

Das Doppelgänger-Molekül

(16.02.2023) Der Anti-Corona-Kandidat MP1032 der Schweizer MetrioPharm erinnert stark an das russische „Wundermittel“ Galavit. Wir forschen nach.
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Auf der Galavit-Packung steht: „Zur Behandlung und Prophylaxe von respiratorischen Infektionen verursacht von Bakterien und Viren.“

Seit Beginn der Corona-Pandemie erlebt die Suche nach Small Molecules, also nieder­molekularen Wirkstoffen, in der Pharmabranche eine kleine Renaissance. Dafür greift man auch gerne auf Altbewährtes zurück. Eines dieser neuen/alten „kleinen Moleküle“ ist der kürzlich in einer Phase 2a getestete Wirkstoff-Kandidat MP1032 des Züricher Pharma­unternehmens MetrioPharm. Hinter dem Kürzel verbirgt sich der Stoff 5-Amino-2,3-dihydro-1,4-phtha­lazindion-Natriumsalz. „Dabei handelt es sich um einen Abkömmling des Luminols“, erklärt Wolfgang Brysch, Chief Medical und Scientific Officer bei MetrioPharm. „Wir haben, ausgehend vom Luminol, Derivate erstellt und diese auf ihre entzündungs­hemmende Wirkung untersucht“, fährt er fort. Dabei habe man einige „neue“ Wirkstoff-Kandidaten entdeckt, darunter MP1032. Aber ist der Wirkstoff wirklich eine neue Entdeckung?

Editorial

Aus der Kriminalistik in die Medizin

Luminol ist einigen vermutlich aus dem krimina­listischen Abend­programm bekannt oder aus der biochemischen Analytik. Das lumineszente Molekül emittiert Photonen, wenn es oxidiert wird. So lassen sich sowohl reaktive Sauerstoff­spezies (ROS) als auch Hämoglobin nachweisen. Findet sich also Blut an einem Tatort, erstrahlt das Indiz nach Luminol-Behandlung in schummrigem Blau.

Aber Moment: Luminol reagiert mit reaktiven Sauerstoff­spezies? Dann ist es also ein Antioxidans! Das lässt sich doch sicher medizinisch nutzen. Ungünstig nur, dass Luminol weder gut löslich noch bioaktiv ist. Doch dagegen kann man etwas machen, wie Brysch erzählt: „Bereits in den 1960er-Jahren gab es in den USA zwei klinische Prüfungen zu Luminol-Abkömm­lingen“. Bereits dort soll sich ein entzündungs­hemmender Effekt der Luminol-Derivate gezeigt haben.

In der westlichen Welt geriet die Wirkstoff­gruppe dann jedoch in Vergessenheit. In Russland forschte man weiter. 1997 sei ein Luminol-Abkömmling unter dem Handelsnamen Galavit für die immun­modulierende Behandlung von entzündlichen Erkrankungen und Infektionen von der russischen Arzneimittel­behörde zugelassen worden. Über die Modalitäten und Vorgänge dieses Zulassungs­verfahrens ist allerdings wenig bekannt. Es existieren auch keine Einträge in Wirkstoff-Datenbanken.

Ein rätselhafter Stoff

Ohnehin ranken sich um das Medikament Galavit einige Mythen. So warnt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) 2001 vor dem in Deutschland nicht zugelassenen Präparat, das wahlweise aus „geheimen radiologischen Forschungs­labors“ oder dem „Center of Modern Medicine (Medikor)“ stammen soll (siehe Arznei-Telegramm, 2000, 31:98-9). Angeblich soll das Präparat auch bereits an 300 Kosmonauten und 30.000 Krebs­patienten und -patientinnen getestet worden sein – mit Erfolg.

Trotz fehlender Zulassung wird es damals von einigen Kliniken, wie dem Carolinum in Bad Karlshafen, zu horrenden Preisen von bis zu 17.000 DM für eine dreiwöchige Kur als Krebs-Wundermittel angepriesen. Ein perfides Spiel mit der Hoffnung und dem Leben vieler Betroffener, das für drei Verantwortliche 2008 mit mehrjährigen Haftstrafen endete („Millionen­betrüger landen im Knast“, Stern, 15.7.2008).

Welcher Wirkstoff sich jedoch genau hinter Galavit verbirgt, ist bis heute nicht eindeutig belegt. Die Schweizerische Studiengruppe für Komplementäre und Alternative Methoden bei Krebs der Schweizer Krebsliga gibt in ihrer 2006 erschienenen Dokumen­tation zu Galavit an, dass es sich dabei nach Hersteller­angaben um den Wirkstoff 5-Amino-2,3-dihydro-1,4-phtha­lazindion-Natriumsalz handele. Zugleich verweist die Studiengruppe aber auch auf die diesbezüg­lichen Unklarheiten. So kursieren in Artikeln über das ominöse Präparat auch folgende Bezeichnungen: 2-Amino-2,3-dihydro­phtalazin-1,4-dion Natriumsalz; 5-Amino-1,2,3,4-tetrahydro­phthalazin-1,4-dion-Natriumsalz oder 2-Amino-1,2,3,4-Tetrahydro­phthalazin1,4-Dion-Natriumsalz. Ähnlich wie der vermeintlich neue Wirkstoff aus der Schweiz klingen sie alle.

Keine Spur von Galavit

Darauf angesprochen entgegnet Brysch: „In den frühen 2000er-Jahren bin ich nochmal über Luminol gestolpert. Wir wussten, dass Derivate davon bereits in Russland klinisch verwendet wurden und haben auch den Kontakt zu Medizinern und Medizinerinnen hergestellt, die damit Erfahrung hatten.“ Was genau da unter dem Handelsnamen Galavit eingesetzt wurde, habe man aber nie in Erfahrung bringen können. So habe man die Entwicklung funktionaler Derivate auf Basis spärlich vorhandener Unterlagen noch einmal neu nachvollziehen müssen.

Über die Jahre seien so diverse Polymorphe, also Abkömmlinge, entstanden, von denen MP1032 der vielverspre­chendste sei. „Als wir MP1032 dann identifiziert hatten, ließen wir uns auch Proben von Galavit schicken. Unseren Wirkstoff haben wir darin aber nicht gefunden.“ So habe man auch Expertinnen und Experten unter anderem mit einer NMR-Analyse der Proben beauftragt, das chemische Profil des russischen Präparats stimmte mit dem Schweizer Wirkstoff-Kandidaten jedoch nicht überein. Ist in Galavit also gar nicht drin, was draufsteht? Bei den von Brysch analysierten Proben soll dies so gewesen sein.

Ziemlich ähnlich

Erstaunlich ist dabei jedoch, dass es neben den Überschnei­dungen des vermeintlichen Wirkstoffes auch bei der Beschreibung des Wirk­mechanismus frappierende Ähnlichkeiten gibt. So entfalte MP1032 laut MetrioPharm als Radikalfänger seine entzündungs­hemmende Wirkung besonders bei Makrophagen, da diese durch oxidativen Stress aktiviert werden und proinflam­matorische Zytokine ausschütten.

Folgende Passagen aus dem ins Deutsche übersetzten Galavit-Beipack­zettel aus dem Jahr 2000 lesen sich recht ähnlich: „Die arzneilich wirksamen Effekte von Galavit werden im Wesentlichen durch seine Eigenschaft, die metabolische funktionelle Aktivität von Makrophagen zu beeinflussen, hervor­gerufen. Bei Entzündungen hemmt dieses Präparat umkehrbar für 6-8 Stunden die durch die hyper­aktivierten Makrophagen hervorgerufene überschüssige Synthese des Tumor-Nekrose-Faktors, des Interleukins-1, der aktiven Sauerstoff-Formen und anderer entzündungs­fördernder Zytokine, die den Grad der Entzündungs­reaktionen, deren Zyklen sowie deren Intoxikations­wirkung bestimmen.“ Diese zugegebener­maßen recht vagen Beschreibungen findet man in diversen Artikeln über Galavit aus den 2000er-Jahren.

Ein fokussierter Radikalfänger

Wie genau das Präparat auf die Makrophagen wirkt, konnten erst Brysch und Co. aufdecken, wie er erzählt: „Wir haben über 250 mögliche Targets getestet, darunter Kinasen und andere entzündungs­relevante Enzyme“. Ein spezifisches Ziel ließ sich jedoch nicht finden. Erst als die Schweizer fokale Entzündungen mit einer hochsensitiven Photonen­kamera betrachteten, konnten sie die Emission von Photonen nachweisen – das Luminol-Derivat wird also oxidiert und macht so die reaktiven Sauerstoff­spezies unschädlich. „Das hat uns überrascht, denn für eine Oxidation von MP1032 ist ein pH von 9 oder höher nötig“, erläutert Brysch. „Unsere Theorie: In den betroffenen Zellen bilden ROS kurzlebige Cluster, in denen der pH-Wert nach oben schießt. Dort zeigt unser Kandidat seine Wirkung sehr fokussiert und somit limitiert auf Gewebeteile, die derzeit oxidativem Stress ausgesetzt sind.“

Möglicherweise hat sich MetrioPharm vom russischen „Vorbild“ inspirieren lassen. Klar konstatieren muss man jedoch, dass das Schweizer Unternehmen – anders als der „Urheber“ von Galavit – mit den erfolgreich abgeschlossenen Phase-2a-Studien klare Belege für die Wirksamkeit von MP1032 bei Infektionen mit SARS-CoV-2 und bei Schuppenflechte (Psoriasis) vorlegt. Auch arbeite man an weiteren Indikationen: „Der antivirale Effekt war eher eine Zufalls­entdeckung. Wir werden uns weiter auf die antiinflam­matorische Wirkung konzentrieren und als nächste Indikation die Duchenne-Muskel­dystrophie ins Auge fassen“. Ein Ende 2022 erteiltes russisches Patent für die Verwendung von Galavit (RU2784443C2, hier wird der Wirkstoff als 5-Amino-1,2,3,4-tetrahydro­phthalazin-1,4-dion-Natriumsalz bezeichnet) für die Behandlung von Melanomen in Labortieren habe keine Relevanz für das Schweizer Unternehmen.

Tobias Ludwig

Bild: Ebay


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Letzte Änderungen: 16.02.2023