Editorial

Schatten der Vergangenheit

(19.04.2021) Heinrich Pette hat viel für die Erforschung von Polio getan. Trotzdem legt das von ihm gegründete virologische Institut nun seinen Namen ab.
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Auch gut ein Dreiviertel­jahrhundert nach dem Zusammen­bruch des Dritten Reichs ist die Aufar­beitung der zwölf Jahre währenden national­sozialis­tischen Herrschaft in Deutschland noch nicht beendet. Immer wieder fördert die Geschichts­forschung neue Fakten über Personen des öffentlichen Lebens zutage, die einen Schatten auf ihr Lebenswerk werfen.

Und das kann auch heute noch Konsequenzen haben. Etwa indem Straßen umbenannt werden, weil die Würdigung einer bestimmten Person für eine Stadt oder Gemeinde vor dem Hintergrund ihrer Haltung in der Nazi-Zeit nicht mehr tragbar scheint. Auch altehrwürdige Institutionen sind davor nicht gefeit, wie das Beispiel der ehemaligen Ernst-Moritz-Arndt-Universität zeigt, die seit 2018 wieder einfach Universität Greifswald heißt. Arndt hat das Dritte Reich zwar nicht mehr erlebt, aber durch seine antisemitische und nationalistische Gesinnung die Gunst der Greifswalder verspielt. Auch das Heinrich-Pette-Institut (HPI) in Hamburg hat sich inzwischen kritisch mit dem Instituts­gründer auseinandergesetzt.

Editorial

Polio, AIDS und COVID-19

Mit seiner Gründung im Jahr 1948 war der Vorläufer des HPI – die „Stiftung zur Erforschung der spinalen Kinderlähmung“ – eine der ersten Forschungs­einrichtungen in Deutschland, die sich ganz dem noch neuen Fachgebiet der Virologie widmeten. Als Stiftung bürgerlichen Rechts handelt es sich um eine gemein­nützige und selbst­ständige Forschungs­einrichtung, die seit 1995 der Leibniz-Gemeinschaft (WGL) angehört. Unter dem Namen Heinrich-Pette-Institut, Leibniz-Institut für Experi­mentelle Virologie werden in Hamburg human­pathogene Viren wie beispielsweise die Erreger von AIDS, Grippe und Hepatitis erforscht. Aber auch neu auftretende virale Infektions­krankheiten stehen im Fokus – aktuell naturgemäß der COVID-19-Erreger.

Einer der Gründungs­direktoren war der Neurologe Heinrich Wilhelm Pette (1887-1964), der dort vor allem die spinale Kinderlähmung (Polio­myelitis) erforschen wollte. Die Infektions­krankheit wird durch ein unbehülltes RNA-Virus aus der Gruppe der Picorna­viridae verursacht, das die Motoneurone infiziert und dadurch schwere Lähmungen der Arme und Beine, und im schlimmsten Fall auch der Atem­muskulatur verursachen kann. Das Geld für die Gründung stammte vom Zigaretten­fabrikanten Philipp F. Reemtsma, der einen Sohn an die Krankheit verloren hatte. In den 1950er-Jahren – nachdem noch 1952 bei einem einzelnen Ausbruch in Deutschland annähernd 10.000 Kinder erkrankt waren – wurde Pette zu einem der zentralen Akteure bei der Einführung einer Polio-Schutzimpfung, die 1960 (DDR) bzw. 1962 (BRD) eingeführt wurde und seitdem unzählige Leben gerettet hat. Kurz nach Pettes Tod wurde „sein“ Institut deshalb in Heinrich-Pette-Institut umbenannt.

An Zwangssterilisationen beteiligt

Wie viele Wissenschaftler seiner Zeit trat auch Pette 1933 in die NSDAP ein und unterzeichnete zusammen mit vielen Hochschul­angehörigen das „Bekenntnis der deutschen Professoren an den Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem national­sozialistischen Staat“. Da er als Direktor der Neurologischen Univer­sitätsklinik im Eppendorfer Krankenhaus und als zweiter Vorsitzender der Gesellschaft deutscher Neurologen und Psychiater (GDNP) hohe Ämter innehatte, war der Mediziner – ob er wollte oder nicht – Teil des Systems.

Ob und wie sehr er in die Machen­schaften der Nazis verstrickt war, blieb aber lange unklar. Um Klarheit zu bekommen, beauftragte das HPI den Medizin­historiker Heinz-Peter Schmiedebach mit einem ersten Gutachten, das aber in der Kürze der Zeit kein eindeutiges Bild zeichnen konnte. Das HPI entschied sich deshalb 2015 für einen ausführlichen Prozess der Aufarbeitung, der durch ein weiteres Gutachten der beiden Historiker Axel Schildt und Malte Thießen abgeschlossen wurde.

Die beiden Historiker kommen zu dem Schluss, dass Pette wohl kein überzeugter Nationalsozialist, sondern eher ein Mitläufer und Opportunist gewesen sei. So war der Neurologe als Gutachter an sogenannten Erbgesund­heitsverfahren beteiligt, die verhindern sollten, dass „erbkranke“ Menschen Nachwuchs bekommen. In fast der Hälfte der von ihm erstellten Gutachten empfahl Pette tatsächlich die Sterilisierung der betroffenen Personen, die an damals als „erblich“ eingestuften Erkrankungen wie Epilepsie, Schizophrenie oder Alkoholismus litten. An der organisierten Tötung „erbkranker“ Menschen (Euthanasie) war er dem Gutachten zufolge zwar nicht nachweislich direkt beteiligt. Er stand aber in Kontakt mit den Verant­wortlichen und hat seine Mitwisser­schaft auch nach dem Krieg selbst zugegeben.

Vorbildfunktion verloren

Diese Ambivalenz im Leben des Forschers habe die Auseinander­setzung mit seiner Person so schwer gemacht, wird der Wissen­schaftliche Direktor des HPI Thomas Dobner in einer Presse­mitteilung zitiert: „Wie viele Lebensläufe seiner Zeit lässt sich sein Wirken nicht einfach in reines Schwarz oder Weiß unterscheiden, sondern es gibt viele Zwischentöne. Der Auseinander­setzung mit dieser Ambivalenz – seine Leistungen in der Wissenschaft und als Gründungs­direktor des Instituts auf der einen Seite und seine Entscheidungen in den Erbgesund­heitsverfahren auf der anderen Seite – mussten wir uns als Institut, das seinen Namen trägt, stellen.“

In enger Absprache mit Kuratorium und Kollegium hat das HPI nun die Konsequenz gezogen und entschieden, den Namen des Instituts­gründers abzulegen. „Mit Blick auf eine zukunfts­gerichtete und internationale Ausrichtung erscheint der großen Mehrheit von uns der Name ‚Heinrich Pette‘ für das Institut als nicht mehr angemessen und kompatibel“, erklärt Dobner. Der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft Matthias Kleiner begrüßte die Aufarbeitung der Instituts­geschichte und die daraus gezogenen Konsequenzen. Der Namensträger eines Leibniz-Instituts solle schließlich ein besonderes Vorbild für nachfolgende Generationen von Wissen­schaftlerinnen und Wissen­schaftlern sein. Bis Ende 2022 sucht das HPI jetzt nach einem neuen Namen. Bis dahin heißt es einfach Leibniz-Institut für Experimentelle Virologie.

Larissa Tetsch

Bild: Pixabay/OpenClipart-Vectors

 

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Letzte Änderungen: 19.04.2021