Editorial

Heilsversprechen
aus der Schweiz

(01.09.2022) Per transkranieller Pulsstimulation will die Storz Medical AG Alzheimer heilen. Wir schauen uns die klinischen Studien und Hintergründe genauer an.
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Der Neurolith in Aktion

Wer im Internet nach Informationen zur Alzheimer-Erkrankung sucht, stößt ziemlich schnell auf die Website „Alzheimer Deutschland“. Bereits auf ihrer Startseite titelt sie: „Alzheimer-Demenz endlich behandelbar!“ Dank transkranieller Pulsstimulation (TPS) könnten Alzheimer-Patienten endlich wieder auf ein normales Leben hoffen. Dabei gilt die Alzheimer-Demenz doch als unheilbar. Schließlich sterben die Gehirnzellen Betroffener unumkehrbar ab, wodurch ihre geistige Leistungs­fähigkeit stetig sinkt und ihre emotionalen sowie sozialen Fertigkeiten bis zu ihrem Tod abnehmen. Weder hat die Wissen­schaftswelt die Ursachen der Alzheimer-Demenz vollständig geklärt, noch eine kausale Therapie entwickelt.

Doch die schweizerische Storz Medical AG, mit Sitz in Tägerwilen nahe Konstanz, macht Menschen mit leichten und mittelschweren Alzheimer-Symptomen Hoffnung. Unter der Bezeichnung „Neurolith“ stellt sie seit drei Jahren ein Gerät zur trans­kraniellen Pulsstimulation her. Ein Neurolith besteht aus drei Komponenten: (1) einem handgehaltenen Ultraschallkopf, der als Druckimpulse gebündelte Ultraschallwellen durch die Schädeldecke von Patienten sendet, (2) einer Infrarot-Kamera, die die Position des Handstücks relativ zum Patientenkopf aufzeichnet, und (3) einer Visualisierungs­software, die die beschallten Hirnareale anhand zuvor aufgenommener Magnetresonanz­tomographie (MRT)-Bilder des Patienten in Echtzeit markiert. Da TPS nur schwache Ultraschallpulse nutzt und sich selbst 150-mal stärkere Energielevels in Tierexperimenten als sicher erwiesen (Adv Sci (Weinh), 7(3):1902583), gilt das Schallverfahren nach bisherigem wissen­schaftlichen Kenntnisstand als risikolos.

Editorial

Kleines Sponsoring

Dem TPS-Konzept liegt eine mehr als zehnjährige Forschungs­tätigkeit von Roland Beisteiner, Professor an der Universitäts­klinik für Neurologie und Psychiatrie der Medizinischen Universität Wien, zugrunde. Laut eigener Aussage wird er zu „einem kleineren Teil von Storz Medical gesponsert”. Seit 2019 veröffentlichte seine Arbeitsgruppe Forschungs­daten zur TPS in fünf wissen­schaftlichen Publikationen. Vier davon beruhen auf Untersuchungen an ein und derselben Probanden-Kohorte aus 35 Alzheimer-Patienten, deren geschädigte Hirnareale Beisteiners Team dreimal pro Woche für bis zu vier Wochen beschallte. Tatsächlich schnitten die Patienten in neuropsycho­logischen Testungen nach Therapieende besser ab als vor der Behandlung. Drei Monate später hatten sich ihre Testwerte für Gedächtnis­leistung und Sprachvermögen im Durchschnitt sogar um sechs von 100 Punkten verbessert (Adv Sci (Weinh), 7(3):1902583).

Neben kognitiven Einbußen geht die Alzheimer-Demenz mit einem Verlust an Neuronen im Gehirn einher. Beeinflusst TPS auch diese Hirnatrophie? Für eine Antwort überprüfte die Wiener Arbeitsgruppe MRT-Bilder der Großhirnrinden von 17 ihrer 35 Probanden. Denn sterben Nervenzellen im Gehirn, nimmt die Hirnmasse ab und die Großhirnrinde wird dünner. Bei 13 der 17 Demenz-Kranken stoppte TPS den Neuronen­verlust nicht. Bei vier Probanden nahm die Dicke ihrer Großhirnrinden nach TPS-Behandlung jedoch nicht weiter ab – wie entsprechend des normalen Krankheits­verlaufs zu erwarten – sondern sogar zu (Alzheimers Dement, 7(1):e12121). Trugen die Hirnforscher alle Daten der 17 Patienten in ein gemeinsames Diagramm ein, erkannten sie noch etwas: Je mehr sich die Gedächtnis- und Sprach­fähigkeiten ihrer Probanden verbesserten, umso weniger atrophisch waren ihre Großhirnrinden. Vorerst fasste Beisteiner zusammen: „Dass eine ultraschall­basierte Hirnstimulation Atrophie­prozesse verringern kann, ist völlig neu, muss aber in weiter­führenden Studien überprüft werden.”

… doch Zweifel bleiben

Kann das Schallverfahren Alzheimer-Symptome also wahrhaftig lindern? Nein, sagen TPS-Kritiker mit Blick auf die Studiendetails. Zur Bewertung der kognitiven Fähigkeiten ihrer Demenz-Patienten verwendete Beisteiners Team den CERAD-Test. CERAD steht für „Consortium to Establish a Registry for Alzheimer's Disease” und gilt als Goldstandard zur Erfassung kognitiver Defizite bei Alzheimer-Demenzen. Im Durchschnitt sinken CERAD-Werte infolge des Krankheits­verlaufs um 7,2 Punkte pro Jahr. Genau hier liegt das Problem. „Beisteiners Publikation fußt auf korrigierten CERAD-Werten – ohne zu erläutern, warum und wie die Versuchsdaten mathematisch verändert wurden. Eine derartige Bearbeitung ist unnötig – wie unzählige Publikationen in der Literatur aufzeigen,” erklärt die Neuro­psychologin Tamara Matuz aus ihrer Erfahrung in der Alzheimer-Diagnostik der Neurologie-Ambulanz des Universitäts­klinikums Tübingen. Zudem ist unklar, ob die beobachtete Verbesserung um sechs von 100 CERAD-Punkten überhaupt einen Unterschied im Alltags­erleben von Alzheimer-Patienten macht.

Abhilfe könnten multizentrische, Placebo-kontrollierte, doppelt verblindete und randomisierte Wirksamkeits­studien an tausenden Patienten schaffen. Beisteiners Arbeitsgruppe testete bislang zwar an zwei Standorten („multizentrisch“), allerdings nicht an tausenden, sondern nur an 35 Patienten – Kontrollgruppen gab es ebenfalls nicht, ganz zu schweigen von einer Verblindung des Studien-Designs und einer Randomi­sierung der Probanden. Auf Nachfrage erkennt Beisteiner die Limitierungen an.

TPS-Langzeiteffekt: eine Woche

In einer weiteren Studie spürte Beisteiners Arbeitsgruppe Langzeit­effekten nach, indem sie bei zwölf gesunden Probanden den für die Fingermotorik zuständigen somato­sensorischen Cortex beschallte. Storz Medical feierte in seiner zugehörigen Pressemitteilung die „randomisierte, placebo­kontrollierte und doppelt verblindete Studie, […] die einen scheinkon­trollierten Nachweis“ für Langzeit­effekte liefere. Die Studie zeige, dass TPS „die Feinmotorik und Sensibilität von Muskeln verbessere”.

Die Originalpublikation spiegelt allerdings nur manche dieser Behauptungen wider: Die Experimen­tatoren wussten, ob sie eine echte oder eine Scheinbehandlung verabreichten (J Transl Med, 20(1):26). Doppelt verblindet war die Studie also nicht. Auch ahnten zwei Drittel der Probanden, welche Behandlungsform sie erhielten. Darüber hinaus deuteten MRT-Messungen eine Woche nach Behandlungsende tatsächlich an, dass der somato­sensorische Cortex der Studien­teilnehmenden Informationen nun anders verarbeitete. Doch weder verbesserten sich Tastschärfe noch Feinmotorik der Probanden. Der Begriff „langanhaltende Wirkung“ bezieht sich laut den Studienautoren einzig auf die veränderte Art und Weise, wie beschallte Hirnareale Informationen auch noch eine Woche später verarbeiteten. Eine weitere Folge­untersuchung führte Beisteiners Team übrigens nicht durch.

„Nach aktueller Studienlage“ empfehlen die 42 deutschen TPS-Anbieter „eine Behandlungsdauer von 24 bis 36 Monaten”. Die ersten sechs Therapie­einheiten kosten insgesamt 3.000 Euro, jede Folgebehandlung 300 Euro. Die Gesamt­einnahmen pro Patient summieren sich so auf bis zu 10.200 Euro. Weil die Wirksamkeit der TPS nicht belegt ist, erstatten gesetzliche Krankenkassen diese Behandlungs­kosten nicht; Patienten müssen sie also aus eigener Tasche begleichen. Laut Storz Medical führten 100 Kliniken in 23 Ländern bereits 15.000 Therapie­sitzungen durch.

Wirkmechanismus unbekannt

Laut der TPS-Praxen soll die transkranielle Pulsstimulation im Gehirn eine Vielfalt von Effekten auslösen: Wachstums­faktoren ausschütten, Ionenkanäle aktivieren, Stickoxid freisetzen, Blutgefäß­systeme und neuronale Netzwerke erweitern, neue Synapsen bilden und Stammzellen zur Teilung anregen. Nichts davon ist jedoch experimentell nachgewiesen. Auch steht keine dieser Vermutungen in einem kausalen Zusammenhang mit bekannten Biomarkern der Alzheimer-Demenz wie fibrillären Ablagerungen von Amyloid-β- und Tau-Proteinen und pathologischen Konzentrations­änderungen der Neurotransmitter Acetylcholin und Glutamat.

Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft teilt mit: „Von einer kausalen Behandlung kann keine Rede sein. Da das Behandlungs­konzept nicht überzeugt, haben bereits verschiedene Universitäten von klinischen Studien Abstand genommen.” Auch Roland Beisteiner sagt: „Es handelt sich um keine kausale Therapie, sondern um eine Unterstützung einer rehabilitativen neuroplastischen Umorganisation”. Wie können TPS-Anbieter also beanspruchen, die Ursachen der Alzheimer-Demenz zu beseitigen? Und welche Rolle spielt dabei die eingangs erwähnte Website „Alzheimer Deutschland“?

Der Kreis schließt sich

Laut Impressum stammen ihre medizinischen Inhalte von Dr. med. Henning Lohse-Busch – dem Seniorautor von Roland Beisteiners TPS-Publikation aus 2019. Die Textbeiträge berichten von einem „medizinischen Wunder“ und einer „Erfolgsquote in der Praxis von 80 %“. Sie lesen sich wie Werbeaussagen, scheinbar untermauert von Patienten­erfahrungen und Links zu Presse- und TV-Beiträgen. Dabei lenken sie immer wieder auf nur ein Ziel – eine Liste aller TPS-Praxen zur direkten Kontakt­aufnahme. Aufschlussreich ist der Haftungs­ausschluss der Internetseite: „Alzheimer-Deutschland.de übernimmt keine Haftung für die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der TPS”.

Schließlich weiß nach gegenwärtiger Studienlage niemand, ob TPS funktioniert – auch wenn tausende Alzheimer-Patienten und ihre Angehörigen in ihrer Verzweiflung bereits tausende Euro für eine vielleicht unerfüllbare Hoffnung ausgeben. Erbrächte Roland Beisteiners Arbeitsgruppe einen zweifelsfreien Wirknachweis, wäre das für Demenz-Patienten phänomenal. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft erhofft sich bis dahin einen kritischeren Umgang mit der Hoffnung der Betroffenen.

Henrik Müller

Bild: Beisteiner R. et al., Advanced Science (7(3):1902583)

Dieser Artikel – in ausführlicherer Form – erschien zuerst auf MedWatch.


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Letzte Änderungen: 01.09.2022