Editorial

Das Märchen von der Alzheimer-Therapie

(09.11.2021) Wie eine Forschungs-Monokultur über dreißig Jahre abgeschottet und unbeirrbar vor sich hin forscht – und zwangsläufig erfolglos bleiben muss.
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Es war einmal vor gar nicht allzu langer Zeit, da entschlüsselte die biomedi­zinische Wissenschaft Schritt für Schritt die Entstehungs­mechanismen einer der furcht­barsten und gleichzeitig häufigsten Erkran­kungen des Menschen. Wenn wir nur alt genug werden, befällt sie die meisten von uns. Forscher aus den verschiedensten Gewerken der medizinischen Forschung – Genetik, Molekular­biologie, Histo­pathologie et al. – machten sich gemeinsam auf, ihre Mechanismen zu verstehen und eine Therapie zu entwickeln.

Bald konnte man mit Tiermodellen die humane Pathologie rekapitulieren. Eine elegante und zugleich recht simple biochemische Theorie wurde entwickelt, mit der man die Entstehung und die Symptome der Erkrankung plausibel erklären konnte. Aus der Theorie wiederum ließ sich direkt eine Therapie ableiten, die die Progression der Krankheit stoppen, ja vielleicht sogar umkehren könnte. Gleichzeitig wurden bildgebende Methoden entwickelt, die das krankheits­auslösende Protein im menschlichen Gehirn schon vor Einsetzen der ersten Symptome anzeigten – und damit auch Diagnose und Therapie­kontrolle ermöglichten.

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Aus dem Blut von Menschen, die offensichtlich resistent gegen diese Erkrankung waren, isolierte man Antikörper gegen das krankheits­auslösende, fehlgefaltete Protein. Diese konnten rekombinant industriell hergestellt werden und erwiesen sich in großen klinischen Studien tatsächlich als wirksam. Grund genug für die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA), sie im beschleunigten Verfahren als Medikamente zuzulassen.

Zum ersten Mal war damit eine Therapie gefunden, die den Verlauf dieser schrecklichen Erkrankung beeinflussen konnte. Ein Triumph der medizinischen Forschung und des Zusammen­spiels von akademischer Wissenschaft, Pharma­industrie und Zulassungs­behörden. Die Krankheit hatte, wie es die Forscher vorhergesagt hatten, offenbar viel von ihrem Schrecken verloren. Die Lebensqualität von Aber­millionen Patienten und deren Angehörigen verbesserte sich, die Aktienkurse der beteiligten Pharma­konzerne stiegen unaufhaltsam. Bald darauf wurde den Erstbeschreibern des Path­omecha­nismus ein Nobelpreis verliehen.

Ein modernes, medizinisches Märchen! Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute ...

Vieles davon ist tatsächlich passiert. Das auf der kanonischen Amyloid-Hypothese basierende Medikament Aducanumab der Firmen Biogen und EISAI – ein rekombinanter humaner Antikörper gegen aggregierte lösliche und unlösliche Formen des Beta-Amyloids (Aβ) – wurde in diesem Jahr von der FDA zugelassen. Dabei reduziert die Therapie zwar Aβ im Gehirn, hat aber dennoch bisher keine gesicherte Wirkung auf den Krankheits­verlauf gezeigt.

Gesichert ist dagegen, dass die Neben­wirkungen dieser Therapie enorm sein können – und dies tatsächlich auch häufig sind. Genauso sicher ist, dass die Therapie im Jahr fast 60.000 US-Dollar kostet, die dazu nötige sehr teure Diagnostik gar nicht mit eingeschlossen. Das Medikament hat also nicht nur medizinische, sondern auch ökonomische Toxizität.

Folglich lohnt es sich, wegen der Lehren, die sich aus dieser Geschichte ziehen lassen, mal genauer hinzuschauen – und dabei die Frage zu stellen, wie es so weit kommen konnte.

Alois Alzheimer legte bereits in seiner Erstbe­schreibung der nach ihm benannten Hirnerkrankung eine Fährte, der die Wissenschaft der kommenden hundert Jahre wie hypnotisiert folgen sollte. Alzheimer beschrieb nämlich nicht nur die klinischen Symptome, also im Wesentlichen die Demenz als typisches Merkmal der Erkrankung, sondern auch die dazugehörige charak­teristische Gehirn-Pathologie. Er fand in den Gehirnen der Patienten sowohl zugrunde gegangene Nervenzellen als auch charak­teristische Eiweiß­ablagerungen, die sogenannten Plaques.

So richtig los mit der Patho­physiologie ging es dann in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, als man die Plaques als extrazellulär deponiertes Aβ identifizieren konnte und das Tau-Protein als Grundbaustein der unlöslichen Fibrillen innerhalb der kranken Hirnzellen ermittelte. Von da an ging es Schlag auf Schlag. Die Biochemie des Amyloid-Stoffwechsels wurde mit allen zugehörigen Enzymen aufgeklärt. Genetiker fanden in Familien von Patienten, die an seltenen erblichen Demenz­formen litten, Mutationen in Amyloid-Vorläufer­proteinen sowie Amyloid-prozes­sierenden Enzymen. Ein bestimmtes, in Plaques konzentriertes Amyloid­fragment stellte sich in Experimenten in Zellkulturen und Versuchstieren als toxisch für Nervenzellen heraus. Gentechnisch veränderte Mäuse, in deren Genome man die mutierten Gene von Patienten mit dominant vererbter Alzheimer-Erkrankung eingebracht hatte, entwickelten Plaques im Gehirn. Reduziertes Amyloid-beta-Peptid(1-42) im Nervenwasser korrelierte mit der Erkrankung.

Auch konnten nuklear­medizinische Kontrast­mittel entwickelt werden, die das Aβ im Gehirn von Patienten nicht-invasiv bildgebend darstellen und sogar quantifizieren konnten. Die Aβ-Bildgebung erreichte damit eine hohe Sensitivität für den Nachweis der Alzheimer-Pathologie. Darüber hinaus konnte sie das Fortschreiten von leichter kognitiver Beeinträchtigung zur Alzheimer’schen Erkrankung vorhersagen. Schließlich kann falsch prozessiertes Amyloid, das sich im Gehirn ablagert, Neuronen zerstören – und damit weiter zur Minderung der Hirnleistung und Demenz beitragen.

Klar, dass daher verschiedene Strategien zur Elimination des Übeltäter­proteins entwickelt und klinisch getestet wurden. Das Prinzip: Aktive Immunisierung (Vakzinierung) beziehungsweise monoklonale Antikörper – mit dem Ziel, dass letztlich das eigene Immunsystem den Eiweiß-Müll einsammelt und beseitigt. Die Antikörper wurden der Natur abgeschaut, indem sie vorwiegend aus Menschen im hohen Lebensalter isoliert wurden, die geistig noch überdurch­schnittlich fit waren. Und siehe da: Vakzinierung und Antikörper waren in der Lage, Plaques aus den Gehirnen von Alzheimer-Patienten zu beseitigen! Auch in Mäusen, die Gene von Patienten mit der erblichen Form der Erkrankung exprimierten und ebenfalls Plaques entwickelten, funktionierte es.

Dieses eindrucksvolle Universum vielfältiger Evidenz machte die Amyloid-Hypothese der Alzheimer-Erkrankung zu einer scheinbar wasser­dichten linearen Theorie, die sich innerhalb von dreißig Jahren zum absoluten Dogma von Wissenschaft und Industrie entwickeln konnte. Allerdings hatte sie einen einzigen Schön­heitsfehler: Die abgeleitete Therapie beseitigte zwar Aβ, nicht aber die Demenz.

Eine Erklärung hierfür war jedoch schnell gefunden: Die Therapie kommt zu spät, der Schaden im Gehirn war vorher schon passiert! Also muss vor Krank­heitsbeginn therapiert werden! Seit kurzem ist jedoch klar: Auch dies scheint nicht zu funktionieren. Gen-Träger der dominant vererbten Alzheimer-Erkrankung wurden Jahre vor Ausbruch der Erkrankung behandelt – und litten unter den bekannten Neben­wirkungen der Therapie –, wurden aber dennoch symptomatisch.

Nun ist es aber keineswegs so, dass all dies überraschend kam. Bereits während sich die Amyloid-Hypothese zum Dogma entwickelte, gab es eine Vielzahl von Hinweisen, dass alles vielleicht doch anders, auf jeden Fall aber viel komplizierter sein könnte. Zum Beispiel fand man alte Menschen, deren Hirne voller Plaques waren, die aber trotzdem geistig voll leistungs­fähig blieben. Auch die Tierversuche erwiesen sich im Nachhinein als prädiktiver, als es den Alzheimer-Forschern lieb sein konnte: Die Tiere entwickelten trotz Plaques nämlich gar keine „Demenz-Äquivalente“, weshalb die „Plaque-Auflösung“ bei diesen auch klinisch gar nichts bewirken konnte.

Überhaupt die Tierversuche: Sehr häufig zu geringe Fallzahlen, ebenso niedrige interne Validität (etwa fehlende Verblindung), fragwürdige Statistik, selektive Auswahl von Ergebnissen, Nicht-Veröffent­lichung von negativen Resultaten und so weiter. Also das volle Programm der Qualitäts­probleme, wie sie auch in anderen Forschungs­gebieten gang und gäbe waren beziehungsweise immer noch sind. (Der Narr hat sich hierüber an dieser Stelle ja schon öfters aufgeregt. Auch diesmal gibt es unter http://dirnagl.com/lj Literaturhinweise, die die gravierenden Qualitäts­probleme in der experimentellen Alzheimer-Forschung dokumentieren.)

Aber auch die großen klinischen Anti-Amyloid-Antikörper- und Vakzinie­rungs-Studien fuhren ein negatives Ergebnis nach dem anderen ein. Fast scheint es, als hätte die akademischen Forscher und die Pharma­industrie eine ansteckende Wahn­vorstellung erfasst. Denn schon früh traten auch Mahner auf den Plan, die auf Probleme mit der Amyloid-Hypothese hinwiesen und alternative Mechanismen ins Spiel brachten. Jedoch wurden sie vom wissen­schaftlichen Mainstream bestenfalls ignoriert – oder aber deren Arbeiten aus den Top-Journalen heraus begutachtet und ihre Förderanträge abgelehnt.

Für eine gewisse Zeit gab es sogar noch so etwas wie eine wissen­schaftliche Kontroverse, ja sogar richtigen Streit. Die „Tauisten“ betonten, dass ein weiteres histo­patho­logisches Merkmal der Erkrankung, die intra­neuronalen Tau-Faser-Versteifungen und -Ablagerungen, viel besser mit dem Verlauf der Erkrankung korrelieren als die Amyloid-Plaques. Tauisten und Baptisten, also die Anhänger der Amyloid-Hypothese, führten regelrecht Krieg! Bis man um die Jahrtau­sendwende das Kriegsbeil begrub und sich einigte, dass die Tau-Pathologie biochemisch downstream vom Amyloid auftritt. Woraufhin die Tauisten in Scharen zum Baptismus konvertierten!

Trotz der vereinzelt aufziehenden dunklen Wolken entwickelte die Pharma­industrie eine ähnliche Teilblindheit wie die universitären Forscher. Nachdem sich daraufhin Eli Lilly, Pfizer, Roche und Merck Sharp & Dome negative Studien eingefangen und nach entsprechenden Aktienkurs­einbrüchen teilweise das Feld verlassen hatten, machten neben Roche und Morphosys auch die Firmen Biogen und EISAI trotzdem weiter. Und auf den ersten Blick schien es, als würden sie Erfolg haben. Im Juni dieses Jahres wurde Aducanumab, der Amyloid-Antikörper aus dem oben angerissenen Wissen­schafts­märchen, als erster Krankheits-modifi­zierender Wirkstoff für die Therapie der Alzheimer’schen Erkrankung zugelassen.

Der letzte fehlende Puzzlestein im Siegeszug der Amyloid-Hypothese? Genauer besehen gelang es Biogen und EISAI lediglich, ein sündhaft teures, in den eigenen Studien ziemlich unwirksames Medikament trotz starker Neben­wirkungen gegen das Votum der FDA-Spezialisten und der Gremien zur Zulassung zu bringen! Sekundiert wurden sie dabei von Patienten­organisationen, die großzügig von Biogen gefördert worden waren, ebenso wie von Wissen­schaftlern, die ihre Karrieren auf Amyloid gebaut hatten und über Jahre als Berater, Vortragende und „Key Opinion Leaders“ der Industrie ebenfalls gut verdient hatten.

Die FDA, die ja schon immer als industrienah galt, hat sich mit diesem Verfahren komplett unmöglich gemacht. Untersuchungs­ausschüsse klären zur Zeit, was da genau passiert ist. Vielleicht wird es gar den „Freedom of Information Act“ brauchen, um Dokumente ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, die diesen Skandal womöglich aufklären.

Und wer zahlt die Rechnung für all dies? Natürlich zunächst die Alzheimer-Patienten und deren Familien, die sich verschulden und sich in ihrer Hoffnung an den falschen Strohhalm klammern. Am Ende aber auch wir alle – nicht nur als Steuerzahler und Kranken­versicherte, sondern durchaus auch als potenzielle zukünftige Alzheimer-Patienten.

Und dies, weil eine Forschungs-Monokultur, die über dreißig Jahre in einer Echokammer abgeschottet und unbeirrbar vor sich hin forscht, bei einer komplexen Hirnerkrankung zwangsläufig erfolglos bleiben muss. Weil es nicht die eine Alzheimer’sche Erkrankung gibt, sondern viele. Weil hierbei wohl Aβ und Tau, aber auch Inflammation, Mikroglia, Mitochondrien, Mikrogefäße und vieles, vieles mehr in komplizierter Weise zusammen­spielen.

Wird das Hirn nur alt genug, hält es den konzertierten Anschlägen dieser Mechanismen nicht mehr stand und wird in seiner Funktion gestört. Dabei spielen komplexe Gen-Interaktionen genauso eine Rolle wie eine Vielzahl von Umweltfaktoren.

Vieles von dem, was in den vergangenen Dekaden von den Alzheimer-Forschern herausgefunden wurde, kann sehr wohl nützliche Beiträge zur Aufklärung der komplexen Pathologie von Demenz­erkrankungen liefern – es war deshalb nicht vergeudet. Aber hier hat sich ein ganzes Feld, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit einer letztlich naiven Theorie verzockt. Und die Wissenschaft hat am Ende sehr viel Zeit verloren und Ressourcen verschwendet, die man besser breit gestreut hätte.

Erinnern wir uns also an dieser Stelle ruhig an Max Planck, der 1948 bekanntlich in seinen Lebens­erinnerungen schrieb: „Eine neue wissen­schaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern dadurch, dass die Gegner allmählich aussterben und dass die heran­wachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.“

Ulrich Dirnagl

Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: http://dirnagl.com/lj.


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Letzte Änderungen: 09.11.2021