Editorial

Bin ich ein Neandertaler? Befürchtungen eines Laien

Sind die Neandertaler von Homo sapiens verdrängt worden, oder haben sie sich miteinander vermischt? Und wenn das so ist, welchen Teil des heutigen Genpools steuerten die Neandertaler bei?

(16.11.2006) Für Laien wie mich fangen die Probleme mit dem Neandertaler schon bei der Definition an: Wie unterscheidet man ihn vom modernen Menschen. Fragt man Fachleute kommen Erklärungen wie: Robustere und leicht eingedrehte Oberarm- und Unterschenkelknochen, mächtige Überaugenwülste, flachere Stirn, rundere Hirnschale, größere Nasenöffnung, weniger deutlich ausgeprägtes Kinn. Es sind immer quantitative, nie qualitative Merkmale. Sie scheinen sich zudem mit der Zeit zu ändern, so hieß es früher, der entscheidende Unterschied zwischen Neandertaler und Homo sapiens sei ein bestimmter Winkel im Gehörgang.

Auch heute scheinen sich die Fachleute keineswegs einig zu sein. Erik Trinkaus von der Washington University in St. Louis zum Beispiel behauptet, typisch für Neandertaler sei eine Beule am Hinterschädel, andere jedoch sagen, das Gegenteil sei der Fall: Neandertaltypisch sei eine Delle am Hinterschädel. Auch habe ich noch nie eine Statistik gesehen, die die natürliche Variation der Knochenparameter von Homo sapiens und Neandertaler darlegen. Überlappen sie sich? Wie verhalten sie sich zu den entsprechenden Variationen der Knochen von Wild- und Haustierrassen? Dazu kommt, dass der Knochenbau eines Menschen, auch eines Vormenschen, von der Lebensweise abhängt.

Misstrauisch macht mich auch, dass die Paläoontologen ein leichtsinniges Völkchen zu sein scheinen, schnell bei der Hand mit Erklärungen, die zwar kategorisch vorgebracht werden, aber wesentlich unbeständiger sind als ein steinzeitlicher Fellumhang. So schließen manche Urgeschichtler zum Beispiel aus dem Knochenbau auf die Fähigkeit zu symbolischem Denken - nach der Methode, der Knochenbau des Neandertalers sei zu verschieden von dem des Homo sapiens, also könne er nicht symbolisch denken. Genau so gut könnte man sagen, eine Perserkatze miaut, also miauen Tigerkatzen nicht, denn ihr Fell ist zu gestreift.

Es scheint also keine saubere Definition des Neandertalers zu geben. Damit zusammenhängend und fast noch schlimmer ist der Eindruck, dass auch die Arbeitsweise der Urgeschichtler nicht die sauberste ist. So pflegten sie den genetischen Abstand zwischen Populationen jahrzehntelang mit einer mathematisch falschen Formel aus den Genfrequenzen zu errechnen (manche tun das wahrscheinlich heute noch). Neulich erreichte mich ein Brief eines Mathematikprofessors, der sich mit mitoch ondrialen DNA (mtDNA)-Sequenzen beschäftigt und den Größen auf diesem Gebiet vorwirft, "vermurkste" Datensätze zu produzieren. Er schrieb sogar von Pfusch und Betrug in der anthropologischen Forschung. Ich habe versucht mit dem Herrn Kontakt aufzunehmen, allein er reagierte weder auf E-Mails noch ging er ans Telefon. Ob ihn die Anthropologen ermordet haben? Wenn dann hoffentlich standesgemäß mit einem Obsidianbeil.

Nach unsauberen Definitionen und unsauberen Methoden ein weiteres unsauberes Thema: Hatten Neandertaler und Homo sapiens Sex? Wenn ja, hatte das Folgen?

Eine genetische Kontinuität zwischen Neandertaler und Homo sapiens scheint nach Caramelli et al. (PNAS 2003, 100, 6593) in mtDNA nicht feststellbar zu sein. Caramelli et al. verglichen die mtDNA von zwei 23.000 beziehungsweise 25.000 Jahre alten Cro Magnon-Homo sapiens mit der von vier Neandertalern. Die Cro Magnon-Sequenzen glichen denen moderner Menschen und unterschieden sich stark von der Neandertaler-mtDNA. Caramelli et al. argumentieren mit den schon erwähnten genetischen Distanzen, sie berechnen sie nach einer Methode, die ich nicht kenne - hoffentlich stimmt sie. Andere Autoren (zum Beispiel Ovchinnikov et al. in Nature 2000, 404, 490) versichern, dass die mtDNA von Neandertalern der von Europäern nicht ähnlicher sei als der von zum Beispiel Koreanern. Auch die Theorie, dass das europäische MC1R-Allel für rote Haare von den Neandertalern stammt, hat nur wenig Anhänger.

Mich hatten diese Argumente nie überzeugt: Die modernen Sequenzen in der mtDNA der Cro Magnon-Knochen könnten auch Verunreinigungen sein - und selbst wenn nicht, sagen zwei Sequenzen nichts über einen geringen Beitrag der Neandertaler aus. Zudem konnte sich der auf männliche Neandertaler beschränkt haben: Die waren muskulöser als der Homo sapiens und mehr Hirn hatten sie auch. Homo sapiens-Frauen könnten Neandertaler-Männer attraktiv gefunden haben. Die graduellen Unterschiede im Knochenbau? Auch Spitz und Boxer paaren sich und schon der Augenschein zeigt, dass die sich im Knochenbau mindestens so stark unterscheiden wie Neandertaler und Homo sapiens. Ein rein oder bevorzugt männlicher Genfluss ließ sich in der Menschheitsgeschichte schon mehrfach nachweisen, so in den Beziehungen zwischen Skandinaviern und Eskimos, Spaniern und südamerikanischen Indianern oder Yemeniten und Äthiopiern.

Und in der Tat: Der Wind dreht sich. Im November veröffentlichte PNAS online ein Paper vorab mit dem Titel "Evidence that the adaptive allele of the brain size gene microcephalin introgressed into Homo sapiens from an archaic Homo lineage". Die Autoren vertreten die These, dass der Haplotyp D des Microcephalin-Gens (MCPH1) vor 37.000 Jahren von den Neandertalern in den Homo sapiens-Genpool eingeführt worden sei. Microcephalin regelt die Hirngröße während der Entwicklung und der Haplotyp D scheint dies in besonders vorteilhafter Form zu tun, denn er setzte sich in den 37.000 Jahren seit seiner Entstehung schnell durch. Siebzig Prozent aller Menschen tragen ihn heute. In punkto Neandertaler/Sapiens-Sex ist dieser Artikel allerdings keineswegs überzeugend, er bringt keine neuen Fakten (zum Beispiel den Nachweis, dass der Haplotyp D beim Neandertaler zuerst auftrat), sondern interpretiert lediglich die alten, wenn auch mit einer neuen mathematischen Methode.

Mich beschlich der Verdacht, dass der nächste mathematisch begabte Urgeschichtler mit einer anderen Methode auch andere Ergebnisse präsentieren würde. Doch hat inzwischen selbst der Leipziger Neanderthaler DNA-Experte Svante Pääbo, früher ein Anhänger der Keuschheitstheorie, seine Meinung geändert: "Möglicherweise hat es einen Austausch von genetischem Material zwischen dem modernen Menschen und dem Neandertaler gegeben", wurde er in Spiegel online zitiert. Grundlage dieses Meinungswechsels können nur Ergebnisse des Neandertalergenom-Projekts sein. 0,04 Prozent des Neandertaler-Genoms - also der Zellkern-DNA - sind inzwischen bekannt.

Der Wind hat also gewechselt, aber sicher ist in der Anthropologie nur eines: Nach der nächsten Ausgrabung sieht alles wieder ganz anders aus.

Siegfried Bär





Letzte Änderungen: 18.11.2006