Editorial

Plötzlich mittelmäßig

(18.06.2021) Kann es sein, dass die „Publish or Perish“-Regel einen geradezu zwingt, „suboptimale“ Forschung zu machen? Auch wenn man es eigentlich selbst gar nicht will?
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Wie sollte so etwas einfach passieren? Womöglich etwa so:

Der Großteil an Personal- und Projektmitteln wird inzwischen bekanntermaßen befristet vergeben. Und die Fristen sind zuletzt gefährlich kurz geworden. Was folgt, ist inzwischen auch bekannt: Doktoranden, Postdocs sowie alle anderen, die noch nicht am Ende der Karriereleiter angekommen sind, brauchen einen stetigen Fluss an Veröffentlichungen, um nicht unsanft von der Karriereleiter zu fallen oder um möglichst glatt von der aktuellen Bewilligungsrunde hinüber in die nächste zu gleiten.

Was dies jedoch bewirkt, liegt ebenfalls auf der Hand: Der Ehrgeiz der angehenden bis fortgeschrittenen Jungforscher ist immer weniger darauf fokussiert, möglichst robuste und reproduzierbare Ergebnisse zu erhalten, sondern zunehmend darauf, im Sinne des eigenen Karrieremanagements so schnell wie möglich irgendwelche Veröffentlichungen zu produzieren.

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Man wird Teil des Spiels

Die logische Folge, die sich daraus ergibt : Publikationen mit niederklassigen und nicht-reproduzierbaren Ergebnissen nehmen immer weiter zu, während der Anteil an solider oder sogar exzellenter Forschung in dem gleichen Tempo mehr und mehr schwindet.

So weit, so schlecht – aber das ist noch nicht alles. Denn auch die Chefinnen und Bosse, die es eigentlich mal besser gelernt und praktiziert haben, werden selbst unmerklich zum Teil dieses Spiels – paradoxerweise vor allem diejenigen, die sich tatsächlich um ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sorgen. Denn was machen sie, um ihren Studentinnen und Mitarbeitern die allzu prompten Veröffentlichungen zu ermöglichen, die sie weiter in der Karriere-Spirale halten? Sie versorgen sie mit gut planbaren und risikoarmen Mainstream-Projekten, deren naheliegende Ergebnisse quasi schon vor ihrer Nase hängen – nur um ihnen mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit die „überlebenswichtigen“ Publikationen garantieren zu können…

Nur noch Detailkrümel

Bis sie plötzlich merken, dass ihre Forschung auf diese Weise zu einem absolut vorhersehbaren und mittelmäßigen Geschäft heruntergekommen ist. Keine wirklich spannenden Ergebnisse mehr, keine überraschenden Einsichten oder wegweisende Innovationen – stattdessen nur noch das Hinzufügen kleiner Detailkrümel zu einem wohlbekannten Prozess hier oder einem bereits gut beschriebenen Phänomen dort.

Das Schlimme ist, dass sicherlich niemand solch ein Szenario von sich aus will. Vielmehr sind es die Zwänge des beschriebenen Systems, die immer mehr Beteiligte unwillentlich in die Richtung derartiger „Kompromiss-Forschung“ drücken.

Ralf Neumann

(Illustr.: Laborjournal)

 

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Letzte Änderungen: 12.06.2021