Editorial

Rasante Aufholjagd
mit Hindernissen

(20.06.2022) Im April trafen sich Forscher in Bad Honnef, um über die Zukunft der Genomics in Deutschland zu sprechen. Unter ihnen: Olaf Rieß und Jörn Walter.
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Wir haben uns im Mai noch einmal mit Rieß (auf dem Bild links) und Walter zusammengesetzt, um mehr zu erfahren über Fortschritte und Rückstände der Genom­forschung und der Next-Generation-Sequencing (NGS)-basierten Diagnostik und -Therapie in Deutschland.

Schöpfen wir das Potential der Genomanalytik in Diagnostik und Therapie aus?
Olaf Rieß: Das Potential der Genom­analysen kann weltweit noch nicht voll ausgeschöpft werden, da sich dieser Bereich derzeit auf breiter Basis noch exponentiell entwickelt. Die Genom­analytik wird die Medizin revolutionieren. Deutschland ist in den letzten Jahren zu einem Vorreiter bei der klinischen Anwendung der Genom­analytik in der Medizin geworden im Vergleich zu den allermeisten Ländern der Welt, und schließt zu Ländern wie den Niederlanden und Großbritannien auf.
Jörn Walter: Ich stimme dem voll zu. Die Genom­forschung ist eine Schlüssel­technologie mit einem expandierenden Anwendungs-Spektrum. Das Genom ist keine statische Blaupause, sondern wird sehr dynamisch im Körper interpretiert, beispielsweise während der Entwicklung oder während des Alterns – es wird also auf vielfache Art gelesen und interpretiert. So hat zum Beispiel jeder Zelltyp sein eigenes Epigenom. Die Methoden der funktionellen Genom­forschung reichen von der Einzelzell­analytik über die Epigenetik bis hin zu CRISPR-Cas-Experimenten.

Editorial

Wo wird NGS in Diagnostik und Therapie in Deutschland bereits erfolgreich angewendet?
Rieß: Die Hauptindikations­gruppen sind die seltenen Erkrankungen, familiäre Tumor­erkrankungen und die individuelle, gezielte Tumortherapie. Bei den seltenen Erkrankungen wird an spezialisierten Zentren in Deutschland Gesamtexom-Sequenzierung (Whole Exome Sequencing, WES) angeboten. Weltweit werden vor allem Gen-Panels eingesetzt. Ab Anfang 2024 kann Patienten mit seltenen Erkrankungen, bei denen WES kein Ergebnis gebracht hat, in Deutschland eine Gesamtgenom-Sequenzierung (Whole Genome Sequencing, WGS) angeboten werden, die von den Krankenkassen finanziert wird. Meines Wissens ist das weltweit einzigartig. Wir verhandeln derzeit noch, ob auch die RNA-Sequenzierung mit eingeschlossen wird.
Im Moment lösen wir bei den seltenen Erkrankungen mit Genom­analysen bei 50 % der Patienten die Krankheits­ursachen auf, wobei 80 % der seltenen Erkrankungen genetisch bedingt sind. Das bringt eine Kosten­ersparnis von etwa 7.000 bis 50.000 Euro pro Krankheitsfall. Genomdaten sind allerdings sehr komplex. Für einen noch größeren Aufklärungs­erfolg fehlen uns umfang­reichere Datensätze für die Analyse. Viele epigenetisch verursachte Erkrankungen und Repeat-Expansions-Erkrankungen kennen wir noch gar nicht.

Wie sieht es bei der Therapie von Tumor­erkrankungen aus?
Rieß: Bei Krebspatienten, bei denen eine konventionelle Erstlinien-Therapie nicht wirkt, wird an einigen Zentren WES beziehungsweise der Einsatz großer Gen-Panels zur Sequenzierung des Tumor­gewebes im Vergleich zum Kontroll­gewebe des Patienten angeboten. Die komplette RNA-Sequenzierung ist an manchen Zentren mit integriert, um das Vorhandensein von Fusions­transkripten und Amplifikationen sowie den Verlust der Genexpression in die Therapie-Entscheidung miteinfließen zu lassen. An unserem Zentrum für personalisierte Medizin (ZPM) in Tübingen, geleitet von Nisar Malek, finden wir so bei circa 80 % der Patienten ein klares Therapie-Target, und die Hälfte dieser Patienten spricht extrem gut auf die ausgewählte Therapie an. Sollte der Tumor wiederkommen, können wir ihn erneut sequenzieren und dann vielleicht ein anderes Medikament zielgerichtet einsetzen.

Wo sehen Sie beim Einsatz von NGS in der Diagnostik noch Entwicklungs­potential?
Rieß: In Deutschland sterben pro Jahr ca. 240.000 Patienten an Krebs. Um aussage­kräftigere Datensätze zu erhalten, müssen wir auf nationaler Ebene analysieren, welche Mutationen dazu führen, dass ein Tumor anspricht oder resistent wird. Dafür brauchen wir einen intensiveren und schnelleren Austausch zwischen den Zentren. Ein großes Potential liegt auch in der Biomarker-Identi­fizierung anhand von zellfreier Tumor-DNA. Anhand von Blutproben können wir heute schon sehen, ob ein Tumor wiedergekommen ist, und zwar bis zu vier Jahre, bevor Krankheits­symptome auftreten. Diese NGS-Methode sollte daher für besonders aggressive Tumore und für Patienten mit hohem Tumorrisiko angewandt werden.

Wo hat Deutschland Nachholbedarf verglichen mit anderen europäischen Ländern, den USA und China?
Walter: Man kann die verschiedenen Länder und Systeme nicht direkt miteinander vergleichen. Je nach der Struktur der Gesundheits­systeme wurde die Genom-Sequenzierung für die medizinische Diagnostik unterschiedlich gefördert und implementiert. Durch unser föderales System und die Art der Kassen­abrechnung waren wir bei den großen Genom-Programmen lange nicht an vorderster Front. Wir haben zum Beispiel keinen zentralen National Health Service (NHS) wie in Großbritannien, über den umfangreiche Genomstudien gefördert werden. Es müssen bei uns viele Akteure mit ins Boot genommen werden. Infrastrukturell ist Deutschland international durchaus kompetitiv. Die Sichtbarkeit wird mit der „Nationalen Strategie für Genommedizin“ (genomDE) hoffentlich bald stärker hervortreten.
Rieß: Bei der Genomanalytik in der Kranken­versorgung haben wir in den letzten zwei bis drei Jahren extrem aufgeholt und werden in Kürze führend sein. In der Forschung haben wir jedoch noch großen Nachholbedarf. Mit der „Nationalen Kohorte“ beispielsweise haben wir in Deutschland eine der klinisch am besten charakte­risierten Populationen der Welt. Es steht jedoch kein Geld zur Verfügung, diese Kohorte zur sequenzieren. Dies würde wichtige Erkenntnisse bezüglich der Volkskrank­heiten bringen. Hier ist das Bundes­ministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefragt, endlich Mittel für die Sequenzierung bereit­zustellen. In Großbritannien wurden bereits eine Million Menschen sequenziert. Das Ziel dort ist nun, fünf Millionen Menschen zu sequenzieren. Auch in den USA und China werden wesentlich größere Kohorten sequenziert. Da Gesundheit unser höchstes Gut ist, sollte stark in Krankheits­prävention investiert werden. Genom­analysen können dabei ein maßgeblicher Faktor für individuelle zielgerichtete Risiko­reduktion von Erkrankungen sein.

Warum brauchen wir eigenständige nationale Anstrengungen?
Walter: Die Genom­forschung ist eine Schlüssel­disziplin. Um Netzwerk-Strukturen wie das DFG-finanzierte Next Generation Sequencing Competence Network (NGS-CN), das Deutsche Netzwerk für Bioinformatik-Infrastruktur (de.NBI) oder das Deutsche Humangenom-Phenomarchiv (GHGA) aufrechtzuerhalten, müssen Förder­institutionen wie die DFG, das BMBF, das Bundes­gesundheits­ministerium und die Max-Planck-Gesellschaft zusammen­arbeiten, um Synergien zwischen den Netzwerken zu schaffen. Wir müssen eine dauerhafte, nationale, kompetitive Infrastruktur für Forschung und Ausbildung in der Genom­forschung etablieren.

Was wird für die kommenden Jahre noch wichtig?
Walter: Genomdaten werden immer komplexer. Für hundert­tausende untersuchte Genome und die dazugehörigen weiteren (Omics)-Daten und Metadaten benötigen wir eine koordinierte Strategie für die Daten­archivierung, -analyse und die künstliche Intelligenz (KI)-unterstützte Dateninter­pretation. Wir müssen die erzeugten Daten zusammenführen und zentralisiert verarbeiten können. Nur so sind die Daten national geschützt und können gleichzeitig auch noch in 5-10 Jahren genutzt und analysiert werden. Es ist wichtig, sich hier nicht zu sehr von kommerziellen Interessen und Strukturen abhängig zu machen, denn diese können samt ihrer entwickelten Standards auch schnell wieder vom Markt verschwinden. Wir brauchen nachhaltige und sichere Strukturen. Diese Aufgabe hat sich ja zum Beispiel das Deutsche Humangenom-Phenomarchiv (GHGA) als Ziel gesetzt.
Die Interpretation von Genomdaten wird in Zukunft multimodale Ansätze mit einbeziehen, das heißt Kombinationen von genomischen, epigenomischen, Proteom- und Transkriptomdaten, Metagenom- und Metabolom­daten sowie Bilddaten. Hierzu müssen neue bioinformatische Verfahren und Deep-Learning-Ansätze etabliert werden und die Ausbildung junger Wissenschaftler auf diese Anwendungen ausgerichtet werden.

Wie beurteilen Sie die technologische Entwicklung?
Walter: Es wird noch eine Zeit lang ein Neben­einander verschiedener Sequenzier-Technologien geben. Im Augenblick dominieren Short-Read-Technologien. Für die Genomik werden die Long-Read-Sequenzierer aber immer wichtiger werden. Damit kann man strukturelle Varianten wie Insertionen, Deletionen und Rearrangements besser erkennen. Die neuen Direkt­sequenzierer können auch epigenetische Informationen wie Methylierungen des Genoms mit auslesen. Sie sind allerdings nicht so genau und benötigen mehr Ausgangs­material als die Short-Read-Sequenzierer. Langfristig ist der Ausbau kompatibler europäischer Computer-Netz-Strukturen von essentieller Bedeutung. Das Forschung­snetzwerk Elixir bietet solch einen Rahmen, und GHGA wie auch andere biomedi­zinische Initiativen sind hier bereits assoziiert. Ein föderiertes europäisches Netzwerk wird das Speichern von Genomdaten harmonisieren und ein sinnvolles Teilen in Europa erleichtern, ohne dass die Daten das nationale Hoheitsgebiet verlassen.
Rieß: In der Diagnostik brauchen wir mehr und schnellere Sequenzier­geräte auch in der Fläche, stärkere Automatisierung der Prozesse und einen starken Aufbau an Bioinformatik und Genomanalytik, damit die Patienten nicht auf ihre Diagnose warten müssen, insbesondere schwerstkranke Personen und kritisch kranke Kinder. Für die Auswertung der Genomdaten wird KI an Bedeutung gewinnen. Neben Cloud-basierten Anwendungen gibt es auch dezentrale „Swarm-Learning“-Werkzeuge zum Trainieren von KI, die uns helfen werden, Muster in den komplexen Datensets schneller und besser zu erkennen.

Wo sehen Sie die Haupthandlungsfelder von NGS in der Biomedizin in den kommenden Jahren?
Walter: Neue, hochgenaue und lange Sequenzen lesende Sequenzier-Technologien werden bei der Genomanlyse zunehmend an Bedeutung gewinnen. Für komplexe funktionale genomische Ansätze und die integrierte Interpretation von Multiomics-Daten in Verbindung mit Genomdaten brauchen wir schnelle Computer-basierte Methoden. Es ist sehr zu begrüßen, dass Deutschland sich an internationalen Initiativen beteiligt, wie „1+ Million Genomes“ und „Beyond 1 Million Genomes“, um breite Referenzdaten zu generieren. Wir müssen Grundlagen­forschung und Diagnostik zusammenbringen, sodass beide Richtungen voneinander profitieren können.
Die Beratung der Patienten und von gesunden Personen wird immer wichtiger werden. Für deren breite Verfügbarkeit müssen wir umfassende Kapazitäten in der Humangenetik aufbauen. Die Bedeutung der Genomik bei der Aufklärung der Ursachen chronischer Erkrankungen wird zunehmen. Wir werden uns in steigendem Maße mit Human­pathogenen und ihren Auswirkungen auf den menschlichen Organismus beschäftigen. Genomik wird auch zunehmend im Bereich Metagenomik und Mikrobiom eine Rolle spielen, zum Beispiel bezüglich der Auswirkung von Antibiotika und Antiinfektiva. Für Nachwuchs­forscher bietet die Schnittfläche zwischen Experiment und Computer-gestützter Analyse spannende Arbeitsfelder.

Das Interview führte Bettina Dupont

Jörn Walter ist Professor für Genetik und Epigenetik an der Universität des Saarlandes. Walter hat die globale epigenetische Reprogrammierung der Mauszygote durch Demethylierung entdeckt. Er ist einer der Gründer des Internationalen Humanen Epigenom-Konsortiums (IHEC) und beschäftigt sich im Netzwerk Single Cell Omics Germany (SCOG) mit Einzelzell-Epigenomik.

Olaf Rieß ist Professor für Medizinische Genetik und Ärztlicher Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und angewandte Genomik in Tübingen, einem DFG-Kompetenzzentrum für Hochdurchsatz-Sequenzierung. Er ist Sprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen der Universität Tübingen. Sein Hauptinteresse sind die Ursachen von genetisch bedingten Erkrankungen. Rieß ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik e. V.

Bild: Pixabay/MaxPhilip (DNA) + Uniklinik Tübingen (Rieß) + privat (Walter)


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Letzte Änderungen: 20.06.2022