Editorial

Von der Pandemie zur Corona-Saison

(05.11.2021) Der Immunologe Carsten Watzl erklärt, warum sich SARS-CoV-2 nicht wegimpfen lässt und wie die Welt mit dem endemisch gewordenen Virus künftig aussehen könnte.
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Wenn die Immunität innerhalb einer Gruppe so hoch ist, dass auch nicht-immune Individuen weitestgehend vor einer Infektion geschützt sind, spricht man gern von „Herdenimmunität“ – oder anders formuliert: dem Gemeinschaftsschutz. In einigen Fällen gelingt dieser Schutz durch ausreichend hohe Impfraten. Gegen SARS-CoV-2 allerdings werden wir dieses Ziel wohl nicht erreichen. Carsten Watzl erklärt uns, warum. Watzl leitet die Immunologie am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung (IfADo) an der Technischen Universität Dortmund. Außerdem ist er Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie.

 

Laborjournal: Beginnen wir mit einem Gedankenexperiment: Angenommen, wir impfen heute alle Menschen der Erde gegen Corona. Sechs Wochen später bekommt jeder eine zweite Impfung, und weitere zwei Wochen später haben die meisten Geimpften viele neutralisierende Antikörper im Blut. Was würde nun passieren? 

Carsten Watzl » Würden wir wirklich diese hundert Prozent erreichen, hätten wir erstmal deutlich weniger Virusinfektionen, weil gerade kurze Zeit nach der zweiten Impfung ein sehr guter Schutz vor der symptomatischen und wahrscheinlich auch immer noch ein ordentlicher Schutz vor der generellen Ansteckung besteht. Trotzdem würden wir das Virus nicht komplett eliminieren. Zum einen gibt es Menschen, die trotz Impfung nicht immun sind – zum Beispiel, weil sie eine Immunschwäche haben oder sehr alt sind; zum anderen hat man schon in den Zulassungsstudien gesehen, dass sich selbst unter den Geimpften immer noch Leute infizieren. Dann kann ein Geimpfter das Virus auch weitergeben. 

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Also würde man den R-Wert nicht dauerhaft unter 1 halten können, sodass am Ende jede Infektionskette abbricht und sich das Virus totläuft? 

Watzl » Laut der Daten, die wir bis jetzt haben, ist das unwahrscheinlich. Wir wissen, dass es bei Atemwegsinfektionen notorisch schwer ist, eine dauerhafte sterile Immunität zu erzeugen. Dafür müsste ich nämlich genügend Antikörper auf den Schleimhäuten haben – also in der Lunge, in der Nase und im Rachen, damit das Virus sofort abgefangen und neutralisiert wird, und ich mich gar nicht erst infiziere. Auf den Schleimhäuten sind besonders die Immunglobuline A (IgA) wichtig, doch die sind relativ kurzlebig. Sie werden durch die Impfung zwar erzeugt, gehen aber als Erstes wieder verloren. Damit geht auch der Schutz vor einer Infektion nach der Impfung mit der Zeit runter – was wir an Daten aus Israel und Großbritannien sehen, und allmählich deutet sich dieser Trend auch in Deutschland an. Daher geht man davon aus, dass man den R-Wert nicht dauerhaft unter 1 halten kann – gerade in den Wintermonaten, wo man sich vermehrt in Innenräumen aufhält und Aerosol-Infektionen häufiger werden. 

Der Corona-Impfschutz beim immunologisch kompetenten Durchschnittsbürger sieht also so aus: IgA und später auch IgG gehen runter. Das Immunsystem kann zwar über die zelluläre Immunantwort effektiv auf die Infektion reagieren und systemische Komplikationen verhindern, doch zunächst würden sich Viren auf den Schleimhäuten replizieren, und man wäre für kurze Zeit auch ansteckend – selbst wenn man von der Infektion vielleicht gar nichts mitbekommt. 

Watzl » Genau. Und ich kenne auch keine Daten, die mich wirklich beunruhigen und darauf hindeuten, dass der Impfschutz gegenüber schwerer Erkrankung jetzt aktuell irgendwo nachlässt. Natürlich wird der Impfschutz nicht dauerhaft halten, und irgendwann lässt auch dieser Schutz vor schwerer Erkrankung nach. Aber das dürfte deutlich länger dauern. Dann liegt mein Schutz vor einer schweren Infektion vielleicht nicht mehr bei neunzig oder hundert Prozent, sondern pendelt sich irgendwo bei achtzig Prozent ein. Und dort könnte er ein paar Jahre stabil bleiben.

 

»Ich kenne keine Daten, die mich beunruhigen und darauf hindeuten, dass der Impfschutz gegenüber schweren Erkrankungen nachlässt.«

 

Um diese Prozentzahlen zum Impfschutz gibt es ja auch einige Verwirrung. 

Watzl » Ich spreche jetzt vom persönlichen Risiko, schwer zu erkranken. Denn man sollte diese Effektzahlen bei den Impfungen nicht so verstehen, dass bei einer Effektivität von achtzig Prozent von hundert Geimpften achtzig geschützt sind und zwanzig nicht. Sondern die achtzig Prozent bedeuten, dass mein persönliches Risiko, schwer zu erkranken, um achtzig Prozent reduziert ist. Das heißt, wenn ein gesunder Fünfzigjähriger mit einem vielleicht knapp einprozentigen Risiko für eine schwere Erkrankung lebt, dann wird dieses Risiko von einem Prozent durch die Impfung noch mal um achtzig Prozent reduziert. Natürlich muss man auch sagen: Wer als über Achtzigjähriger mit einem sehr hohen Risiko anfängt, hat natürlich auch nach der Impfung ein höheres Restrisiko. 

Das bedeutet ja: Viele Menschen werden trotz Impfung ein vergleichsweise hohes Risiko für schwere COVID-19-Verläufe haben. Wenn das Virus nun gar nicht aus der Bevölkerung zu eliminieren ist, können diese Menschen ihr Risiko ja nur dadurch minimieren, dass sie sich auch künftig konsequent isolieren. 

Watzl » Ich glaube, das besondere an Corona war, dass uns ein Virus erreicht hat, gegen das nahezu alle Menschen immunologisch naiv waren. Auch wenn es bestimmte Kreuz­immunitäten mit den endemischen Coronaviren gibt, sorgte das für keinen nennenswerten Schutz. Ich brauche zunächst eine gewisse Grundimmunität, und die hole ich mir natürlich am sichersten durch die Impfung; ich kann sie aber auch durch die Infektion erlangen. Früher oder später wird es so sein, dass wir in Deutschland und auch weltweit diese Grundimmunität in der Bevölkerung haben. Damit besteht erstmal ein Schutz vor schweren Verläufen, anfangs vielleicht auch vor der Ansteckung. Früher oder später, wenn auch der Schutz vor der Ansteckung nachlässt, werde ich mir das Virus wieder einhandeln und booste damit natürlich meine Immunität. Für die Übersechzigjährigen werden wir künftig wahrscheinlich bei einer Empfehlung ähnlich wie bei der Grippe landen: Dass man zur Impfung rät, weil das der risikoärmere Weg für einen Booster ist. 

Realistisch betrachtet wird es aber so sein, dass sich gerade in den Wintermonaten Ältere, deren Immunschutz nicht mehr so gut funktioniert, mit Corona infizieren und auch einige daran versterben werden – aber eben nicht mehr in dem Maße, dass man politisch durch drastische Maßnahmen gegensteuern müsste. Zum Glück verändert sich das Corona­virus deutlich weniger als das Grippevirus. Wenn ich jetzt zweimal geimpft bin und vielleicht irgendwann noch einen Booster bekommen habe, und mich irgendwann wieder infiziere, dann ist meine Grundimmunität wahrscheinlich so gut, dass sie anschließend wieder für mehrere Jahre anhält. Auch über die Impfung erreiche ich dann natürlich einen deutlich längeren Schutz als bei der Grippe-Impfung, die ja wirklich jedes Jahr wieder erneuert werden muss. 

Denken wir ein paar Jahre weiter in die Zukunft: Heute geborene Kinder werden ganz normal mit SARS-CoV-2 in Kontakt kommen. Wir Erwachsenen immunisieren uns idealerweise zunächst durch Impfung und anschließend zwangsläufig auch durch natürliche Infektionen. Das einst neuartige Coronavirus wird endemisch und tritt wahrscheinlich immer wieder mal gehäuft in den Wintermonaten auf. Kann man schon absehen, wie gefährlich dann COVID-19 sein wird im Vergleich zu anderen Erkältungen? Wäre es eher ein Schnupfen oder eine Erkältung, wie bei den vier bereits endemischen Coronaviren? Oder müsste man auch dann noch mit heftigeren Symptomen wie etwa bei der Influenza rechnen? 

Watzl » Wenn ich dazu jetzt spekulieren sollte, würde ich eher an Influenza denken als an einen leichten Schnupfen. Denn wir wissen ja, dass die Infektion mit SARS-CoV-2 nicht nur schwere Verläufe machen, sondern auch zu längerfristigen Problemen führen kann. Sei es durch Geruchs- oder Geschmacksverlust oder dass Sie unter Erschöpfungszuständen leiden. Ob eine bestehende Immunität durch Impfung oder vorherige Infektion bei der nachfolgenden Infektion solche längerfristigen Folgen verhindern kann, ist noch nicht klar. Es gibt Daten, die das nahelegen, aber da muss man noch abwarten. Für mich deutet aber vieles darauf hin, dass eine Corona-Infektion sich auch in der nahen Zukunft von einem leichten Schnupfen unterscheidet und man, wenn man Pech hat, auch als gesunde mittelalte Person mehrere Tage ausgeknockt sein kann, womöglich auch mit Geschmacksverlust über mehrere Wochen. Für die meisten Leute wird das dann aber nicht mehr im Krankenhaus enden. 

 

»Früher oder später werden wir in Deutschland und weltweit eine Grundimmunität in der Bevölkerung haben.«

 

Impfungen gegen SARS-CoV-2 werden also wichtig bleiben.

Watzl » Was man an dieser Stelle noch erwähnen kann: Aktuell wissen wir, dass eine Kombination aus Infektion und Impfung die beste Immunität liefert, die man momentan nachweisen kann. Bisher kommen die meisten Daten von ehemals Infizierten, die sich dann auch noch impfen lassen. Andersherum fände ich das natürlich sicherer. In welchem Ausmaß solche Durchbruchsinfektionen nach einer Impfung dann noch mal boostern, dazu gibt es aber nicht so viele Daten. Ich gehe aber davon aus, dass das ganz ähnlich ist. 

Wenn wir jetzt ein bisschen in die Zukunft schauen, dann kann man Immunantworten vielleicht auch verbessern, indem man Impfstoffe kombiniert. Wir wissen über solche Kreuz­impfungen, dass die Erstimpfung mit einem Vektor-Impfstoff und die Zweitimpfung mit mRNA sehr gute Ergebnisse bringt. Andersrum funktioniert das nicht so gut, und das kann man immunologisch auch erklären. Vielleicht eignet sich auch ein Protein-Impfstoff wie der von Novavax besonders gut zur Auffrischung. 

Was ist denn die immunologische Erklärung dafür, dass bei heterologer Impfung die Reihenfolge Vektor-Impfstoff gefolgt vom ­mRNA-Impfstoff effektiver ist als umgekehrt?  

Watzl » Die Vektor-Impfstoffe erzeugen nicht so hohe Antikörper-Spiegel, aber sie sorgen für sehr gute T-Zell-Antworten. Die mRNA-Impfstoffe erzeugen zwar auch T-Zell-Antworten, aber nicht in dem Maße wie Vektor-Impfstoffe. Dafür gibt es nach ­mRNA-Impfungen sehr hohe Antikörper-Spiegel. Unter den T-Zellen gibt es neben den zytotoxischen T-Zellen ja auch die T-Helfer-Zellen. Die T-Helfer-Zellen unterstützen die B-Zell-Antworten. Und B-Zellen produzieren ja die Antikörper. Wenn ich also zuerst mit einem Vektor-Impfstoff eine ordentliche T-Zell-Immunität induziere und anschließend mit dem ­mRNA-Impfstoff komme, sind bereits sehr viele T-Helfer-Zellen da, die die Antikörper-Antwort unterstützen. Und so bekomme ich auch bessere Antikörper. Ebenso sind die T-Zell-Antworten besser, weil die schon bei der ersten Impfung durch den Vektor effektiv induziert wurden. 

Was ist der Grund dafür? Am Ende entsteht doch sowohl durch die Vektor-Impfung als auch durch die mRNA Spike-Protein. Und das sollte sich ja bei den verschiedenen Impfstoffen nicht nennenswert unterscheiden.  

Watzl » Richtig, das Antigen, gegen das ich impfe, ist in beiden Fällen identisch, da gibt es allenfalls leichte Unterschiede. Warum die Impfungen sich unterscheiden, da kann ich auch nur spekulieren. Wahrscheinlich liegt es an der Art der Präsentation und wie das Immunsystem stimuliert wird. Bei den Vektor-Impfstoffen habe ich ja ein „lebendes“ Virus, das aktiv in Zellen eindringen kann. Das Spike-Protein ist auf DNA-Ebene codiert, die DNA geht in den Zellkern und wird dort zu mRNA transkribiert. Schon dadurch lässt sich wahrscheinlich eine längere Produktion des Spike-Proteins aufrechterhalten, als wenn nur eine gewisse Anzahl von mRNA-Molekülen verabreicht wurde. 

Auch das angeborene Immunsystem ist für die Antwort wichtig. Beide Impfstoffe kommen ja ohne Adjuvantien aus. Bei mRNA-Impfstoffen ist schon die RNA selbst immunogen, aber durch den Einbau von Pseudouridin hat man das etwas vermindert. Wahrscheinlich sind da noch die Lipid-Nanopartikel aktivierend für das Immunsystem. Bei den Vektor-Impfstoffen ist es aber so, dass ein vollständiges Adenovirus als Gefahr erkannt wird. Ich habe wirklich eine Infektion der Zelle. Zwar ist die Infektion nicht produktiv, weil das Virus nicht mehr herausgelangen kann. Aber es werden ja auch Adenovirus-Gene translatiert. Das erkennt die Zelle dann als Infektion und reagiert vielleicht anders als nur auf diese Lipid-Nanopartikel.

»Erfolgreiche Erreger haben ausgefeilte Mechanismen, um der Immunantwort zu entgehen.«

 

Was ist eigentlich an Erkältungsviren so besonders? Gegen Masern oder Windpocken kann man ja extrem lang anhaltende Antikörper-Spiegel erzeugen – obwohl die doch ebenfalls sehr ansteckend sind. 

Watzl » Zum einen unterscheidet sich die Art und Weise, wie die Erreger jemanden infizieren. Das Masernvirus gelangt zwar auch über Aerosole in die Atemwege, doch es muss sich zunächst systemisch verbreiten. Das Virus muss durch die Lymphknoten gehen, sich dort vermehren und im Körper ausbreiten und dazu auch den Weg über den Blutstrom nehmen. Dagegen repliziert sich das Coronavirus direkt in den Atemwegen. Da braucht man für eine volle Immunität also Antikörper direkt vor Ort. Bei den Masern reicht es auch, wenn ich die Immunität im Blut und in den Gedächtniszellen der Lymphknoten habe. Die Immunität, die mich bei Corona vielleicht nicht vor der Ansteckung aber dann vor schweren Verläufen schützt, ist die Immunität, die mich bei Masern komplett vor der Erkrankung schützen würde. Und bei Masern kommt hinzu: Ich bin für andere erst ansteckend, wenn das Virus sich im Körper ausgebreitet hat und ich Symp­tome habe. Erst dann gelangen Masernviren zurück in die Lunge. Und dann erst kann ich sie weitergeben – während die Erreger von Atemwegsinfektionen nie wirklich bis in den Körper und den Blutstrom hinein müssen, um infektiös zu sein. 

Das ganz Gemeine bei Corona ist ja, dass die Leute oft schon infektiös sind, bevor sie bemerkbare Symptome zeigen. Das war bei SARS-CoV-1 damals anders, da war ein Infizierter erst ansteckend, wenn er symptomatisch war. Und deshalb konnten wir dieses Virus mit konsequentem Fiebermessen an Flughäfen, Hygienemaßnahmen und Isolation aller symp­tomatischen Menschen auch ohne Impfung ausrotten. Dann unterscheiden sich aber auch die Impfungen. Warum jetzt die zweimalige Masernimpfung als Kind für einen lebenslangen Schutz ausreicht, während man zum Beispiel bei Tetanus oder Hepatitis immer wieder auffrischen muss, ist noch nicht so ganz verstanden. Wahrscheinlich hängt es damit zusammen, wie eine Impfung die Gedächtniszellen induziert. Gegen Masern verwendet man einen Lebend-Impfstoff, und da setzt sich das Immunsystem ganz anders mit auseinander als gegen ein einzelnes Protein. Die in Europa zugelassenen Impfstoffe gegen Corona richten sich ja alle gegen das Spike-Protein. Es gibt Corona-Impfstoffe mit vollständigen inaktivierten Viren – die funktionieren in dem Fall jedoch weniger gut. 

Aber bei Masern oder Windpocken ist ja nicht nur die Impfung sehr effizient, sondern auch die natürliche Infektion sorgt in der Regel für lebenslange Immunität. Das gleiche Erkältungsvirus hingegen kann uns irgendwann wieder neu infizieren – obwohl das Immunsystem dann den gesamten Erreger präsentiert bekommt. Also kann es ja nicht nur an den unterschiedlichen Impfstoffen liegen. 

Watzl » Erfolgreiche Erreger haben immer auch mehr oder weniger ausgefeilte Mechanismen, um der Immunantwort zu entgehen. Zum Beispiel gibt es virale Gene, die verhindern, dass Interferon gebildet wird. Gerade bei vielen Atemwegsinfektionen scheint es so zu sein, dass uns regelmäßig infizierende Viren die Immunantwort gegen den Erreger so schwach halten, dass sich keine lang andauernde Immunität entwickeln kann.

Mit den vier endemischen Coronaviren, die schon vor SARS und MERS in der menschlichen Population waren, wird ja jeder Erwachsene irgendwann mal in Kontakt gekommen sein. Wären diese Coronaviren für eine immunologisch dafür naive Population genauso gefährlich wie SARS-CoV-2? 

Watzl » Gute Frage – dazu kann man natürlich keine Experimente machen. Es gibt ja die Vermutung, dass die sogenannte Russische Grippe Ende des 19. Jahrhunderts von einem dieser Coronaviren ausgelöst worden war. Im Nachhinein lässt sich das schwer beweisen. Was man aber auch sehen muss: Diese Erreger haben inzwischen eine gewisse Evolution hinter sich. Auch da können wir für SARS-CoV-2 nur spekulieren. Es gibt die Vermutung, dass sich bei einer hohen Grundimmunität in der Bevölkerung sehr infektiöse SARS-2-Coronaviren nicht so gut durchsetzen, sondern eher Viren, die noch besser der Immunität entgehen. Aktuell sieht es so aus, als schließe sich das eine mit dem anderen ein Stück weit aus. 

Delta begann ja mit einer Escape-Mutation, nämlich an Position 484. Die kannte man von Beta auch, und Beta entgeht dem Immunschutz noch besser. An dieser Stelle verbiegt sich das Spike-Protein durch die Mutation ein wenig, es sieht anders aus, und die Antikörper gegen die Wildtyp-Variante neutralisieren weniger gut. Eine solche Veränderung geht aber mit einer schlechteren Infektiosität einher. Deshalb braucht Delta dann wieder Mutationen wie an Position 501, wodurch die Infektiosität erhöht wird. Inzwischen hat Delta die 484er-Mutation wieder verloren. Wahrscheinlich weil das vorteilhaft war und das Virus infektiöser macht. Vielleicht kann das Virus also nur wählen: entweder der Immunantwort entgehen oder infektiöser werden. Dann würde eine hohe Grundimmunität in der Bevölkerung SARS-CoV-2 auch weniger infektiös machen. Die Frage ist jetzt: Wird Corona dadurch auch weniger gefährlich? 

Es wäre ja schon mal eine gute Nachricht, wenn sich mit einem gefährlichen Erreger weniger Menschen infizieren – falls sich dieser Trend bestätigt. 

Watzl »  Es gibt eine aktuelle Publikation, für die alle bislang bekannten Mutationen des Spike-Proteins in einem Spike-Protein zusammengebracht wurden (Nature, doi: 10.1038/s41586-021-04005-0). Das hat man aus Sicherheitsgründen nicht am Coronavirus gemacht, sondern mit einem pseudotypisierten Virus. Da konnte man zeigen, dass dieses an zwanzig Positionen mutierte Spike-Protein den Antikörpern Genesener komplett entgeht. Selbst Antikörper aus zweimal Geimpften neutralisierten fast gar nicht mehr. Nur wer genesen und geimpft war, hatte noch neutralisierende Antikörper. Dieser starke Immun-Escape ging aber auch in der Studie auf Kosten der Infektiosität. 

 

»SARS-CoV-2 kann sich in immunsupprimierten Patienten ein halbes Jahr lang replizieren — die ideale Spielwiese, um Mutationen auszuprobieren.«

 

Die aktuell bekannten, sich durchsetzenden Mutationen der SARS-CoV-2-Varianten betreffen immer die gleichen zwei oder drei Loci. Da scheint der evolutionäre Spielraum sehr begrenzt zu sein. 

Watzl » Sie haben schon Recht, dass das Virus sich bisher immer an den gleichen Stellen verändert hat – auch unabhängig voneinander an ganz anderen Enden der Welt sieht man immer Änderungen an den gleichen Aminosäure-Positionen. Für einen Immun-­Escape kann sich das Spike-Protein ja nicht beliebig verändern, denn es muss ja noch auf den ACE2-Rezeptor passen, um in die Wirtszellen zu gelangen. Trotzdem muss man aufpassen, dass man dem Virus nicht zu viele Spielmöglichkeiten lässt. In der Evolution macht so ein Virus ja vielleicht mal eine einzelne Punktmutation durch, und dadurch kann das Spike-Protein auch schlechter werden. Vielleicht führen aber zwei Punktmutationen, die für sich genommen nachteilig sind, in der Kombination dann doch zu einem Vorteil. Daher muss man besonders bei immunsupprimierten Patienten aufpassen, in denen sich das Virus monatelang halten kann. Es gibt Daten, dass sich SARS-CoV-2 in solchen Patienten ein halbes Jahr lang repliziert hat – und das ist natürlich die ideale Spielwiese, um verschiedenste Kombinationen von Mutationen auszuprobieren. 

Nun steht der Winter vor der Tür, und es wird über 2G versus 3G diskutiert. Aber heizt das die Debatte nicht unnötig an? Corona werden wir ja ohnehin nicht mehr los, und wer besondere Risiken hat und schwache Immunantworten auf Impfungen zeigt, der muss auch künftig vorsichtig bleiben. Wieso muss ich als Geimpfter mich denn im Restaurant vor einem Ungeimpften fürchten? Und wenn jedem die Impfung jetzt frei zur Verfügung steht, endet damit nicht die Fürsorgepflicht des Staates? 

Watzl » Momentan sehen wir, dass sich vor allem die Ungeimpften infizieren. Über neunzig Prozent der COVID-19-Patienten auf Intensivstationen sind nicht geimpft. Man muss auch nicht die Geimpften vor den Ungeimpften schützen, sondern vielmehr müssten die Ungeimpften Angst haben vor den Geimpften – denn die werden derzeit am wenigsten getestet. Aktuell (Anm. d. Red.: Zeitpunkt des Interviews: 29. September 2021) sehe ich daher auch keine Notwendigkeit für 2G. Das einzige Argument, was ich da anführen kann, ist die Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems. Bei den Übersechzigjährigen liegt die Impfquote momentan bei 85 Prozent – das bedeutet aber auch, 15 Prozent dieser Altersgruppe sind nicht geimpft. Das sind mehr als drei Millionen Menschen! Darunter viele mit hohem Risiko für schwere Verläufe. Wenn wir da den Winter über alles frei laufen lassen, könnte das schon kritisch werden. Darunter leiden dann auch die Geimpften, wenn zum Beispiel nach einem Verkehrsunfall kein Platz auf der Intensivstation frei ist oder geplante Operationen verschoben werden. Und das gilt es, zu verhindern. 

Interview: Mario Rembold (29.9.21)

(Foto: Latest Thinking, CC BY 4.0)

 

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Letzte Änderungen: 05.11.2021