Editorial

Forschen nach der Pandemie

(31.08.2021) Der Wissenschaftsrat hat die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das Wissen­schaftssystem analysiert. Was sind die Herausforderungen?
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Die COVID-19-Pandemie ist eine historische Zäsur. Als der Wissen­schaftsrat sich im Frühjahr 2020 entschied, die Auswirkungen der Krise auf das Wissen­schaftssystem zu analysieren, waren Dauer und Umfang der Pandemie nicht absehbar. Vielmehr wähnte man sich gerade in Deutschland in einer komfortablen Situation. Denn im Unterschied zu anderen europäischen Ländern konnten die Intensiv­stationen die Schwerst­kranken sehr gut versorgen, zügig wurden Mittel für die Impfstoff­entwicklung bereitgestellt, die politisch Verant­wortlichen hatten in kurzer Zeit weitreichende Maßnahmen ergriffen und eine hohe Bereitschaft gezeigt, wissen­schaftliche Erkenntnisse, Prognosen und Szenarien in ihre Entscheidungs­findung mit einzubeziehen.

Doch die Situation änderte sich, je länger die Pandemie dauerte und je deutlicher die Logik anderer gesell­schaftlicher Bereiche (wie zum Beispiel die des medialen oder des politischen Systems) die Kommunikation wissen­schaftlicher Ergebnisse oder die Aushandlung von Entscheidungen unter Berück­sichtigung wissenschaftlicher Evidenz mitbestimmte.

Editorial

Der Wissenschaftsrat entschied sich sehr früh im April 2020, die Auswirkungen der Pandemie auf das Wissen­schaftssystem in einem Positionspapier „Impulse aus der COVID-19-Krise für die Weiter­entwicklung des Wissenschafts­systems in Deutschland“ zu analysieren. In Deutschland ist er der Akteur, der seit seiner Gründung im Jahr 1957 die Bundes­regierung und die Regierungen der Länder in allen Fragen der inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Wissenschaft, der Forschung und des Hochschul­bereichs In Deutschland berät. Vor diesem Hintergrund sah er es als seine Aufgabe an, das Wissenschafts­system als Ganzes in der Pandemie in den Blick zu nehmen. Seine Analysen und darauf aufbauenden Empfehlungen entwickeln eine große Resonanz im politischen Raum, denn schon bei der Erarbeitung seiner Papiere sitzen die Ministerien des Bundes und der Länder mit am Tisch. So auch hier: Wir konnten mit unserem Papier den dringenden Bedarf bei verschiedenen, hochrelevanten Aspekten deutlich machen, beispielsweise in puncto Digitalisierung. Mehr noch: Hierbei wurde die Aufmerksamkeit auf Fragen von digitaler Souveränität und Sicherheit im Wissenschafts­system gerichtet, und nicht allein auf den Zugang zum Glasfaserkabel – mit all den Konsequenzen für Governance und Ressourcen in der digitalen Infrastruktur.

Wichtig für unser Wissenschafts­system ist zudem die Verständigung der wissenschaftlichen und politischen Seite darauf, dass die öffentliche Hand ihr finanzielles Engagement für das Wissenschafts- und Innovations­system auf hohem Niveau fortführt. In einer Situation drohender Kürzungen für das Wissenschafts­system – von der Landes- bis zur europäischen Ebene – ist so eine politische Erklärung wichtig.

Das Positionspapier des Wissenschaftsrats hat zehn Heraus­forderungen identifiziert. Sie reichen von der Politik­beratung über die Wissenschafts­kommunikation bis hin zu Fragen der Handlungs­fähigkeit im europäischen Wissen­schaftsraum. Damit ist die große Breite des Handlungs­bedarfs für ein zukunfts­festes Wissenschafts­system markiert. Statt im Folgenden jede der identifizierten Heraus­forderungen vorzustellen, werden wir drei Leitmotive hervorheben, die in vielen von ihnen wiederzufinden sind.

Leitmotiv: Vernetzung und Kooperation

Mangelnde Vernetzung und Kooperation haben sich an unterschiedlichen Stellen im Wissenschafts­system gezeigt. Die Pandemie hat diesen Mangel gerade in der Gesundheits­forschung schonungslos offengelegt – und zwar in dreierlei Hinsicht:

(1) In der Pandemie wurde der große Nachholbedarf Deutschlands in puncto Vernetzung und Management medizinischer oder medizin­relevanter Daten sichtbar. Die Kohorten für klinische Studien sind vielfach zu klein. Zudem werden Patientendaten nicht überall strukturiert erhoben, obwohl eine solche Standardisierung für die klinische Forschung unabdingbar ist. Hinzu kommt, dass standort­übergreifender Zugang zu standardisierten Daten aus der medizinischen Forschung fehlt. Der Wissen­schaftsrat hat hier grundlegenden Wandel angemahnt, schon allein, um international konkurrenz­fähig zu werden. Selbst wenn die rechtliche Grundlage für eine forschungs­kompatible elektronische Patientenakte ab 2023 einen rechtssicheren Zugriff der Forschung auf Daten ermöglicht, sind weitere Anstrengungen für die Umsetzung erforderlich.

(2) Zu Beginn der Pandemie konnten sich die Gesundheits­wissenschaften wie etwa die Pflege­wissenschaften kaum Gehör verschaffen, obwohl beispielsweise die Maßnahmen den Alltag von alten und betagten oder auch psychisch erkrankten Menschen radikal veränderten. Es fehlte eine intensive Vernetzung medizinischer mit gesundheits­wissenschaftlicher Fachexpertise vor Ort, um koordiniert reagieren zu können. Auf lokaler Ebene kann dies allein gelingen, indem fachüber­greifende Organisations­strukturen gebildet werden. Hier, so unsere Einschätzung, konnten und können einzelne Wissen­schaftlerinnen und Wissenschaftler viel bewegen. Mittel- bis langfristig bedarf es jedoch eines institutio­nellen Ortes, um Vernetzung und Kooperation zu verstetigen. Erst dann kann die Wissenschaft in Zukunft sowohl in einer Gesundheits­krise zügig reagieren als auch proaktiv Präventions­strategien entwickeln. Es bedarf der institutio­nalisierten Vernetzung in der Wissenschaft selbst: von der Medizin und medizinischen Forschung über die lebens­wissenschaftliche Grundlagen­forschung bis hin zur Public-Health-Forschung, Versorgungs- und Präventions­forschung sowie den Gesundheits­wissenschaften. Einer solchen Vernetzung bedarf es auch mit Blick auf Wissenschafts­kommunikation und Politikberatung.

(3) Eine Vernetzung allein innerhalb der medizinischen und Gesundheits­forschung reicht nicht aus. Für Modellierungen, Simulationen und Szenarien muss beispielsweise die Epidemiologie auf Expertise aus der Mathematik, Informatik und den Technik­wissenschaften zurückgreifen. Ohne die Sozial­wissenschaften lassen sich keine Strategien entwickeln, um bestimmte Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie (wie etwa eine Corona-Warn-App) erfolgreich einzuführen. Zudem stellen sich ethische und rechtliche Fragen – sei es, um sich auf den Umgang mit einer begrenzten Anzahl von Intensivbetten vorzubereiten oder um eine Impfstrategie zu entwickeln. Bisher ist eine solche multi- und inter­disziplinäre Vernetzung vernachlässigt worden. Auch hier steht ein Wandel zu einer stärker kooperativen Forschungskultur an.

In der Pandemie sind die Defizite in der Vernetzung und Kooperation über Disziplin-, Einrichtungs- und Sektoren­grenzen hinweg besonders auffällig geworden. Exemplarisch zeigte sich dies in der Gesundheits­forschung. Jedoch kann diese Analyse auf viele andere Bereiche des Wissenschafts­systems ausgeweitet werden: Durchlässige Grenzen für Probleme, Wissen sowie Personen und zugleich Strukturen für Begegnung und Kooperation müssen dringend aufgebaut werden.

Leitmotiv: Globale Forschungs­kooperationen

In den vergangenen Jahren hat sich das Wissenschafts­system noch einmal deutlich stärker internatio­nalisiert, was zu einer Steigerung seiner Leistungs­fähigkeit beigetragen hat. Nun haben die Reise- und Kontakt­beschränkungen den physischen internationalen Austausch zunächst fast vollständig zum Erliegen gebracht. Auch wenn ein Teil der Aktivitäten in den virtuellen Raum verlegt werden konnte, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Teil der Wissen­schaftlerinnen und Wissenschaftler, die existenziell auf den Zugang zu ihren jeweiligen Forschungs­gegenständen im Ausland angewiesen sind, diesen fast gänzlich verloren haben. Disziplinen wie etwa die Archäologie, Ethnologie, Geologie, Ökologie oder die Geschichts- und Regional­wissenschaften stießen an harte Grenzen, wenn etwa archäologische Stätten, Bibliotheken oder bestimmte Ökosysteme, die allesamt im Ausland liegen, mittel- bis langfristig nicht länger erkundet werden konnten. Große Anstrengungen waren und sind immer noch erforderlich, um kreative und funktionale Lösungen für eine Weiterarbeit zu entwickeln. Ohne den in der Wissenschaft wichtigen persönlichen Austausch durch Kongresse, Austausch­programme und Aufenthalte bei anderen Arbeitsgruppen ist der Aufbau von intensiven, vertrauensvollen Kooperationen und Netzwerken schwieriger.

Dies alles trifft vor allem junge Wissen­schaftlerinnen und Wissenschaftler auf befristeten Stellen. Angesichts der langen Dauer der Pandemie ist beispielsweise eine Verlängerung von Verträgen um drei oder sechs Monate zumindest in diesen Feldern oftmals nicht ausreichend. Auch in den Lebens- und Natur­wissenschaften war und ist der Zugang zu vielen Laboren stark eingeschränkt, beziehungsweise eine längere Zeit gar nicht möglich. Hier liegt eine Verantwortung auf den Betreuenden, gemeinsam nach Alternativen zu suchen. Die Leitungen von Hochschulen und Forschungs­einrichtungen sind gefragt, hier die derzeitigen rechtlichen Möglichkeiten maximal auszuschöpfen. Mit Blick auf den nächsten Karriereschritt des Nachwuchses sind diese Begrenzungen systematisch in der Bewertung der wissen­schaftlichen Produktivität und die Einschätzung des Lebenslaufs junger Menschen zu berücksichtigen. Ansonsten läuft das Wissen­schaftssystem Gefahr, junge, gut ausgebildete und kreative Wissen­schaftlerinnen und Wissenschaftler zu verlieren.

Das Wissenschafts­system in Deutschland wird den Einbruch im internationalen Austausch und in der internationalen Mobilität durch die Pandemie grundsätzlich gut verkraften, so unsere Einschätzung. Denn Deutschland war und bleibt ein attraktiver Standort für internationale Wissen­schaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Anstrengungen der letzten Jahre haben sich gelohnt: Hervorragende Forschungs­bedingungen, verlässlich finanzierte Forschungs­infrastrukturen und im weltweiten Vergleich singuläre Verbund­strukturen wie zum Beispiel Exzellenz­cluster ziehen exzellente Köpfe an. Nicht zu unterschätzen ist auch die grundgesetzlich geschützte Freiheit von Forschung und Lehre. In einer neuen Balance von physischer und virtueller Interaktion wird der zeitweilige Einbruch der internationalen Mobilität und Netzwerk­bildung abzufedern sein – vorausgesetzt, dass ein besonderes Augenmerk auf Wissen­schaftlerinnen und Wissenschaftler in der frühen Karrierephase liegt.

Allerdings dürfen die in der Pandemie sichtbar gewordenen politischen Rahmen­bedingungen nicht in Vergessenheit geraten. Das Wissenschaftssystem ist seitdem – noch stärker als zuvor – mit einer fragiler werdenden internationalen Ordnung konfrontiert. Die globale Forschungs- und Gesundheits­politik wurde nach einer ersten Phase der offenen Kooperation zu einem Feld, in dem Rivalitäten zwischen Großmächten und der Streit um Gesellschafts­entwürfe die Offenheit und die Intensität der Zusammen­arbeit mehr und mehr bestimmten.

Diese Entwicklung bleibt nicht ohne Konsequenzen für Internatio­nalisierung im globalen Kontext. In den letzten Jahren ist einigen Wissen­schaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie den wissen­schaftlichen Einrichtungen bewusst geworden, dass ihre wissen­schaftlichen Aktivitäten im Ausland politische oder wirtschaftliche Fragen mit betrafen. Die geopolitische Lage ist mit der COVID-19-Krise noch fragiler geworden. Vor diesem politischen Hintergrund gilt es, die unterschiedlichen Aktivitäten und Initiativen zur Förderung von globalen Kooperationen, Netzwerk­bildungen, Studierenden- und Promovierenden­austausch­programmen nachzujustieren. Das heißt: Das Zusammenspiel mit anderen Politikfeldern wie etwa der Wirtschafts- und Handelspolitik oder auch die fragiler werdende geopolitische Lage sind bei der Planung und Durchführung internationaler Kooperationen im Wissen­schaftssektor systematisch mit zu berücksichtigen. Konkret gilt es, in Zukunft noch mehr Sorgfalt bei der Auswahl der Kooperations­partner, bei der Definition der Ziele und Interessen in der Zusammenarbeit sowie bei der Formulierung der Kooperations­bedingungen walten zu lassen. Die einzelnen Forschenden sollten sich Rechenschaft darüber ablegen. Darüber hinaus sind die politischen Akteure aufgefordert, Rahmen­bedingungen und Leitlinien für Internationa­lisierungsstrategien zu entwickeln; den Forschungs­organisationen und -einrichtungen wie auch Hochschulen wird empfohlen, ihre eigenen Strategien daraufhin zu überarbeiten.

Leitmotiv: Resilienz

Das Wissen­schaftssystem in Deutschland hat sich in der Krise als responsiv erwiesen. Obwohl Einschränkungen im Zuge der Pandemie-Eindämmung auch Hochschulen und Forschungs­einrichtungen betrafen, haben sie ihre Arbeits­prozesse rasch neu organisiert und ihre Lehre mehr oder weniger vollständig in den virtuellen Raum verlagert. Mehr noch: Zügig wurden Forschungs­aktivitäten auf das neue Feld ausgerichtet und mit hoher Geschwindigkeit Daten und Erkenntnisse über die Krankheit und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen generiert. Und zugleich zeigten sich – wie oben exemplarisch gezeigt – Defizite, Vulnera­bilitäten und Heraus­forderungen, die vielfach bereits vor der Pandemie, unter anderem vom Wissenschaftsrat, identifiziert worden waren und nunmehr offen zu Tage traten.

Externe Ereignisse, deren Art, Zeitpunkt und Ausmaß vielfach kaum vorhersehbar sind, entwickeln enorme Auswirkungen auf die Gesellschaft. Angesichts dieser Unsicherheit wird die Bedeutung wissenschaftlicher Forschung als ein wesentliches Instrument einerseits zum Verständnis, andererseits zum Umgang damit noch steigen. Dies sowohl um die unvorher­sehbaren Ereignisse zu bewältigen, als auch um Strategien im Umgang mit bereits bestehenden gesell­schaftlichen Heraus­forderungen wie dem Klimawandel zu entwickeln. Ein hohes Maß an Agilität, Responsivität und die Unterstützung von Risiko­bereitschaft ist auch in Zukunft notwendig, um diese zentrale Funktion von Forschung erfüllen zu können.

Vor diesem Hintergrund hat sich der Wissen­schaftsrat gefragt, ob Wettbewerb und Effizienz­steigerung als Leitprinzipien ausreichen, um mit diesen Risiken und Heraus­forderungen umzugehen. In anderen Politikfeldern (unter anderem in der Sicherheits­politik und im Anschluss an die Finanzkrise vor gut einem Jahrzehnt [2008] in der Wirtschaftspolitik) ist Resilienz zu einem weiteren Leitprinzip für die Organisation des jeweiligen Feldes avanciert. Der Begriff gilt vielfach als Modewort, was sicher mit seiner konzeptionellen Unschärfe zusammenhängt.

Entscheidend ist zunächst zu betonen, dass unter Resilienz nicht allein die Fähigkeit verstanden wird, nach einem plötzlich auftretenden exogenen Ereignis wie einer Pandemie oder einer Katastrophe wieder zum „alten Zustand“ zurückzukehren. Vielmehr zielt der Begriff gerade auf die Fähigkeit, Krisen zu antizipieren, sich auf sie vorzubereiten, sie zu bewältigen und gestärkt aus ihnen hervor­zugehen. Damit geht das System in einen „neuen Zustand“ über. Moderne Gesellschaften sollten sich darauf einstellen, dass sich externe Schock­ereignisse oder abrupte Veränderungen nicht vermeiden lassen. In einer solchen Krisensituation ist es entscheidend, die Funktions­fähigkeit des Systems zunächst zu erhalten, was dem Forschungs­system in Deutschland gelungen ist. Jetzt geht es darum, weitergehende Lehren aus der Pandemie zu ziehen – bis auf die Ebene der Steuerung des Wissen­schaftssystems.

Der Wissenschaftsrat schlägt daher vor, Resilienz als Leitlinie in den wissenschafts­politischen Diskurs einzuführen und damit auch eine Weiter­entwicklung der Steuerung des Wissen­schaftssystem zu erzielen. Dafür bedarf es eines wissenschafts­spezifischen Resilienz­begriffs. Vor dem Hintergrund der Pandemie-Erfahrungen hat der Wissenschaftsrat sechs Elemente identifiziert, die zur Resilienz des Wissenschafts­systems als Ganzes beitragen. Neben der internen Pluralität und disziplinären Breite, was partielle Redundanzen einschließt, zählen als weitere Resilienz­elemente sowohl die eingangs erwähnte Souveränität und Sicherheit im digitalen Raum als auch eine verlässliche öffentliche Finanzierung dazu. Zudem ist ein hohes Maß an Agilität erforderlich, um zügig auf externe Heraus­forderungen reagieren zu können. Netzwerke sind ein weiteres Element, um aufbauend auf vertrauens­vollen Beziehungen gerade in Krisenzeiten zügig in den inter­disziplinären Austausch oder in den Austausch mit unter­schiedlichen Medien und mit politischen Akteuren treten zu können.

Und last but not least ist die Wissen­schaftsfreiheit ein hohes Gut und ein wesentliches Element, um das Vertrauen in das Wissen­schaftssystem nachhaltig aufrecht­zuerhalten. Angesichts der geopolitischen Entwicklungen kann das Bemühen, diesen Wert in internationalen Kooperationen aufrecht­zuerhalten, eine schwer lösbare Aufgabe sein und zum Teil Dilemmata erzeugen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es noch zu früh, um zu entscheiden, wie die unterschiedlichen Resilienz­elemente zu priorisieren oder welche weiteren in Zukunft zu ergänzen sind. Hier ist, wie gesagt, zusätzliche Forschung notwendig, aber auch ein intensiver wissenschafts­politischer Diskurs.

Was sollen wir aus der Krise mitnehmen?

Es darf nicht unser Ziel sein, einfach schnellst­möglich und unreflektiert zum Leben vor COVID-19 zurückzukehren. Das gilt für viele gesellschaftliche Bereiche, auch für das Wissen­schaftssystem. Diese Krise sollte als Weckruf verstanden werden. Die Gesellschaften haben weltweit unterschiedliche Krisen zu bewältigen. Die hohe Dringlichkeit und das Maß der persönlichen Betroffenheit haben in der COVID-19-Pandemie dazu beigetragen, dass die Bereitschaft, aktiv Transformationen voran­zutreiben, auch in Deutschland deutlich gestiegen ist. Auf dem Feld der Digitalisierung ist dies überall zu beobachten. Dies ist längst nicht in allen Krisen der Fall, besonders nicht in schleichenden wie der Klimakrise oder der Demographie- beziehungsweise Migrationskrise. Lassen Sie uns daher den Impuls aus der Pandemie nutzen,

... um endlich die notwendige Kooperation über die Disziplin- und Organisations­grenzen hinweg strukturell zu implementieren,
... um das Wissen­schaftssystem attraktiver für kreative Köpfe zu machen, vor allem für junge Menschen, die mutig neue Wege jenseits etablierter, auch sektoraler, Grenzen gehen können,
... um es agiler aufzustellen, sodass einzelne Wissen­schaftlerinnen und Wissenschaftler sowie ganze Einrichtungen in Krisen ausreichend responsiv sind und in „normalen Zeiten“ Heraus­forderungen proaktiv angehen können, und
... um es stärker mit unter­schiedlichen gesellschaft­lichen Bereichen zu vernetzen, sodass wir mit guten Daten arbeiten und unsere exzellenten Ergebnisse zum Wohl des Gemeinwesens einsetzen können.

Wir wissen, dass sich gesellschaftliche Fragen nicht einfach in Wissensfragen übersetzen lassen – denn dahinter verbergen sich Werte- und Interessens­fragen. Und umgekehrt benötigt gute Politik mehr als evidenz­basierte Forschung. Aber Wissenschaft bleibt zentral für ein demokratisches Gemeinwesen, um sich als Bürgerin oder Bürger unabhängig informieren und als politischer Akteur gut beraten sowie austauschen zu können. Auf diese Herkules­aufgabe müssen wir die jungen kreativen Köpfe vorbereiten!

Zu den Autorinnen
Anja Bosserhoff ist Lehrstuhlinhaberin für Biochemie und Molekulare Medizin der FAU Erlangen-Nürnberg sowie Vorsitzende der Wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrats.

Annette Barkhaus ist Stellvertretende Leiterin der Abteilung Forschung in der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrats in Köln.

Bild: AdobeStock/fran_kie


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Letzte Änderungen: 31.08.2021