Editorial

LJ-Rätsel: Die Modellmacherin

(26.01.2021) Und wieder geht es um eine Frau, ohne deren Pionierleistung es einen späteren Nobelpreis für jemand anderen so wohl nicht gegeben hätte.
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Schon lange ist man gewohnt, dass wichtige Entde­ckungen in der Genetik aus E. coli, Hefe, Drosophila, Arabidopsis, Maus oder Zebrafisch kommen. Oder eben aus einem anderen sogenannten Modell­organismus. Im Gegensatz dazu machte unsere Gesuchte die entschei­denden Beobach­tungen mit den Chromo­somen eines ziemlich gewöhn­lichen Käfers. Dies sicherlich auch deswegen, weil die meisten der oben genannten Modell­organismen zu dieser Zeit noch gar nicht als solche etabliert waren. (Und im Gegensatz zu den Chromo­somen­studien unserer Gesuchten spielte der Käfer auch nachfolgend kaum noch eine Rolle in der Forschung; stattdessen macht er bis heute Karriere als billig zu züchtendes Protein­futter in Tierhaltung und Terraristik.)

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Als unsere Gesuchte vor über hundert Jahren quasi „auf den Käfer kam“, war sie bereits 44 Jahre alt. Was unter anderem auch daran lag, dass sie – wie so viele Frauen in dieser Zeit – ihrem Drang zum Forscherinnen-Dasein nur sehr zäh folgen konnte. Geboren wurde sie knapp zwei Monate, nachdem der amerikanische Bürgerkrieg losge­gangen war – pikanter­weise genau in dem US-Bundesstaat, der als erster die Sklaverei verbot. Ihre beiden älteren Brüder waren bereits im Kindesalter gestorben, ihre Mutter starb zwei Jahre später nach der Geburt der jüngeren Schwester. Im Alter von vier Jahren zog sie mit dem erneut verhei­rateten Vater und ihrer Schwester einen US-Bundesstaat weiter nach Osten. Dort meinte es das Schicksal endlich mal etwas günstiger mit ihr: Der Vater hatte mit seinem Handwerks­betrieb schnell Erfolg, sodass er seinen beiden Töchtern eine gute Schulbildung ermöglichen konnte.

Im Alter von 20 Jahren arbeitete sie zunächst als Highschool-Lehrerin, begann aber bereits ein Jahr später ein natur­wissenschaft­liches Rundum-Studium an einer pädago­gischen Hochschule, welches sie mit Bravour abschloss. Dennoch arbeitete sie danach zunächst weitere 13 Jahre als Lehrerin und Bibliothekarin. Erst danach hatte sie genug Geld zusammen­gespart, dass sie diese Tätigkeiten aufgeben und sich an der Stanford University für ein Biologie-Studium mit Schwerpunkt Zytologie einschreiben konnte.

Vier Jahre später hatte sie ihren Master in der Tasche und wechselte für ihre Doktor­arbeit an ein kleines Frauen-College im Osten der USA. Eine perfekte Wahl, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht: Schließlich forschten und lehrten dort zu dieser Zeit unter anderem auch zwei Männer, die sich in der Folgezeit zu den ganz Großen der Zellbiologie entwickeln sollten.

Hatte sie in ihrer Dissertation, die sie schließlich im Alter von 42 Jahren abschloss, vor allem noch Wimpern­tierchen unter dem Mikroskop beobachtet, ging sie in den Folgejahren dazu über, insbesondere Chromosomen zu präparieren. Dies war sicherlich auch motiviert durch den voran­gegangenen ersten von zwei Aufenthalten bei einem Würzburger Zoologen, der kurze Zeit später die große Theorie zur Funktion der Chromosomen begründen sollte.

Bald darauf hatte unsere Gesuchte immer wieder die besagten Käfer-Chromo­somen auf dem Objektträger – und machte schließlich eine folgen­schwere Beobachtung: Weibliche Käfer hatten immer 20 große Chromosomen, männliche Tiere dagegen immer 19 große und ein kleines. Auch wenn sie selbst es seinerzeit vorsichtiger ausdrückte: Sie hatte die Geschlechts­chromosomen identifiziert. Und mehr noch: Als Erste hatte sie damit nachgewiesen, dass sich körperliche Unterschiede – hier: das Geschlecht – über Chromosomen weiter­vererben. Zu einer Zeit, als Gene noch nicht bekannt waren.

Da die meisten Pioniere der Chromosomen-Zytologie in dieser Frage damals der Hypothese hinterher­jagten, dass weibliche Individuen ein Chromosom mehr hätten als männliche, folgte zunächst, was in solchen Fällen leider oft passiert: Die Mehrheit der Community glaubte ihr nicht. Der eine der beiden erwähnten College-Kollegen, der kurze Zeit später an eine Edeluni­versität wechseln und dort ein legendäres „Zimmer“ gründen sollte, schrieb denn auch wenige Jahre später dazu in seinem Nachruf auf unsere Gesuchte in Science:

„Es ist nicht zu viel gesagt, dass viele Zytologen mehrere Jahre lang eine skeptische oder sogar antago­nistische Haltung gegenüber ihrer neuen Entdeckung einnahmen. Zweifellos wird man dies der wissen­schaftlichen Vorsicht zuschreiben, aber vielleicht erklärt Konser­vatismus besser die Langsamkeit, mit der diese Entdeckung anerkannt wurde.“

21 Jahre nach diesen Worten erhielt deren Autor den Nobelpreis – für Forschungs­leistungen, die nicht unerheblich auf denjenigen der von ihm Gewürdigten aufbauten. Überdies verdankte er diese einem weiteren kleinen Tierchen, das sie zuvor in dessen Labor der Forschung erstmals überhaupt zugeführt hatte – und das danach tatsächlich zu einem der ganz großen Modell­organismen werden sollte.

Sie selbst war zu diesem Zeitpunkt jedoch schon lange an Brustkrebs verstorben. Wie heißt sie?

Ralf Neumann

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Bild: Pixabay/Anemone123



Letzte Änderungen: 26.01.2021