Editorial

„Man muss die Daten
nur zusammenbringen"

(03.06.2022) Steigende Corona-Zahlen spätestens ab Herbst? Inklusive neuer SARS-CoV-2-Varianten? Der Wiener Immunologe Andreas Bergthaler mahnt zur Vorbereitung.
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Der dritte Sommer der Pandemie steht an, und bekanntlich folgen auf den Sommer irgendwann der Herbst und der Winter. Wie können wir uns jetzt schon gesellschaftlich vorbereiten auf den kommenden Herbst und die Zeit danach? Hierzu haben Autoren der COVID-19-Future-Operations-Plattform in Österreich ein Arbeitspapier erstellt – zum Zeitpunkt kurz vor Redaktionsschluss verfügbar in Version 1.0 unter dem Titel „COVID-19: Szenarien für Herbst/Winter 2022 – und darüber hinaus“.

Einer der Autoren ist der Immunologe Andreas Bergthaler, tätig an der Medizinischen Universität Wien und am CeMM-Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaft. Er gibt uns einen Ausblick, was uns erwarten könnte und wie wir uns vorbereiten sollten.

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Laborjournal: Der Sommer steht vor der Tür und die Pandemie spielt medial kaum noch eine Rolle. Experten weisen darauf hin, dass auch wieder Herbst und Winter kommen werden, aber trotzdem scheinen Politik und Bevölkerung entspannt. Haben Sie da ein Déjà-vu?

Andreas Bergthaler » Wo Sie recht haben, ist, dass es Parallelen zwischen diesen drei Jahren gibt. Allerdings immer mit etwas anderen Voraussetzungen. 2020 hatten wir diese erste Welle mit restriktiven Lockdowns. Alle hatten die Bilder aus der Lombardei vor Augen. Als dann der Sommer kam, hofften wir, dass vielleicht doch keine zweite Welle kommt. 2021 wurde dann durch die Politik vermittelt, dass mit dem Impfstoff die Pandemie quasi vorbei wäre. Delta hat uns dann eines besseren belehrt, und mit Omikron sind die Herausforderungen nicht unbedingt kleiner geworden. Und ja, auch jetzt sind wir in einer Situation, in der man den saisonalen Effekt spürt und die Zahlen runtergehen. Ob sie genauso weit sinken werden wie in den vergangenen zwei Jahren, sei mal dahingestellt. 

Was aus meiner Sicht aber positiv ist, zumindest wie ich das in Österreich wahrnehme: Man versucht gerade ziemlich ernsthaft, Lehren zu ziehen aus den bisherigen zwei Jahren. Der Wille ist da, die Monate bis zum Herbst zu nutzen, um einige Probleme endlich zu beheben. Hier gab es in den vergangenen zwei Monaten einen sehr breit aufgestellten wissenschaftlichen Diskurs und Veranstaltungen mit mehr als achtzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sehr breit die unterschiedlichsten relevanten Themen zur Pandemie diskutiert haben. Einmal aus wissenschaftlicher Sicht, aber auch mit den Behördenvertretern, die solche Ideen dann ja letztendlich umsetzen müssen. Da ging es vom Testen über Surveillance und Therapien bis hin zur psychosozialen Gesundheit. Und auch um Kindergärten und Schulen, den Schutz vulnerabler Gruppen und die Kommunikation zur Bevölkerung.

Editorial

Was hat es mit der COVID-19-Future-Operations-Plattform auf sich? Und erstellen Sie Empfehlungen wie das aktuelle Papier auf Anfrage aus der Politik, oder sind das eigeninitiativ erarbeitete Vorschläge? 

Bergthaler » Diese Future-Operations-Plattform ist ein Zusammenschluss unabhängiger Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen. Wir haben schon mehrere solcher „Expert Opinions“ erstellt. Das machen wir ohne Zuruf. In den Gruppen diskutieren wir Wissenschaftler miteinander und erarbeiten dann Grundlagen. Es gibt eine Arbeitsgruppe für Wirtschaft und Arbeitsmarkt, eine Gruppe für Psychosoziales, eine für Logistik; und ich bin tätig in der Arbeitsgruppe Gesundheit. Dort trifft man sich einmal pro Woche und diskutiert die Themen. 

Unser aktuelles Arbeitspapier geht zurück auf den Jahresbeginn. Wir wollten mögliche Szenarien für die Zukunft einordnen, also den kommenden Winter und darüber hinaus. Das Papier überarbeiten und ergänzen wir derzeit noch, verfügbar ist momentan nur eine erste Fassung. Unsere Arbeit wurde von der gesamtstaatlichen Krisenkoordination „GECKO“, die dem Bundeskanzleramt zugeordnet ist und bei der ich Mitglied bin, sowie dem österreichischen Gesundheitsministerium zum Anlass genommen, einen größeren „Variantenmanagementplan“ zu entwickeln. Ziel ist, dass wir in Österreich ab Juli quasi ein Handbuch für die Politik haben, wie wir die nächsten Monate nutzen und wie wir uns bei zukünftigen großen Infektionswellen aufstellen. Idealerweise fahren die Behörden nun nicht einfach alle in den Sommer­urlaub und beschäftigen sich erst im Herbst wieder damit. Trotz der Erfahrung der bisherigen zwei Jahre bin ich jetzt einfach mal optimistisch und hoffe, dass möglichst viele wichtige Punkte auch tatsächlich umgesetzt werden.

 

»Leider gibt es Machtspiele, bei denen Einzelne die Daten nicht aus der Hand geben wollen.«

 

Sie ziehen fünf verschiedene Szenarien in Betracht: vom optimistischsten Fall, dass die Pandemie nun praktisch vorbei ist, bis hin zu sehr ungünstigen Entwicklungen mit immer neuen und auch gefährlichen Varianten, die den Immunschutz umgehen. Dabei schlagen Sie aber auch Dinge vor, die unabhängig vom konkreten Szenario sind und die man auf jeden Fall angehen sollte. 

Bergthaler » Ein zentrales Element – und da traue ich mich zu sagen, dass das auch für Deutschland und die Schweiz gelten dürfte – ist der Umgang mit den Daten. Da gibt es Länder wie Dänemark, die das besonders gut machen, mit einem völlig anderen Grad der Digitalisierung. Die Daten dort sind alle integriert, und Sie können diese Informationen unmittelbar abrufen: Wer liegt im Spital? Mit welcher Variante ist er infiziert? Welchen Impfstatus und welche immunologische Historie hat die Person? Gerade aus meinem eigenen Forschungsfeld heraus, in welchem wir mithelfen, die Varianten zu sequenzieren, fände ich das auch hier sehr wichtig. Denn sobald man irgendwo den Anstieg einer Variante sieht, stellt sich ja sofort die Frage nach der klinischen Relevanz. Dafür aber müsste man diese Daten schnell integrieren. Das mag ein Grundübel sein, dass Österreich, Schweiz und Deutschland auch beim Gesundheitssystem föderalistisch aufgestellt sind. 

Ein zentraler Umgang mit den Daten wäre also wichtig, um das gesamte Lagebild zu überblicken, aber auch um zu evaluieren, welche Maßnahmen eine Wirkung zeigen und welche nicht. Dies wäre auch wesentlich, um die Risiken von Long-COVID besser einschätzen zu können. Das sollte lösbar sein, denn wir sind hochentwickelte Länder, und die Daten sind ja vorhanden – man muss sie nur zusammenbringen. Leider gibt es dann auch Machtspiele, bei denen Einzelne die Daten nicht aus der Hand geben wollen. Wir haben Land und Bund, es gibt die Gesundheitsversicherungen und das Gesundheitsministerium; eine ganze Melange an unterschiedlichen Interessen.

Dabei ist ja oft auch der Datenschutz ein Argument.

Bergthaler » Ich bin kein Jurist, aber mein Eindruck ist, dass Dänemark sehr strenge Datenschutzgesetze hat. Wir bekommen das immer wieder mal mit, wenn von dort eine Zeit lang gar keine Virusgenome auf der Sequenzdatenbank GISAID hochgeladen werden, weil es datenschutzrechtliche Bedenken gibt. Und trotzdem schafft es Dänemark, dass die Daten integriert vorliegen und sie darauf reagieren können. Es ist kein Zufall, dass neue Varianten eher in England, Dänemark oder Südafrika auftauchen. Nämlich wahrscheinlich nicht, weil sie dort entstehen, sondern weil dort das Sensorium und die Wahrnehmung vorhanden sind, solche Virusvarianten rechtzeitig zu entdecken.

Es gibt hier in Deutschland auch manchmal Scherze darüber, wie die Gesundheitsämter sich per Fax austauschen. 

Bergthaler » Vieles ist tatsächlich unheimlich antiquiert; ich selbst habe gehört, dass man sich teilweise noch durch Krankenhäuser durchtelefonieren musste. Mir ist wichtig zu sagen: Ich bin sicher, dass die Maßnahmen guten Glaubens und guten Gewissens gesetzt werden. Natürlich muss man annehmen, dass man die Dynamik verlangsamt, wenn man soziale Kontakte reduziert. Aber vielfach fehlt uns leider die direkte Evidenz, an vielen Stellen sitzen wir beim Pandemiemanagement in einem datenleeren Raum. Wenn wir das verbessern könnten, könnten wir auch schneller auf berechtigte Kritik reagieren und aus unberechtigter Kritik die Luft rausnehmen.

 

»Es gibt keine Garantie, dass nicht in ein paar Monaten eine Variante daherkommt, von der wir noch nie gehört haben.«

 

Im Arbeitspapier erwähnen Sie eine Überwachung der Virusaktivität und auch der Varianten im Abwasser. Das ist ja ziemlich clever, denn man muss die Menschen nicht mit Probennahmen belästigen, zugleich kann man eine Kläranlage einem konkreten Einzugsgebiet zuordnen. Ich habe seit Beginn der Pandemie von dieser Möglichkeit gehört. Kommt diese Art der Überwachung denn tatsächlich schon im großen Stil zum Einsatz? 

Bergthaler » Ja, ich denke, damit sind wir in Österreich sehr gut aufgestellt. Wir haben ein System aufgebaut, in dem wir wöchentlich etwa hundert Kläranlagen beproben. Das entspricht sechzig Prozent der Bevölkerung. Zum einen bestimmen wir über Real-Time-PCR die Viruslast, und dann bekommen wir einmal in der Woche Proben der Kläranlagen, die wir hier tief sequenzieren. Daran angeschlossen ist eine neue Bioinformatik-Pipe­line, die auch in einem Artikel von uns beschrieben ist, der demnächst in Nature Biotechnology erscheint (Preprint auf medRxiv, doi: 10.1101/2022.01.14.21267633). Wir können dort ermitteln, wie hoch der Prozentsatz einer bestimmten Variante ist. Für die Studie haben wir mehr als 3.000 Abwasserproben sequenziert und diese mit 300.000 epidemiologischen Fällen im Einzugsgebiet der Kläranlage verglichen. Wir haben uns angeschaut, wie gut das übereinstimmt. Und das ist wirklich erstaunlich robust.

Können Sie ein Beispiel geben?

Bergthaler » Eine mittelgroße Kläranlage hat ein Einzugsgebiet von 80.000 bis 90.000 Einwohnern. Wenn die Epidemiologen zwei Fälle der Beta-Variante gefunden haben, sahen wir bereits einen entsprechenden Peak in unseren Daten. Da ist also einiges möglich bei der SARS-CoV-2-Surveillance. Die Probennahme direkt am Menschen wird man nicht komplett ersetzen, weil wir auch die klinischen Unterschiede im Krankheitsverlauf herauslesen wollen. Aber, wie Sie gesagt haben: Es ist eine ziemlich effiziente Methode, wenn sie erst einmal etabliert ist. Ich glaube, dass man auch zukünftig in diese Richtung denken kann. Wir arbeiten daran, nicht nur SARS-CoV-2, sondern auch andere relevante Infektionserreger auf diese Weise zu überwachen.

Kann man über die Beprobung von Kläranlagen auch auf die Inzidenz rückschließen? 

Bergthaler » Man kann solche Rückschlüsse ziehen, aber es ist wichtig, dass man die Daten normalisiert. Ein Beispiel: Wenn es an einem Tag stark regnet, dann wird sich das Signal verdünnen. Es gibt nun unterschiedliche Methoden, zum Beispiel über den Stickstoffgehalt. Man geht von einer bestimmten Menge Stickstoff aus, die jeder Mensch pro Tag ausscheidet. Das kann man entsprechend hochrechnen. Oder man schaut sich Viren an, die im Gemüse enthalten sind und ebenfalls in den Kläranlagen landen. So hat man eine interne Kontrolle.

Trotzdem kann man das nicht eins zu eins umrechnen. Es gibt zwar Arbeiten, die ganz gut beschreiben, über welchen Zeitraum Corona-Patienten Viren über den Darm ausscheiden und wann der Peak ist, aber wahrscheinlich unterscheidet sich das auch etwas zwischen den Varianten. In unserem Kontext aber spielt das keine so große Rolle. Denn wir wollen ja die Varianten untereinander erfassen sowie auflösen und brauchen nicht die absoluten Zahlen. Da sehen wir jetzt schon, dass das Signal sehr stabil ist und die epidemiologische Gesamtlage recht gut widerspiegelt.

 

»Es ist sinnvoller, mit dem Boostern gesunder Menschen bis zum Herbst abzuwarten.«

 

Kommen wir zurück zum Arbeitspapier der Future-Operations-Plattform: Das pessimistischste Szenario besagt, dass wir in Sachen Impfungen mit jeder neuen Variante das Rad neu erfinden müssten. 

Bergthaler » Wir sehen ja, dass unser bisheriger Immunschutz nicht dauerhaft ausreicht, um uns vor Neuinfektionen zu schützen. Die andere Frage ist, ob das dann auch mit einer schweren Pathogenität einhergeht. Es muss ja nicht das schlechteste Szenario eintreten. Es könnte zwar sein, dass das Virus permanent unserer Immunantwort davonläuft, uns aber nicht besonders krank macht. Das wäre dann vergleichbar mit einem Schnupfenvirus. Beim pessimistisch­sten Szenario haben wir auch an Rekombinationen mit anderen Coronaviren gedacht. Was etwa wäre, wenn SARS-CoV-2 auf einmal das Spike-Protein vom MERS-Virus bekommt? Das würde manches von dem in Frage stellen, wie wir die Virusevolution bisher wahrgenommen haben. Aber wie gesagt: Das ist das pessimistischste und meiner Einschätzung nach auch das unrealistischste Szenario. Wir wollten einfach die Bandbreite des Denkbaren abbilden, weil man es ja nicht ganz ausschließen kann.

Wo auf dieser fünfteiligen Skala der Szenarien liegt denn die wahrscheinlichste Zukunft mit SARS-CoV-2? 

Bergthaler » Wenn man ehrlich ist, kann man diese Frage nicht beantworten. Natürlich vermuten wir die Realität nicht an einem der Extreme. Wir können aber versuchen, die Vergangenheit zu analysieren. Auch da war nicht immer alles gut nachvollziehbar. Zum Beispiel, woher die Varianten kamen. Waren immunsupprimierte Patienten dafür ausschlaggebend? Oder ein Tier-Reservoir? Was mit dem Auftreten von Omikron im November 2021 interessant ist: Nach dem Jahreswechsel wurde die Omikron-Welle mehr und mehr durch BA.2 getrieben. Das war keine neue Variante, sondern ein Abkömmling von BA.1. In Südafrika läuft die fünfte Infektionswelle mit BA.4/BA.5, und auch das wiederum sind keine total neuen Varianten, sondern sie haben sich aus BA.2 entwickelt.

Bei Alpha und Delta war das anders, da kam Delta aus einer völlig anderen Ecke des Stammbaums. Und Omikron kam wieder aus einer anderen Richtung. Man könnte also vermuten, dass wir jetzt linearere Gesetzmäßigkeiten sehen. Natürlich macht es die Sache nicht unbedingt besser, wenn die Varianten dabei trotzdem immer infektiöser werden. Falls dieser Trend aber anhält, könnten wir deutlich besser künftige Entwicklungen prognostizieren. 

In die Zukunft zu extrapolieren ist dennoch nur schwer möglich. Es besteht die Hoffnung, dass es weiter zu einer Entkopplung der Infektionen einerseits und den Personen im Krankenhaus andererseits kommt, insbesondere was die schweren Fälle betrifft. Das wäre ja das, was man landläufig als milderen Verlauf bezeichnet. Wobei es natürlich auch mit Omikron noch schwere Verläufe gibt. Und auch viele Leute, die sich zu Hause auskurieren, werden ihren milden Verlauf vielleicht subjektiv nicht unbedingt als mild erleben. All das ist natürlich keine Garantie, dass nicht trotzdem in ein paar Monaten wieder eine Variante daherkommt, von der wir noch nie gehört haben.

 

»Die Pandemie ist in vielerlei Hinsicht eine Kommunikationskrise.«

 

Eine Frage speziell an Sie als Immunologen: Wie sollte es mit dem Impfen weitergehen? Wäre es als gesunder Mensch ohne besondere Risiken sinnvoller, auf eine an die Omikron-Varianten angepasste Vakzine zu warten, bevor man sich erneut boostert? Denn Boostern in kurzen Abständen ist ja ohnehin weniger effizient. Würde ich mich stattdessen erst mit etwas Abstand erneut impfen, dann aber gegen eine gerade relevante Variante, wäre ich wahrscheinlich auch weniger ansteckend, falls ich mich dennoch infiziere. 

Bergthaler » Ja, das stimmt soweit. Bei der Entwicklung der RNA-Impfstoffe wird ja gerade versucht, mehrere Varianten zu inkludieren, und einiges ist im fortgeschrittenen Stadium. Was dann tatsächlich auch im Herbst zur Verfügung steht, werden wir sehen. Ich glaube, ein wichtiger Punkt ist der genannte Schutz vor der Ansteckung, der bei Omikron nicht mehr so gut gegeben ist. Was wir aus England, Dänemark, Israel und auch den USA sehen: Dieser Schutz vor Ansteckung ist in den ersten vier bis zwölf Wochen nach der Impfung noch ganz gut. Aber nach drei Monaten ist davon nicht mehr viel übrig. 

Wendet man diese Kenntnis nun auf die aktuelle Lage an, könnte eine Strategie sein: Wir impfen erst wieder im großen Stil, kurz bevor der nächste saisonale Anstieg zu erwarten ist. Unabhängig davon, ob wir dann schon einen neu angepassten Impfstoff haben oder nicht. Etwa ab September müsste man also möglichst viele Menschen von einer Auffrischungsimpfung überzeugen, um diesen temporären Ansteckungsschutz in die Folgewochen mitzunehmen und diese Welle zu schwächen. Diese Überlegungen gibt es zum Beispiel im nationalen Impfgremium. 

Natürlich müssen wir differenzieren: Wer zu einer Risikogruppe gehört, für den ist ja bereits jetzt eine Auffrischung empfohlen. Aber bei gesunden Menschen gibt es aus meiner Sicht aktuell wenig gute Argumente, sich jetzt boostern zu lassen. Da ist es sinnvoller, damit abzuwarten bis zum Herbst. Das wird dann natürlich wieder eine Herausforderung, weil die Menschen wahrscheinlich noch in Sommerstimmung sind und die Inzidenz wohl niedrig sein wird. Das muss man also verständlich und transparent kommunizieren.

Interessant finde ich, dass das Arbeitspapier auch auf psychosoziale Aspekte eingeht, und auf stressbezogene Folgen der Pandemie. Wurden diese Aspekte bislang vernachlässigt? 

Bergthaler » Ja, ich glaube schon. Und wir werden diesen Punkt für die finale Version auch weiter ausarbeiten, zum Beispiel auch zu Schulen und Kindergärten. Natürlich sieht man so eine neue Pandemie zunächst als Gesundheitskrise. Je nach dem, welche Ziele man definiert, fallen dann auch die Strategien zwischen den Ländern unterschiedlich aus. Da war in Ländern wie Deutschland und Österreich die Prämisse, möglichst wenig schwere Verläufe und Todesfälle zu haben und das Gesundheitssystem zu schützen. Gerade im Hinblick auf Schulen war es aber schwer, abzuwägen, welche Maßnahmen angezeigt sind, um das Infektionsgeschehen zu dämpfen und Kollateralschäden für die junge Generation zu rechtfertigen. Im Gegensatz zur Schweiz beispielsweise gab es ja bei uns lange Phasen der Schulschließungen. Das hat viele Probleme geschaffen und die [soziale] Schere weiter geöffnet, weil es eben stark abhängt vom Elternhaus, wie gut aufgehoben die Kinder in dieser Ausnahmesituation sind. 

Deswegen ist uns die Frage wichtig, wie man solche Lebensbereiche besser absichern kann. Zum Beispiel durch bessere Belüftung in Klassenräumen. Da ist trotz der baulichen Limitationen einiges möglich, und das ist auch Szenario-unabhängig. Denn besseres Raumklima ist auch ohne Pandemie von Vorteil.

Ich glaube, viele Menschen fühlten sich in der Pandemie auch übersehen. Bei einigen scheint sich viel Ärger angesammelt zu haben.

Bergthaler » Es fällt gerade in den sozialen Medien auf, wie polarisiert die Gesellschaft ist. Dort argumentiert man schnell auf verlorenem Posten, und der Ton hat sich da auf beiden Seiten verschärft. Auf der einen Seite diejenigen, die in Frage stellen, dass es je eine Krise gegeben hat, auf der anderen Seite die Fraktion, die nach wie vor sehr vorsichtig ist. Zum Teil ja auch mit Recht, denn es gibt noch viele offene Fragen – zum Beispiel zu Long-­COVID. Ich glaube, es würde uns guttun, wenn wir es schaffen, besser miteinander zu reden. Das würde letztlich auch die Compliance bei Maßnahmen erhöhen, denn Maßnahmen können nur mit der Bevölkerung umgesetzt werden. Ich denke, die Pandemie ist in vielerlei Hinsicht eine Kommunikationskrise. Die Lage entwickelt sich dynamisch, der Begriff der Evidenz wurde zum Teil stark überstrapaziert. Aber die Politik muss halt Entscheidungen treffen – und wenn sie nichts entscheidet, ist auch das eine Entscheidung. Dabei müssen wir uns ebenso eingestehen, dass manche Dinge nicht zu verhindern waren. Am 25. November wurden die ersten Omikron-Sequenzen auf GISAID hochgeladen. Drei Wochen später war die Variante dominant in vielen Teilen der Welt. Da kann man dann auch nicht mehr wahnsinnig viel machen, so ehrlich muss man sein. 

Ich maße mir nicht an, Noten zwischen den Ländern zu vergeben, denn wo ist es denn wirklich perfekt gelaufen? Mir gefällt aber der Gedanke, dass unterschiedliche Länder auch voneinander lernen können. Für mich ist dabei Dänemark ein leuchtendes Beispiel. Die sind zeitnah aufgestellt, haben eine verhältnismäßig niedrige Übersterblichkeit und haben teilweise recht schnell und proaktiv reagiert. Das würde ich mir auch für Österreich wünschen.

Interview: Mario Rembold (9.5.22) 

(Foto: Franzi Kreis / CeEMM)

 

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Letzte Änderungen: 01.06.2022