Editorial

Wissenschaft durch Konsens

(04.02.2022) Eine Entdeckung gilt oftmals erst dann als 'wahr', wenn genügend andere Forscher sie als solche anerkennen.
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Das hehre Ziel der Wissenschaft ist die Suche nach dem, was wahr und richtig ist. Und immer wenn sie etwas Wahres und Richtiges findet, dann endet die unangenehme Zeit des Glaubens, Spekulierens oder Ahnens – denn dann wissen wir. Heißt es.

Allerdings, es läuft oft anders: Da findet jemand etwas Richtiges, aber (fast) alle anderen glauben es (zuerst) nicht. Und deswegen wird es auch (vorerst) nicht in den Stand des Wissens erhoben.

Beispiele sind genug bekannt: Semmelweis‘ Kindbettfieber, Prusiners Prionen, die Helicobacter-Story… – selbst Mendels Gesetze der Vererbung brauchten vier Jahrzehnte. Immer mussten erst genug andere Forscher mit einstimmen, dass sie recht hatten, bevor wir überhaupt von ihnen hörten.

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Doch Moment! Das klingt ja fast so, als ob die Wissenschaft in letzter Konsequenz über Konsensbildung funktioniere?

Sicher, öffentlich abgestimmt wird nicht über „wissenschaftliche Wahrheiten“ – aber dennoch entscheidet tatsächlich meist der Konsens der „Community“, was wahr ist, und was nicht. In gewissem Sinne votiert die Community darüber. Und gerade die „einsamen Helden“ wie die oben erwähnten belegen eindrucksvoll dessen Existenz – eben weil sie oftmals lange gegen dieses System der Wahrheitsfindung durch Konsensbildung der Community anrennen mussten.

Zu neu für die Kollegen

Barbara McClintock beispielsweise schien seinerzeit schon früh zu ahnen, wie mühsam damals der Weg bis zur Anerkennung ihrer Entdeckung der mobilen DNA-Elemente durch dieses „Konsens-System“ werden würde. Als sie die ersten Daten hatte, die ihr die „springenden Gene“ anzeigten, vertraute sie diese einem Freund an und schrieb dazu:

„Du siehst sofort, warum ich es nicht gewagt habe, einen Bericht über diese Geschichte zu veröffentlichen. Es gibt daran so vieles, was völlig neu ist, und die Implikationen deuten derart klar auf ein komplett verändertes Konzept der Genmutation hin, dass ich keinerlei Aussagen dazu machen wollte, bevor die Beweislage nicht schlüssig genug ist, um mich komplett von der Gültigkeit der Konzepte zu überzeugen.“

Wie man heute weiß, dauerte es selbst dann noch Jahrzehnte, bis genug Kolleginnen und Kollegen ebenfalls fanden, dass sie zu hundert Prozent richtig lag.  

Ralf Neumann

(Illustr.: Max Stolyarov)

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Letzte Änderungen: 03.02.2022