Editorial

Wie schön sich Politik in Wissenschaft einmischt

(05.04.2022) In England bittet die Politik die Wissenschaft immer wieder zu Debatten. Diese laufen dann kompetent, kritisch und transparent. Und hierzulande?
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Manch einer wird sich vielleicht erinnern: Vor nicht allzu langer Zeit wünschte ich mich an dieser Stelle nach England, weil dort die klinische Corona-Forschung der deutschen so sehr überlegen ist (LJ 9/21: 26-7). Und schon wieder packt den Narr der Neid, da in Sachen Wissenschaft einiges auf der Insel so viel besser läuft als bei uns. Konkret zu tun hat das ausgerechnet mit parlamen­tarischer Kontrolle der Wissenschaft – eine staatliche Einmischung ins freie Forschen, deren Vorstellung allein schon jeden deutschen Wissen­schaftler in Angstschweiß ausbrechen lässt.

Aber der Reihe nach. Stellen Sie sich vor, Sie leiden an den Symptomen einer bisher nicht befriedigend behandel­baren Erkrankung. In einer deutschen Uniklinik eröffnet man Ihnen, dass es ein neues, aussichts­reiches Medikament für eine potenzielle Behandlung gibt. Und man bietet Ihnen an, an einer laufenden Studie teilzunehmen.

Im Aufklärungs­gespräch erfahren Sie, dass Sie in solch einer Studie mit fünfzig Prozent Wahrschein­lichkeit ein Scheinmedikament – also ein Placebo – erhalten würden, und dass das Studien­medikament – von dem man ja noch nicht weiß, ob es wirkt – eine Reihe von unange­nehmen, teils auch gefährlichen Neben­wirkungen haben könnte. Von Ihrer Teilnahme an der Studie profitieren Sie also möglicher­weise gar nicht selbst, vielleicht schadet sie Ihnen sogar. Aber in jedem Fall würden die Ergebnisse der Studie nachfolgenden Patienten mit derselben Erkrankung nützen, da sie dann möglicher­weise besser behandelt werden können.

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Sie willigen unter diesen Umständen in die Studien­teilnahme ein. Schließlich besteht zumindest die Möglichkeit eines persönlichen Nutzens, und der Nutzen für andere ist sogar garantiert. Aber würden Sie an der Studie auch teilnehmen, wenn Sie wüssten, dass die Ergebnisse solcher klinischen Studien häufig gar nicht veröffentlicht werden? Oder erst viele Jahre nach Abschluss?

Vermutlich nicht. Leider aber ist genau das die traurige Praxis. Ganz sicher jedoch hätte man Ihnen dies im Aufklärungs­gespräch verschwiegen.

Randomisierte und kontrollierte klinische Studien (RCT) wie die eben beschriebene sind der Goldstandard, wenn es darum geht herauszufinden, ob ein neues Medikament wirkt oder nicht – oder ob es gar schädlich für die Patienten ist. Ein neues Medikament kann nur zugelassen werden, wenn positive Evidenz aus einer, meist sogar zwei großen RCTs vorliegt. Darin werden die Studien­teilnehmer per Zufall in zwei Gruppen eingeteilt, die entweder eine Schein­behandlung (Placebo) oder das Studien­medikament erhalten.

Ein Patient, der sich zur Teilnahme an solch einer klinischen Studie entscheidet, hat somit nicht nur keine Gewissheit, ob er das neue Medikament überhaupt erhält. Zum Zeitpunkt der Studie ist auch unklar, ob das Medikament nützt oder vielleicht sogar schädlich ist. Die Studien­teilnahme birgt also ein Risiko, das sich in etwa mit dem potenziellen Nutzen die Waage halten muss (sogenannte „Equipoise“). Nur dann wird die Ethik­kommission grünes Licht für die Studie geben.

In der Aufklärung vor der Studien­teilnahme wird all dies den Patienten erläutert. Die Teilnahme an der Studie dient also nicht notwen­digerweise der eigenen Gesundheit (obzwar das natürlich nicht ausgeschlossen ist) – sondern man geht insbesondere ein Risiko zum Nutzen späterer Generationen von Menschen mit derselben Krankheit ein. Die Studien­teilnahme ist damit ein altruistischer Akt.

Was aber, wenn die Ergebnisse dieser Studien gar nicht oder erst stark verzögert veröffentlicht werden? Dann hätten die Studien­verantwortlichen die Patienten getäuscht, und diese umsonst ein Risiko auf sich genommen. Deshalb fordern sowohl die Europäische Union wie auch die WHO, dass die wichtigsten Studien­ergebnisse innerhalb von zwölf Monaten nach Abschluss der Studie veröffentlicht werden müssen. Bei Studien an Kindern beträgt diese Frist sogar nur sechs Monate. Daher ist es schockierend, dass die Mehrzahl der klinischen Studien an medizinischen Universitäten in Deutschland nicht fristgerecht, sondern oft erst viele Jahre später veröffentlicht werden – nicht selten aber auch gar nicht.

Ich will klar sein: Das ist unethisch, das ist ein Verrat am Altruismus der Studienteilnehmer.

Entgegen ihrem schlechten Ruf hält sich übrigens die Pharma­industrie in den von ihr organisierten Studien überwiegend an diese Regeln – vermutlich aus Angst vor rechtlichen und finanziellen Konsequenzen sowie einem möglichen Image­schaden. Ganz im Gegensatz zu den medizinischen Universitäten, die in Studien die Wirksamkeit von Therapien untersuchen, die in ihren Laboren entwickelt oder von ihren Klinikern erdacht wurden. Das wissen wir so genau, weil Ben Goldacre von der Universität Oxford, der Autor des Klassikers „Die Pharmalüge“ („Bad Pharma“), sogenannte „Trial Tracker“ ins Netz gestellt hat – beispielsweise den „EU Trials Tracker“ für das European Union Clinical Trials Register (EUCTR). Diese fungieren seitdem als eine Art digitaler Pranger, mit dessen Hilfe sich ein jeder davon überzeugen kann, wie gut oder wie schlecht eine Firma oder akademische Einrichtung im Veröffentlichen ihrer klinischen Studien­ergebnisse ist.

Stöbert man in solch einem Trial Tracker, fällt einem bald auf, dass die britischen Universitäten hier ausgezeichnet abschneiden: Beim Veröffentlichen der Ergebnisse fast all ihrer Studien bleiben sie im vorgeschriebenen Zeitrahmen. Die deutschen Studien schneiden dagegen viel, viel schlechter ab. Was im Übrigen auch mein Kollege Daniel Strech in einer sehr detaillierten Studie nachgewiesen hat, in der er sich alle 36 deutschen medizinischen Universitäts­zentren vorgenommen hatte.

Aber woran liegt es, dass die britischen Unis ihre wichtigsten Studien­ergebnisse fast immer zeitnah veröffentlichen – und die deutschen nicht? War das etwa schon immer so?

Nein. Noch vor ein paar Jahren handelten die britischen Unis genauso „unethisch“ wie die deutschen! Allerdings hat sich in England dann die Politik des Problems angenommen und die Unis ganz einfach dazu verdonnert, ihre Studien­ergebnisse zeitgerecht und vollständig zu berichten. Und das ging so: Das britische Parlament hält sich eine Reihe von sogenannten „Select Committees“, eines davon ist das „Science and Technology Committee“ des Unterhauses. Dessen Aufgabe ist es, darauf zu achten, dass die Politik und die Entscheidungs­findung der Regierung auf soliden wissen­schaftlichen Erkenntnissen und Ratschlägen beruhen.

Wie in Deutschland ist auch in England der Staat direkt oder indirekt ein wesentlicher Geldgeber der klinischen Forschung. Diese ist recht teuer, kann viel Nutzen bringen – es kann aber auch einiges schiefgehen. Der englische Staat achtet daher darauf, ob seine Fördermittel effektiv, effizient und ethisch eingesetzt werden.

Unter anderem ausgelöst durch eine im British Medical Journal veröffentlichte Studie des schon erwähnten Ben Goldacre setzte das „Science and Technology Committee“ um 2018 herum die skandalöse, da verzögerte oder gar ganz ausbleibende Veröffent­lichung von klinischen Studien­resultaten auf seine Tagesordnung. Schon 2013 hatte sich das Committee des Themas angenommen – und schöpfte einen ersten Verdacht. Doch beließ man es damals noch bei der Veröffent­lichung eines mahnenden Reports.

Also hörte man sich abermals die führenden Experten zum Thema an und lud zudem die wichtigsten Vertreter von Universitäten ein, die klinische Studien durchführen. Das Ganze wurde, wie fast alle Sitzungen dieser Unterhaus-Committees, live im Fernsehen übertragen und danach auf einem YouTube-Kanal archiviert. Es ist durchaus sehenswert, wie sachkundig, partei­übergreifend und direkt die Parlamentarier hier zur Sache gingen. So macht selbst Parlaments­fernsehen Spaß!

Die Protokolle dieser Anhörungen wurden samt der Resultate aus den Diskussionen als „Report“ ins Netz gestellt. Und man höre und staune: Die Politik hat den Unis daraufhin das Messer an die Brust gesetzt. Entweder ihr löst das Problem innerhalb von sechs Monaten, oder wir überdenken die staatliche Förderung eurer Institutionen! Der Rest ist Geschichte. Die Unis veröffentlichten alle überfälligen Ergebnis-Reports in den zugehörigen, für jeden zugänglichen Studien­registern – und sind seither auch nicht mehr rückfällig geworden.

Der Narr war beeindruckt. Auch bei anderen Themen, die sich der Ausschuss auf den Tisch gezogen hatte – wie zum Beispiel die britische Corona-Wissenschaft. Spätestens da wurde er zum „Binge-Viewer“ des britischen Parlaments­fernsehens. Was für eine Transparenz! Was für ein Sachverstand! Was für eine No-Nonsense-Debattenkultur!

Derzeit befasst sich das Committee übrigens – und das ist kein Scherz! – mit einem Lieblings­thema dieser Kolumne: „Reproducibility and Research Integrity“. Nach einem Aufruf, bei dem jeder Brite seine Sichtweise einbringen konnte, hat das Komitee nun schon zweimal – und natürlich öffentlich – getagt und schloss dabei alle wichtigen Stakeholder ein – also die Unis, die Verlagshäuser, die Fördergeber sowie führende Kritiker des gegen­wärtigen Wissenschafts­systems. Auch junge Wissenschaftler kamen in den Anhörungen zu Wort – #IchbinHanna ließ also durchaus grüßen (siehe auch LJ 1-2/22: 24-7).

Und was soll ich sagen: Manchmal taten mir die in den Sitzungen peinlich Befragten richtig leid. Zum Beispiel die Vertreterin des Verlagshauses Wiley, die von den Parlamentariern mit lauter richtigen Fragen und Argumenten regelrecht an die Wand genagelt wurde.

Angesichts dessen stellt sich nun unmittelbar die Frage, wie das in Deutschland mit der wissen­schaftlichen Politikberatung für den Deutschen Bundestag läuft? Kümmert es die Politik, wie Forschungsmittel eingesetzt werden? Was macht eigentlich der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik­folgen­abschätzung des Deutschen Bundestages? Haben Sie von dem schon mal gehört? Und wissen Sie, was der mit seinen 38 Mitgliedern so macht?

Beflügelt von den „englischen Verhältnissen“ sowie unterstützt durch die Lobbyisten von Wikimedia hatte ich es in der letzten Wahlperiode sogar zu einem Termin beim Vorsitzenden dieses Ausschusses gebracht. Mein Ziel: Aufmerk­samkeit in der Politik zu schaffen für die ausbleibende oder verzögerte Veröffent­lichung von klinischen Studien­resultaten. Schließlich hatten die Untersuchung von Daniel Strech, der Trial Tracker von Ben Goldacre und die Transparimed-Aktivitäten von Till Bruckner im Jahr 2019 die ganze Misere in Deutschland gerade offengelegt. Hatte mein Vorstoß irgendwelche Konsequenzen? Etwa eine Befassung des Ausschusses mit dem Thema? Immerhin sind das BMBF und die DFG die Geldgeber der klinischen Studien von deutschen Universitäten – da müsste doch der Staat ein Interesse haben, das in Ordnung zu bringen. Leider komplette Fehlanzeige. Nichts ist passiert.

Wenn man sich die Protokolle der Sitzungen dieses Bundestags­ausschusses anschaut, wird einem auch klar, warum das so war. Im Ausschuss geht es bei marginalem Sachverstand ganz wesentlich um Parteipolitik. Partei A bringt einen Antrag ein – Partei B (Opposition) bringt diesen dann zu Fall. Mal A den Antrag von B, mal B den Antrag von A. Wieder und wieder. Das Ganze ist zudem total intransparent, da die Sitzungen fast ausschließlich nicht-öffentlich und die Sitzungs­protokolle wenig informativ sind.

Gibt es denn vielleicht ein anderes parlamen­tarisches Gremium in Deutschland, das sich mit solchen Themen befassen würde? Mir ist jedenfalls keines bekannt – und wenn, dann hätte es keinen Impact.

Interessiert sich in Deutschland überhaupt irgendjemand dafür, ob das Geld, das in die Forschung fließt, verantwor­tungsvoll eingesetzt wird? Ob die Ergebnisse aus öffentlich geförderten Projekten anderen Forschern und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden? Ob sie überhaupt veröffentlicht werden, oder dass die Publikationen aus solchen Studien hinter Paywalls verschwinden? Und weiter: Interessiert es jemanden, ob die Corona-Maßnahmen des Bundes und der Länder evidenz-basiert und effektiv waren? Und was man in (oder vor) der nächsten Pandemie besser machen könnte?

Solange wir dieses Interesse der Politik hierzulande nicht haben, bleibt nur der neidvolle Blick zu den glücklichen Briten. Immerhin können wir im Internet deren Parlaments-Sendungen verfolgen und die Kommissions­berichte herunterladen. Da stehen schlaue Sachen drin, und einiges davon lässt sich auch ohne Politik umsetzen. Bei der Veröffentlichung klinischer Studien­resultate geschieht das gerade tatsächlich. Die deutschen Unis werden langsam besser. Sie beginnen, dem englischen Beispiel zu folgen.

Ulrich Dirnagl

Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: http://dirnagl.com/lj.


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Letzte Änderungen: 05.04.2022