Editorial

Geniestreich und Gedankenblitz

(19.10.2021) In Laboren rund um die Welt wird sie liebevoll gedrückt. Jetzt feiert sie ihren Sechzigsten – die Mikropipette. Wir blicken zurück auf die Anfänge.
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Schon im 18. Jahrhundert gab es Pasteur-Pipetten in Form von Glas­röhrchen mit aufgestecktem Sauger aus Gummi. Sie sind zwar auch heute noch ungemein praktisch, etwa um den pH-Wert tröpfchen­weise einzustellen, für kleine und vor allem definierte Proben­volumen oder Messungen sind sie aber ungeeignet. Verdrängt wurden Pasteur- und andere einfache Glas­pipetten von der Mikropipette, deren Geschichte in Marburg begann.

Eine authentische Beschreibung zur Evolution der Mikropipette findet man in einem Rückblick von Martin Klingenberg aus dem Jahr 2005 (EMBO Rep, 6: 797-800). Der Biochemiker und ehemalige Lehrstuhl­inhaber für Physikalische Biochemie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München erzählt darin, wie er die Entwicklung der Mikropipette an der Universität Marburg hautnah miterlebte.

Klingenberg musste 1954 als Postdoc in Philadelphia noch selbst­gefertigte Carlsberg-Pipetten verwenden, die Kaj Ulrik Linderstrøm-Lang und Milton Levy 1936 am Carlsberg-Laboratorium in Kopenhagen etabliert hatten. Um eine Carlsberg-Pipette oder Lang-Levy-Pipette herzustellen, erhitzt man ein Glas­röhrchen über dem Bunsen­brenner und zieht das heiße Glas zu einer Kapillare in die Länge. Ein paar Millimeter vor dem Ende wird nochmals erhitzt, um eine Verengung zu erzeugen.

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Mühsames Prozedere

Diese Prozedur erfordert viel Handarbeit, und da jedes Exemplar ein Unikat ist, muss die Pipette individuell kalibriert werden. Das gewünschte Flüssig­keits­volumen wurde mit dem Mund in die Carlsberg-Pipette aufgezogen, geeicht wurde gravimetrisch, mit farbigen Flüssig­keiten oder auch schon mal mit flüssigem Quecksilber. Unvor­sichtige oder weniger routinierte Labor­mitarbeiter bekamen die Eich­flüssigkeit, Gift- oder Bakterien­lösungen oder was sie sonst so pipet­tierten hin und wieder in den Mund. Diesen Kick umging man mit Einweg-Glas­röhrchen, die sich beim Eintauchen in eine Flüssigkeit dank Kapillar­kraft von selbst bis zum gewünschten Pegelstand füllten. Aber auch diese verstopften leicht und zerbrachen ständig.

1957 kam Klingenberg an die Universität Marburg und stieß im Labor auf den 32-jährigen Heinrich Schnitger, der dort Medizin studierte – „um sich nicht länger inkompetenten Ärzten anvertrauen zu müssen“. Das Vertrauen in die Ärzte­schaft muss Schnitger während seiner Tuberkulose-Erkrankung im Zweiten Weltkrieg abhanden gekommen sein.

Spritze mit Feder

Schnitger sollte hunderte Fraktionen aus einer Nukleotid-Chroma­tografie photo­metrisch vermessen. Sein Labor­kollege Hanns Schmitz hatte die Trenn­methode gerade von einem Forschungs­aufenthalt in den USA mitgebracht (Marburger UniJournal, 21: 58-60). Die vielen Proben mühselig mit der Mundpipette aufzusaugen, war aber gar nicht Schnitgers Ding. Sollte der Kollege doch damit weiter­machen. Er selbst ließ die Arbeit erst einmal liegen und kehrte nach einer Auszeit und intensiver Tüftelei mit einer völlig neuen Pipetten-Konstruktion ins Labor zurück. Für seine Kolbenhub-Pipette hatte Schnitger eine Feder in eine gläserne Tuberkulin-Spritze eingebaut, die das aufgezogene Volumen auf eine definierte Menge begrenzte. Statt der Spritzen­nadel verwendete er eine aufsetzbare Spitze. Das Prinzip war dasselbe wie in heutigen Luftver­dränger-Pipetten: Der Kolben verdrängte beim Drücken auf den Spritzen­kopf Luft, wodurch im Inneren ein Vakuum entstand. Löste man den Druck, wanderte der Spritzen­kopf wieder nach oben und anstelle der verdrängten Luft stieg die Flüssigkeit in die Spitze.

In der mechanischen Werkstatt des Physiologisch-Chemischen Instituts der Universität Marburg entstanden bald die ersten Prototypen. Im Mai 1957 reichte Schnitger ein Patent beim Deutschen Patentamt ein, für eine „Vorrichtung zum schnellen und exakten Pipettieren kleiner Flüssig­keitsmengen“. 1961 wurde das Patent erteilt.

Von Marburg nach Eppendorf

Inzwischen war die 1945 von dem Ingenieur Heinrich Netheler und dem Physiker Hans Hinz in Hamburg gegründete Medizin­technik-Firma Netheler und Hinz auf Schnitgers Pipette aufmerksam geworden und kaufte ihm die Patent­rechte daran ab. Ihr Entwicklungs-Ingenieur Wilhelm Bergmann optimierte sie zur Marburg-Pipette weiter, die 1961 auf den Markt kam. Nach der Umbenennung von Netheler und Hinz in Eppendorf 1962 wurde sie schließlich als Eppendorf-Pipette vermarktet.

Die Hamburger Firma baute in den Folgejahren ein komplettes Mikroliter-System rund um die Mikropipette auf, das neben Pipetten, Spitzen und Reaktions­gefäßen auch dazugehörige Geräte wie Zentrifugen beinhaltete. Auch andere Firmen stiegen zu dieser Zeit auf klein­volumige Ansätze um, was Forschern erhebliche Einsparungen beim Verbrauch von Reagenzien ermöglichte.

Schnitger selbst sollte den Siegeszug seiner Erfindung nicht mehr erleben. Er ertrank im August 1964 beim Baden im Eibsee nahe der Zugspitze. Mit ihm ging leider auch die Chance auf weitere Genie­streiche unter. Im Zuge seiner Medizin­promotion hatte Schnitger neben der Marburg-Pipette auch ein „Gerät zur automatisierten Bestimmung von Blutgerin­nungszeiten“ konstruiert und patentieren lassen.

Andrea Pitzschke

Bild: Eppendorf

Dieser Artikel ist stark gekürzt. Die ausführliche Pipetten-Historie von Eppendorf bis Gilson können Sie in unserer Oktober-Ausgabe (LJ 10/2021) lesen.


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Letzte Änderungen: 19.10.2021