Editorial

„Migräne ist viel mehr
als bloß Kopfschmerzen“

(16.05.2022) Rund eine Milliarde Menschen weltweit leiden unter Migräne. Adäquat behandelt wird die Krankheit aber häufig nicht, sagt Zaza Katsarava.
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Katsarava erforscht Kopfschmerzen. In unserem Ranking zur Anästhesie- & Schmerz­forschung taucht er nicht nur in den Top-Ten der meistzitierten Köpfe auf, er wirkte auch mit an der aktuell gültigen „Internationalen Klassifi­kation von Kopfschmerzen“ (Cephalalgia, 33(9): 629-808), die wir als dritthäufigst zitierten Review-Beitrag im Analyse­zeitraum ermittelt haben. Katsarava leitet die Neurologie am Christlichen Klinikum Unna. Wir sprachen mit ihm über Migräne.

Wie erkennt jemand, der von Kopfschmerzen betroffen ist, ob es sich um eine Migräne handelt?
Zaza Katsarava: Man ist schlecht darin, sich selbst eine Diagnose zu geben. Wer regelmäßig Kopfschmerzen hat, sollte definitiv einen Arzt aufsuchen. Die meisten Migräne-Patienten haben eine niederfrequente episodische Migräne. In diesem Fall reicht Aufklärung darüber, was das ist. Und es braucht eine adäquate auf den Patienten zugeschnittene Akut­medikation. Dann gibt es die Patienten, die die Migräne oder andere Kopfschmerzen häufiger haben. Die benötigen natürlich neben der Akuttherapie auch eine prophylaktische Therapie.

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Gibt es eine bestimmte Ursache oder einen Krankheits­mechanismus, der bei allen Migräne-Formen ähnlich ist?
Katsarava: Nein, denn Migräne ist ein Syndrom, keine Erkrankung. Wir wissen ziemlich sicher, dass es einen genetischen Hintergrund gibt. Aber diese Gene sind unterschiedlich und haben auch unterschiedliche Penetranz. Weiter kommen endogene Faktoren hinzu wie hormonelle Schwankungen und exogene Faktoren wie zum Beispiel Stress.

Ich habe gelesen, dass eine für Migräne typische Erweiterung der Blutgefäße vermutet wird. Dadurch werden die Schmerz­rezeptoren in den Blutgefäßen erregt, weil diese auf die Dehnung reagieren.
Katsarava: Das ist eine ziemlich vereinfachte Darstellung. Denn Migräne ist sehr viel komplexer. Was Sie ansprechen, ist die These: Wie entsteht der Kopfschmerz bei Migräne? Nun ist die Migräne gekennzeichnet durch Migräne-Attacken, und diese Migräne-Attacken sind viel mehr als bloß Kopfschmerzen. Es beginnt mit bestimmten Prodromal-Symptomen. Das sind die Vorläufer der Migräne-Attacken, zum Beispiel ein Verspan­nungsgefühl im Nacken, Stimmungs­schwankungen oder Heißhunger. Die verspürt man Stunden zuvor, oder sogar schon am Abend vor der Migräne-Attacke. Es gibt Patienten, die berichten: „Wenn ich so unerträglich bin zu Hause, dann sagt man mir, ich bekäme bestimmt morgen Migräne.“ Dahinter stecken also komplexe Mechanismen, es kommt zu spezifischen Veränderungen im Gehirn in unterschied­lichen Arealen. Das ist auf keinen Fall durch die Schmerz­rezeptoren oder die Gefäße erklärt.
Bei einem Teil der Migräne-Patienten kommt es außerdem zu einer Aura. Zum Beispiel in Form einer Sehstörung, eines tauben Arms, einem Schwäche­gefühl in Arm oder Bein oder einer Sprachstörung. Bei diesen Vorgängen hat man oft noch gar keine Kopfschmerzen; die Aura geht weg, und dann erst setzt der Kopfschmerz ein. Während des Kopfschmerzes sind dann natürlich auch die Gefäße oder die Hirnhäute wie entzündet – ich sage bewusst „wie entzündet“, denn es liegt ja keine bakterielle oder virale Entzündung vor. Und anschließend ist das noch immer nicht vorbei, sondern es bleibt eine Erschöpfung, eine Müdigkeit, ein Verspan­nungsgefühl oder Unwohlsein im Kopf. Das hält noch einmal 24 Stunden an.

Das erinnert an Epilepsie. Zum Beispiel das Auftreten einer Aura. Gibt es da Überlappungen?
Katsarava: Das sind unterschied­liche Dinge, wobei sich aber mehrere Vorgänge ähneln – wie zum Beispiel das Phänomen der Aura. Und auch beim epileptischen Anfall kommt es zu einer wellen­förmigen Ausbreitung einer neuronalen Überaktivität. Eine weitere Gemein­samkeit ist, dass Patienten mit Epilepsie ebenfalls oft Kopfschmerzen haben, entweder vor oder aber vor allem nach dem Anfall.

Vor einem Jahr haben Sie an einem Review mitgeschrieben zu Diagnostik und Management von Migräne (Nat Rev Neurol, 17(8): 501-14). Wie behandelt man denn betroffene Menschen? Sie haben ja schon angedeutet, dass man unterscheiden muss zwischen Patienten, die nur selten Migräne haben und solchen, die regelmäßig und häufig Attacken bekommen.
Katsarava: Deshalb sollte ja jeder Patient zunächst eine vernünftige Diagnose und eine ärztliche Aufklärung bekommen. Eine Akuttherapie ist natürlich bei allen Patienten notwendig, wobei aber individuell unterschiedlich ist, welches Medikament am besten funktioniert.

Sind das dann die üblichen Schmerzmittel, die man kennt?
Katsarava: Das kann Ibuprofen, Naproxen oder Novalgin sein, aber auch ein Migräne-spezifisches Medikament. Eventuell, je nach dem wie häufig man Anfälle bekommt, braucht man eben zusätzlich auch eine vorbeugende Therapie. Es gibt auch ganz harte Fälle, wo es um Patienten mit nahezu täglichen Migräne-Attacken geht. Die entwickeln häufig Komorbiditäten wie Depression, Angst­störungen oder anderweitige Schmerzen, und es kann Medikamenten-Missbrauch vorliegen. Diese komorbiden Erkrankungen muss man dann mit behandeln. Da sprechen wir also nicht mehr über ein unimodales Setting, sondern eine multimodale Therapie ist notwendig. In diesem Fall wird man vom Hausarzt an einen Neurologen, Schmerz­therapeuten oder in eine universitäre Schmerzklinik weitergeleitet. Denn für die primäre Versorgung sind diese Fälle zu komplex. Auch nicht-medika­mentöse Maßnahmen gehören zur Therapie: Trigger­faktoren wie Stress vermeiden sowie Sport und einen gesunden Lebensstil fördern.

Inzwischen bekommen einige Betroffene auch Antikörper zur Migräne-Prophylaxe. Was hat es damit auf sich?
Katsarava: Man hat einen Botenstoff identifiziert, der in der Migräne eine Rolle spielt, und das ist das CGRP, das Calcitonin Gene-Related Peptide. Menschen, die Migräne haben, schütten CGRP aus. Man weiß aus Experimenten, dass man bei Migräne-Patienten eine Migräne auslösen kann, indem man CGRP infundiert.

Also ist damit auch eine Kausalität belegt.
Katsarava: Genau. Und in den letzten Jahren sind dann diese monoklonalen Antikörper gegen CGRP aufgekommen. Entweder sie fangen dieses Molekül direkt ab, oder sie blockieren den CGRP-Rezeptor, was zum Beispiel Erenumab macht. Somit unterbrechen sie diesen Teufelskreis. Weil diese Antikörper sehr gut und Migräne-spezifisch wirken, sind sie den unspezifischen Migräne-Prophylaktika überlegen. In einer aktuellen Studie war Erenumab im direkten Vergleich besser als Topiramat beim Vorbeugen von Migräne (Cephalalgia, 42(2):108-118). Darüber hinaus sind diese Antikörper sehr gut verträglich.

Trotz aller Komplexität, die Sie betonen: Gibt es ein anschauliches Modell, wie Sie sich das Zusam­menspiel von Genetik und anderen Ursachen mit der Migräne vorstellen?
Katsarava: Wenn ich das modellhaft formulieren soll, würde ich sagen: Jeder von uns hat eine Schwelle für Kopfschmerz. Wenn man lange hungert oder nicht schläft oder zu viel Alkohol einnimmt, dann bekommt man Kopfschmerzen. Das ist bei der Epilepsie ähnlich: Wer unter Schlafentzug steht, wird einen epileptischen Anfall bekommen; der eine früher, der andere später. Ich stelle mir vor, dass die Genetik auch eine Schwelle für einen Migräne-Anfall festlegt. Dann kommen, wie gesagt, noch endogene Faktoren dazu. Eine Frau hat hormonell bedingt eine niedrigere Schwelle, und wenn es prämenstruell zu einem Abfall des Östrogen­spiegels kommt, kann das ein starker Trigger für einen Migräne-Anfall sein. Und eben die exogenen Faktoren: Hat jemand schlechte Arbeits­bedingungen oder einen unausstehlichen Chef oder sonst viel Streit und Ärger, kann auch das die Migräne-Schwelle senken.

Es sollen weltweit rund eine Milliarde Menschen von Migräne betroffen sein. Mir war nicht klar, wie häufig diese Erkrankung ist.
Katsarava: Das ist so, ungefähr 10 Prozent der Gesamt­bevölkerung leidet an Migräne, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer. 70 bis 80 Prozent haben die Migräne aber nur selten. Wichtig ist der kleine Teil, der immer noch riesengroß ist, aber leider Gottes noch immer nicht vernünftig versorgt wird.

Was könnte man da verbessern?
Katsarava: Es beginnt mit der Aufklärung der Bevölkerung, sich Hilfe beim Arzt zu suchen, anstatt das Leiden schicksalhaft hinzunehmen. Oft denken Betroffene: Meine Oma hatte das, meine Mutter hatte das, und meine Tante hat es auch. Es ist eben so ein Frauen­schicksal.

Stimmt, Migräne wird ja gern mal als eine nicht ganz so ernstzunehmende „Frauensache“ verharmlost.
Katsarava: Ja, genau. Hinzu kommt: Die Migräne tötet ja nicht, und sie führt nicht zu bleibenden Veränderungen und ist deshalb ein bisschen stigmatisiert. Deshalb ist auch die Edukation der Ärzte wichtig, vor allem der Hausärzte. Wir müssen ein Bewusstsein schaffen, dass die Migräne genauso eine organische Erkrankung ist wie eine Lungen­entzündung.

Das Gespräch führte Mario Rembold

Bild: Pixabay/madartzgraphics


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Letzte Änderungen: 16.05.2022