Schwarze Schafe
Ein derartiges Verlagswachstum macht MDPI in den Augen der Wissenschaftsgemeinde verdächtig. Seine Kritiker argumentieren, dass das nur mit mangelnder Qualität veröffentlichter Manuskripte einhergehen kann. MDPI sei ein chinesischer Raubtier-Verlag mit schweizerischem Postfach.
Eines detaillierten Blicks bedarf unter anderem der Grund für MDPIs explosives Verlagswachstum – seine Flut an Sonderausgaben. Traditionelle Fachzeitschriften geben pro Jahr vier bis 24 Ausgaben heraus. Zusätzlich verlegen sie vereinzelt Special Issues (SI), die zeitlich begrenzt Beiträge zu einem bestimmten Forschungsthema, einer Wissenschaftspersönlichkeit oder einer Konferenz sammeln. Nicht so MDPI, wie Paolo Crosetto, Wirtschaftswissenschaftler am französischen Nationalen Forschungsinstitut für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt, im April 2021 in seinem Privatblog aufzeigte: Die 74 MDPI-Journale, die ab 2016 einen JIF besaßen, steigerten die Zahl ihrer regulären Artikel bis 2020 um das 2,6-Fache („Is MDPI a predatory publisher?“, 12.4.2021). Ihre SI-Artikel nahmen dagegen um Faktor 7,5 zu und machten mittlerweile zwei Drittel aller Publikationen aus. Gab das Verlagshaus 2013 noch 388 Sonderausgaben – also etwa fünf pro Fachzeitschrift – heraus, waren es 2021 ganze 39.587 Special Issues – also fünfhundert pro Fachzeitschrift.
Nur schnöder Mammon?
Zwangsläufig nährt das den Verdacht auf ein lukratives Geschäftsmodell. Denn je mehr SI-Artikel erscheinen, umso mehr Article Processing Charges (APC) kassiert MDPI. Die entscheidende Frage bei alldem lautet jedoch: Macht es einen Unterschied, ob Verlage ihre Publikationen über reguläre Journalausgaben oder über Special Issues generieren? Philipp Aerni, Direktor des Zentrums für Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit (CCRS) an der School of Management Fribourg und Bereichseditor beim MDPI-Journal Sustainability verneint: „Dank MDPIs Sonderausgaben kann ich Aufmerksamkeit auf unterrepräsentierte und interdisziplinäre Forschungsthemen lenken. Was spricht im digitalen Zeitalter dagegen, Wissen in einer uneingeschränkten Anzahl von Themenkomplexen zu organisieren, anstatt in verstaubten Journalen mit festgelegter Zahl an Ausgaben?“
Christian Binz, Arbeitsgruppenleiter am Wasserforschungsinstitut EAWAG im Kanton Zürich, widerspricht: „Die Kernlogik unseres Wissenschaftssystems ist es doch, Qualität hochzuhalten. Ein gutes Special Issue, das das Forschungsfeld weiterbringt, braucht mehrere Jahre Denk- und Koordinationsarbeit. MDPIs Flut an Spezialausgaben gefährdet das. Alles wird dort publiziert und wenig Qualität garantiert.“
Verkürzte Bearbeitungszeiten
Noch etwas fällt auf: Unterscheiden sich die individuellen Bearbeitungszeiten einzelner Manuskripte bei anderen Verlagen zum Teil um Wochen, weist MDPI nur eine minimale Heterogenität auf. Laut Wirtschaftswissenschaftler Crosetto streuten MDPIs individuelle Peer-Review-Zeiten im Jahr 2016 noch zwischen zehn und 150 Tagen. 2020 brauchte beinahe kein MDPI-Journal für irgendein Manuskript noch länger als 60 Tage. Können MDPIs weltweit 115.000 Editoren von 383 Fachzeitschriften mehrerer Dutzend Fachrichtungen derart gleichgeschaltet sein?
Martin Kröger, MDPIs Section-Editor-in-Chief bei Polymers sowie Editor bei sieben Nicht-MDPI-Journalen, zieht den Vergleich: „Polymers ist anderen Journalen nicht überlegen, weil Manuskripte durchgewunken würden, sondern weil MDPIs Manuskript-Management-System informationstechnologisch weit überlegen ist. Assistenzeditoren bereiten Manuskripte vor und nach und beseitigen zuverlässig alle technischen Probleme – auch am Wochenende. Ich selbst agiere immer binnen 24 Stunden – auch in den Ferien.“
In der Wissenschaftsgemeinde schürt das Argwohn und Abneigung. Exemplarisch für unzählige Anekdoten zu MDPI erklärt der schweizerische Umweltsozialwissenschaftler Christian Binz den zugrundeliegenden Interessenskonflikt: „Meine persönliche Erfahrung mit MDPI ist katastrophal. Ich wurde als Reviewer angefragt. Als ich nach zehn Tagen mein Gutachten einreichte und eine Ablehnung empfahl, war das Manuskript schon akzeptiert. Ein offizielles Entscheidungsschreiben vom Editor inklusive der Reviews anderer Gutachter habe ich nie erhalten. Den Review-Prozess hat MDPI also durch die Hintertür abgeschafft. Binnen einer Woche ein vernünftiges und bedachtes Review zu verfassen, das Qualität sichert, ist für Forschungstreibende unmöglich.“
Offene Bücher
Ein weiteres Charakteristikum von Raubtier-Verlagen ist mangelnde Transparenz. Trifft das auf MDPI zu? Seine Internetseiten stellen detaillierte Informationen über alle Verlagsjournale, ihre Redaktionsleitungen, Gebühren, Indexierungen in Literaturdatenbanken, bibliometrischen Faktoren, Identifikationsmerkmale wie ISSNs und DOIs sowie Veröffentlichungs- und Copyright-Praxis zur Verfügung. Seine Jahresberichte geben Auskunft über redaktionelle Eckzahlen und Finanzdaten. Seine Literaturdatenbank Scilit ermöglicht es sogar, die Kennzahlen der Journale von 19.672 Verlagshäusern zu vergleichen.
Einig sind sich Kritiker und Befürworter von MDPI indes in einem Aspekt: Das Verlagshaus muss aufhören, Forschungstreibende mit Massen-E-Mails zu überschütten. Denn diese aggressive Werbepolitik ist es, die so sehr an Raubtier-Verlage erinnert.
Mit dieser Verlagsmentalität weicht MDPI zugegebenermaßen von der Norm klassischer Verlage ab. Doch was bleibt nach trockener Analyse übrig, um das Baseler Verlagshaus als Predatory Publisher zu verteufeln? Eines steht fest: Mit seinen unorthodoxen Methoden erschüttert es die Vorherrschaft etablierter Verlage, die sich als Torwächter wissenschaftlicher Meinungsäußerung sehen.
Henrik Müller
Dieser hier stark gekürzte Artikel erschien zuerst in ausführlicher Form in Laborjournal 6/2022.
Bild: Adobe Stock/hisa-nishiya
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