Editorial

Uns ist in alten Mären ...

Anhand von mtDNA-Sequenzen aus alten Knochen werden immer neue Verwandtschaftsverhältnisse aufgeklärt, so die zwischen Etruskern und Italienern. Eine Handvoll Populationsgenetiker stellt deren Glaubwürdigkeit jedoch in Frage: Sie sagen, der größte Teil der mtDNA-Sequenzen sei Schrott.

(16.04.2007) Uns ist in alten Mären wunders vil geseit, von Helden lobebären von grozer Arebeit. Das Nibelungenlied hat einen historischen Kern und auch andere Sagen basieren auf historischen Ereignissen. So hat Heinrich Schliemann gezeigt, dass das Troja der Ilias wirklich existierte. Eine Folgeerzählung der Ilias ist die Sage von Äneas. Der Vetter des Priamos soll nach der Eroberung von Troja durch die Griechen mit Gefolgsleuten übers Meer nach Norditalien geflüchtet sein. Von ihnen sollen die Etrusker abstammen.

Die frühen Etrusker

Tatsache ist, dass die Etrusker den Geschichtsschreibern schon seit jeher Rätsel aufgaben. Ihre Sprache ist nicht indogermanisch, ist aber – unter anderem weil nur ein paar hundert etruskische Worte bekannt sind – auch keiner anderen Sprachgruppe mit Sicherheit zuzuordnen. Lediglich auf der ägäischen Insel Lemnos wurde eine Inschrift gefunden, die Ähnlichkeit mit dem Etruskischen hat. Des weiteren unterschied sich die etruskische Kultur von der ihrer italischen Nachbarn. Die Etrusker pflegten die Eingeweideschau, sie besaßen eine Offenbarungsreligion und sie waren ihren Nachbarn in der Metallverarbeitung überlegen. Die frühe etruskische Kultur zeigt auch Anklänge an Stilformen des Orients.

Zwei konkurrierende Theorien erklären die etruskischen Besonderheiten. Nach der einen sind die Etrusker von 3000 Jahren aus Anatolien in die heutige Toskana eingewandert, nach der anderen handelt es sich, wie bei den Basken, um Reste der nacheiszeitlichen Jäger-Sammler-Bevölkerung, die der Indogermanisierung entgangen sind.

Eine Gruppe italienischer, estnischer und deutscher Populationsgenetiker hat jüngst im American Journal of Human Genetics (2007, 80:759-768) Daten veröffentlicht, die die Einwanderungstheorie stützen. Achilli et al. (Nomen est Omen!) haben die mitochondriale DNA (mtDNA) von 322 lebenden Personen aus drei Gegenden des früheren Etruriens untersucht. 86 stammten aus Murlo, 114 aus Volterra und 122 aus dem Casentinotal. Murlo ist ein Dorf der Provinz Siena auf 300 m Höhe über dem Meer mit 2000 Einwohnern. Es liegt, wie man so schön sagt, "mitten in der Pampa". Volterra ist eine alte etruskische Stadt und das Casentinotal eine ablegene Gebirgsgegend.

Populationsgenetik mittels mtDNA-Sequenzierung

Humane mtDNA besteht aus einer Kodierungsregion für die mitochondrialen Proteine und einer Kontrollregion. Die Sequenz der Kodierungsregion ist stabil. Die Sequenz der Kontrollregion, insbesondere der zwei hypervariablen Sequenzabschnitte HVS I und HVS II, ist variabel. Populationsgenetiker pflegen daher nur die Kontrollregion und bei Bedarf einige Marker der Kodierungsregion zu sequenzieren, so auch Achilli et al. (Nukleotidposition 16024 bis 00210, zirka 750 bp). Die Sequenzmutationen werden in Haplogruppen zusammengefasst, die als genetische Marker dienen.

Achilli et al. fanden in der mtDNA ihrer zeitgenössischen Toskaner 39 Haplogruppen. Diese wurden verglichen mit den Haplogruppen von 58 europäischen und vorderasiatischen Völker. Die meisten der toskanischen Haplogruppen sind typisch für europäische Völker indogermanischer Abstammung, wie Deutsche, Franzosen und (nicht toskanische) Italiener. Es gab jedoch bei den Toskanern eine vergleichsweise hohe Frequenz von Haplogruppen, die typisch sind für Völker aus dem Nahen Osten, zum Beispiel U7 (Kernverbreitung im Iran), U3 (Kernverbreitung in Jordanien) und R0a (Kernverbreitung im nördlichen Saudi-Arabien). Besonders hoch waren die Frequenzen dieser nahöstlichen Haplogruppen in der mtDNA aus Murlo. Überdies wurden Übereinstimmungen spezieller Linien aus diesen Haplogruppen mit denen aus dem Nahen Osten gefunden.

Eine Hauptkomponentenanalyse, die die Haplogruppenfrequenzen einer Bevölkerungsgruppe auf zwei Koordinaten einer Ebene reduziert, ergab folgendes: Die nordeuropäischen und südeuropäischen Völker ergeben je einen Cluster, die eng nebeneinander liegen. Weit ab davon liegt der Cluster der Palästinenser, Syrer, Jordanier und Irakis. Die Haplogruppen der Leute von Volterra und dem Casentinotal liegen gut im südeuropäischen Cluster, die Haplogruppen aus Murlo dagegen auf halben Wege zum Nahen Osten. Zudem zeigen die oben erwähnten Haplotypen U7 und R0a neben ihrem Kern im Nahen Osten ein Inselvorkommen in der Toskana.

Siebzig Prozent der mtDNA-Sequenzen Schrott?

Zwei Jahre zuvor hatte die Arbeitsgruppe von Casoli aus Skelettresten von 28 alten Etruskern mtDNA isoliert und 23 Haplogruppen festgestellt (Vernesi et al., 2004). Achilli et al. haben diese Ergebnisse mit den ihren verglichen. Ihre Erkenntnis: Die Ergebnisse passen nicht. Achilli et al. schreiben: "70% der Haplotypen von Vernesi et al. passen nirgendwo in die mtDNA-Landschaft von West-Eurasien." Auf Deutsch: Siebzig Prozent der Sequenzen sind Schrott. Vernesi et al. dagegen kamen zu dem Schluss: "Genetische Distanzen und Sequenzvergleiche zeigen für die Etrusker engere evolutionäre Beziehungen mit den östlichen Küsten des Mittelmeeres als mit modernen Italienern. Alle mitochondrialen Abstammungslinien, die bei den Etruskern gefunden wurden, scheinen typisch für Europäer oder Westasiaten zu sein, aber nur ein paar Haplogruppen hatten eine exakte Entsprechung in modernen mitochondrialen Datenbanken." Da staunt der Laie.

Der Fachmann – und das dürfte bei Achilli et al. unter anderem der Coautor Hans Bandelt gewesen sein – hat jedoch eine einfache wenn auch deprimierende Erklärung für diesen Widerspruch: "A likely explanation is that postmortem DNA modifications and/or technical problems affected the Etruscan mtDNA sequences." Mit anderen Worten: Uns ist auch in neuen Mären "wunders vil geseit" und die "groze Arebeit" ist für die Katz, wenn der Experimentator die nötige Sorgfalt vermissen lässt. Damit kommen wir zu den "Helden lobebären": Bandelt und ein Häuflein Populationsgenetiker wie Walther Parson und Toomas Kivisild machen schon seit Jahren darauf aufmerksam, dass viele – auch neuere – mtDNA-Sequenzen von im Labor erzeugten Scheinmutationen geradezu strotzen. Bandelt hat einige Publikationen über die Entstehung solcher Fehler und ihre Ausmerzung veröffentlicht. Er führt in dieser Sache quasi einen Kreuzzug und legt öffentlich und rücksichtslos seinen Finger auf die Wunden, so neulich auf einem Kongress in Hyderabad.

Sein Erfolg blieb bisher mäßig: Nur selten sind die Autoren bereit, ihre Irrtümer öffentlich richtig zu stellen. Zwar versuchen sie häufig im nächsten Paper besser zu sequenzieren, oft aber werden Bandelts Mahnungen ignoriert. Da kann einem schon schwummrig werden: Wenn schon bei 3000 Jahre alter mtDNA solche Fehler auftauchen, was sind dann die noch zehnmal älteren Neanderthaler-Sequenzen wert? Und wie fehlerbehaftet sind die mtDNA-Banken und damit die aus ihnen gezogenen Schlüsse?

Zurück zu den mtDNA-Daten der modernen Toskaner, von denen man annehmen darf, dass sie mit gebotener Sorgfalt erstellt wurden. Seit der Einwanderung der Etrusker vor 3000 Jahren ist in der Toskana einiges geschehen: Eroberung durch die Römer, Invasion der Kelten, Sklavenimporte, Züge der Goten, Alamannen, Franken, Langobarden. Berberische und türkische Piraten haben die Küsten der Toskana verheert, deutsche Landsknechte und französische Soldaten das Binnenland. Dazu kommen die Auswanderungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Dennoch ist die 3000 Jahre alte lokale Einwanderungswelle immer noch im Genpool der heutigen Bewohner nachweisbar. Diese genetische Konstanz ist umso erstaunlicher, als nicht anzunehmen ist, dass die etruskischen Einwanderer die Einheimischen vollständig verdrängt haben. Dafür fehlten in damaliger Zeit wohl die Mittel.

Siegfried Bär



Letzte Änderungen: 17.04.2007