Spitzenreiter USA
Das Vereinigte Königreich fällt in die nächsthöhere Kategorie mit 261 Studien und knapp einer Million geplanten Probanden. Spitzenreiter sind die USA mit 842 Studien, davon 270 mit internationaler Beteiligung, mit über 21 Millionen geplanten Studienteilnehmern. Jörg Meerpohl, Direktor des Instituts für Evidenz in der Medizin der Universität Freiburg sowie Direktor von Cochrane Deutschland, konstatiert: „Es ist ernüchternd zu sehen, dass es Deutschland nicht in größerem Umfang gelungen ist, wichtige klinische Studien zu COVID-19 durchzuführen beziehungsweise diese wie geplant abzuschließen.“
Die betreffenden Analysen verantworten Lars Hemkens und Perrine Janiaud des Basler Instituts und ihre Kollegen. Das Paper zu deutschen Studien ist noch im Peer-Review-Verfahren. Wie die Forscher schreiben, hat das Paper zwar einige Limitationen. Dazu gehört jedoch nicht, was Oliver Cornely bemängelte: Der Leiter des Wissenschaftlichen Zentrums für Klinische Studien in Köln hält allein die Anzahl der klinischen Prüfungen für kein vernünftiges Bewertungsmaß. Es sei wichtiger, zu fragen, welche Studien Ergebnisse gebracht hätten, die die Behandlung verbesserten.
Von Platz 1 auf Platz 4
Kritik an dem Paper ändert allerdings nichts an dem seit langem bekannten Kernproblem: Die klinische Forschung in Deutschland ist ausbaufähig, nicht nur hinsichtlich COVID-19-Studien. Beispiel Onkologie: Bei der Prüfung von Krebstherapeutika sei Deutschland in den vergangenen Jahren von Platz eins in der Welt auf Platz vier zurückgefallen, kritisierte der Direktor des Centrums für Integrierte Onkologie (CIO) und Direktor der Klinik für Innere Medizin der Universität Köln, Michael Hallek, auf der „Vision Zero“-Konferenz, die im Juni in Berlin stattfand.
„Das Potenzial zur Durchführung hochrelevanter klinischer Studien, die aus der Universitätsmedizin heraus initiiert werden, ist in Deutschland grundsätzlich sehr hoch – wie auch die Nachfrage im Programm ‚Klinische Studien‘ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zeigt –, aber es ist bei weitem nicht ausgeschöpft“, urteilt Britta Siegmund, Direktorin der Klinik für Gastroenterologie und Infektiologie an der Charité Berlin und Vizepräsidentin der DFG. Das alles ist nicht neu. Seit zig Jahren erheben forschende Kliniker, DFG und Wissenschaftsrat immer und immer wieder ihre kritischen Stimmen.
Natürlich wurden viele Vorschläge zur Behebung der gravierendsten Hindernisse entwickelt. Und hier und da wurde man sogar aktiv. So finanziert die DFG inzwischen dauerhaft ein Förderprogramm „Klinische Studien“, in dessen Rahmen sie interventionelle klinische Studien bis Phase 2, aber auch Beobachtungs- und Machbarkeitsstudien unterstützt.
Inkonsequent und unvollständig
„Natürlich wäre mehr Geld für die klinische Forschung prima, doch damit alleine ist es leider nicht getan. Denn die Probleme sind vielfältig“, so Cochrane-Deutschland-Direktor Meerpohl. „Es fängt schon bei der Planung und Registrierung an – und hört bei der unvollständigen oder nicht existenten Veröffentlichung von Daten auf.“ So muss eine Studie zum einen nicht unbedingt registriert werden und kann zum anderen – wenn doch – in einem von mehreren Registern gemeldet werden. Wenn man Studien aber nicht einfach findet, können sowohl wissenschaftliche Lücken wie auch Redundanz entstehen.
Klinische Forschung erweckt für Mediziner und Molekularbiologinnen auch nicht den Eindruck, besonders attraktiv zu sein. Meerpohl: „Hinter den angesehenen experimentellen Doktorarbeiten in der Medizin verbergen sich in der Regel Laborarbeiten, selten klinische Studien. In Gesprächen mit internationalen Kollegen merke ich, dass die klinische Forschung in anderen Ländern ein höheres Ansehen hat und attraktiver ist als in Deutschland.“ Es gibt ja auch keine entsprechenden Qualifikationen wie Facharzt oder Weiterbildungen für klinische Epidemiologie. „Also fehlt vielfach auch die Methodenkompetenz“, so Meerpohl.
Ganz besonders beklagt wird die hiesige überbordende Regulationswut. Oliver Cornely, beschreibt das anhand eines Beispiels: „Sie möchten bei 75-Jährigen in einer randomisierten Studie prüfen, ob der mRNA-Impfstoff von BioNTech oder der von Moderna die bessere Immunantwort hervorruft. Die Aufklärungsunterlagen umfassen 42 Seiten. Keine Kürzung möglich, wenn man allen Vorschriften genügen will.“ Auch vfa-Präsident Han Steutel bestätigt: „Für unsere Unternehmen spielt Geschwindigkeit eine große Rolle – und ausgerechnet sie ist Deutschlands größtes Manko. In der Zeit, die man hierzulande braucht, um alle Genehmigungen einzuholen und die Verträge mit den Kliniken zu verhandeln, werden oft in anderen Ländern bereits alle nötigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer für die Studie rekrutiert und behandelt.“
Heiße Luft?
Manches wird sich 2022 mit Inkrafttreten der neuen EU-Verordnung für Genehmigungsverfahren zu klinischen Prüfungen verbessern, die dann auch in Deutschland greifen. Und auch auf Seiten der Bundesregierung sind tatsächlich Veränderungen am Start. So fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) den Aufbau des Forschungsnetzwerks Universitätsmedizin mit 240 Millionen Euro bis zum Jahr 2024, „um die Forschungsaktivitäten der deutschen Universitätsmedizin zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie zu stärken”, wie es auf der Website des Netzwerks heißt. Allerdings fragt man sich, warum die Politik erst jetzt und nur für COVID-19-Forschung Strukturen ändert und Geld lockermacht.
Dringend nötig wäre es vielmehr, endlich die vielfach vorgedachten Reformen in den klinischen Strukturen, der wissenschaftlichen Ausbildung, dem Datenschutz und der Verwaltung umzusetzen, damit die klinische Forschung auch in Deutschland (wieder) florieren kann.
Karin Hollricher
Bild: Juliet Merz
Mehr Illustrationen von Juliet gibt es auf ihrer Behance-Seite.
Dieser hier gekürzte Artikel erschien zuerst in ausführlicher Form in Laborjournal 12/2021.
Weitere Artikel aus dem aktuellen Laborjournal-Heft
- Baupläne, die sich selbst schreiben
Lebende Systeme tragen keinen festen Bauplan in sich; ihre Strukturen formen sich immer wieder neu. Dabei lassen einfache Regeln komplexe dynamische Gebilde entstehen.
- Heilsame Narkose
Inhalations-Anästhetika können die Blut-Hirn-Schranke schädigen. Eine neue Studie offenbart jedoch: Richtig dosiert können Isofluran und Co. Krebstherapien effektiver machen.
- Zellkultur mit Plättchenlysat
Ergebnisse aus der Grundlagenforschung in die Therapie zu übertragen, ist angesichts der rasanten Entwicklung in der regenerativen Medizin nicht immer einfach. Zellkulturlabore sollten deshalb bei der Etablierung von Protokollen heute schon an morgen denken und Nährmedien für die Zellkultur mit Bedacht wählen.