Nicht-codierend,
aber wichtig fürs Herz
(28.04.2022) Seit Comirnaty und Spikevax sind RNA-Therapeutika nichts Exotisches mehr. Cardior setzt die kleinen Moleküle bei Herzerkrankungen ein.
Es ist allgemein bekannt: Um ein Protein herzustellen, muss zunächst der zugrundeliegende DNA-Abschnitt in eine mRNA übersetzt werden. Erst mithilfe dieser mRNA kann das Protein synthetisiert werden. Aber RNA kann noch viel mehr. Denn nicht nur die für Proteine codierenden mRNAs spielen in unserem Körper eine Rolle. Auch Abschnitte der DNA, die nicht für ein Protein codieren, werden in RNA übersetzt. Und auch diese nicht-codierende RNA (ncRNA) ist für unsere Gesundheit von großer Bedeutung, denn viele zellinterne Prozesse werden von ncRNAs reguliert. Gerät die Bildung der nicht-codierenden RNAs aus dem Gleichgewicht, kann die Zelle ihre gewohnten Funktionen nicht mehr ausführen. So sind viele Herzkrankheiten auf ein Ungleichgewicht an ncRNAs zurückzuführen. Zum Beispiel werden bei den verschiedenen Formen der Herzinsuffizienz nicht-codierende RNAs überproportional stark gebildet, was als Ursache des Herzleidens gilt.
An die Wurzel des Übels
Cardior aus Hannover hat sich dieses Wissen zunutze gemacht. Die Firma entwickelt Medikamente auf der Basis nicht-codierender RNAs, die komplementär, also wie ein Spiegelbild zu den körpereigenen nicht-codierenden RNAs sind. Die RNA-Therapeutika lagern sich an ihre ncRNA-Pendants an und blockieren diese. So können Signalwege normalisiert und damit wieder ein gesundes Gleichgewicht hergestellt werden. „Unser Ziel ist es, Medikamente für Patienten mit Herzinsuffizienz zu entwickeln, die die Krankheit nicht nur wie bisher symptomatisch behandeln, sondern die Ursache der Krankheitsentstehung bekämpfen“, sagt Thomas Thum, Mitgründer von Cardior und Professor an der Medizinischen Hochschule Hannover.
Momentan verfügbare Therapien für Herzinsuffizienz packen das Übel nämlich nicht an der Wurzel. „Wir möchten das mit unseren Medikamenten ändern und damit einer Schädigung des Herzgewebes frühzeitig vorbeugen, sie im akuten Stadium verhindern oder sogar durch Normalisierung von wichtigen Signalkaskaden im Herzen pathologische Prozesse rückgängig machen“, fügt Thum hinzu.
Target: mikroRNAs
Die Idee, die Cardior Pharmaceuticals GmbH zu gründen, entstand, nachdem Thums Forschungsgruppe entdeckt hatte, dass bestimmte nicht-codierende RNAs, die miRNA-212/132-Familie, ursächlich sind für die Entstehung bestimmter Herzerkrankungen. So führt eine erhöhte Expression dieser mikroRNAs zu einem pathologischen Wachstum der Cardiomyocyten (Hypertrophie), was wiederum das Risiko für eine Herzinsuffizienz oder Herzversagen erhöht (Nat Commun, 3:1078). „Die Herausforderung bestand nun darin, diese vielversprechenden akademischen Forschungsergebnisse in klinische Produkte umzusetzen“, erzählt Thum. 2016 gründete Thum deshalb Cardior Pharmaceuticals zusammen mit Claudia Ulbrich als CEO und Sandor Batkai als Head of Competitive Intelligence. Momentan hat Cardior rund 25 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen; der Plan ist jedoch, das Team in den kommenden zwei Jahren auf über 40 zu vergrößern. Noch steht die Behandlung der Herzinsuffizienz, die sowohl nach Myokard-Infarkt als auch durch Übergewicht, Hypercholesterinämie und Bluthochdruck entstehen kann, im Fokus der Firma. Gleichzeitig arbeitet Cardior aber auch an ncRNA-basierten Therapeutika bei selteneren Erkrankungen wie der dilatativen Kardiomyopathie oder der hypertrophen Kardiomyopathie.
„Der nächste wichtige Meilenstein wird die Finalisierung einer größeren klinischen Phase-2-Studie sein, hauptsächlich um die Wirksamkeit eines von Cardior entwickelten Medikaments zu testen, aber auch um nochmals die bereits festgestellte Sicherheit und Verträglichkeit an einer großen Zahl von Probanden zu überprüfen“, berichtet Thum. Der Wirkstoff-Kandidat, ein miR-132-Inhibitor mit dem vorläufigen Kürzel CDR132L, punktete bereits in der Phase 1 mit gutem Sicherheitsprofil und verbesserten Herzfunktionswerten bei den teilnehmenden herzkranken Probanden (Eur Heart J, 42(2):178-188).
Aufschwung durch Impfung
Wann CDR132L offiziell auf den Markt kommen wird, ist allerdings schwer abzuschätzen. „Die Medikamenten-Entwicklung ist ein langer Prozess mit vielen Stufen und regulatorischen Überprüfungen“, so der Wissenschaftler. „Nach der Phase-2-Studie muss auch noch eine Phase-3-Studie erfolgreich verlaufen. Aber wir arbeiten jeden Tag daran, unsere Produkt-Kandidaten für Patienten verfügbar zu machen.“
Nicht nur Herzpatienten können möglicherweise von dem neuen Therapie-Ansatz profitieren. „Wir gehen fest davon aus, dass RNA-Therapeutika in Zukunft eine große Bedeutung für die Behandlung unterschiedlicher Erkrankungen spielen werden“, blickt Thum voraus. Die Frage, ob es dank der Impfstoffe von BioNTech & Co. einen merklichen Aufschwung für die RNA-Medizin gibt, bejaht der Forscher und sagt: „Auch wenn das Wirkprinzip der Impfstoffe ein grundlegend anderes ist als das bei den von Cardior entwickelten Medikamenten, so hat das große Interesse an dieser Technologie sicher den Aufschwung und die Akzeptanz der RNA-Medizin insgesamt sehr unterstützt“.
Apropos Unterstützung. 2,5 Millionen Euro hat Thums Team kürzlich von der EU für die Entwicklung eines weiteren RNA-Therapeutikums zugesprochen bekommen. Dieses Therapeutikum soll die lange, nicht-codierende RNA Meg3 blockieren und so eine Herzfibrose verhindern. In präklinischen Tests hat die Technologie bereits „ausgezeichnet funktioniert“. Dank der Förderung kann sich der Meg3-Inhibitor nun im Tiermodell beweisen. Allerdings finden die Versuche nicht bei Cardior statt, sondern an der Medizinischen Hochschule Hannover, die auch das Patent angemeldet hat. Denn „wir trennen hier universitäre und kommerzielle Firmeninteressen sehr strikt“, so Thum.
Eva Glink
Bild: Pixabay/Vic_B
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