Maus ist nicht gleich Mensch
„Virus-Infektionen sind der Prototyp von Krankheiten, die sehr spezifisch für nur eine Spezies sind“, schreibt eine Gruppe von Autoren um Marcel Leist, Professor für In-vitro-Toxikologie und Biomedizin an der Uni Konstanz, in einem aktuellen Beitrag über In-vitro-Methoden in der COVID-19-Forschung (Arch Toxicol, 94(6):2263-72).
Zum Glück gibt es diese Methoden, die ohne Versuchstiere auskommen, bereits seit Jahren, berichtet uns Marcel Leist, der europaweit den einzigen Lehrstuhl für alternative Ersatzmethoden zu Tierversuchen besetzt. „Bei der COVID-19-Forschung ist das Problem, dass Mäuse gar nicht erkranken“, erklärt er. Daher muss erst eine humanisierte Mauslinie erzeugt und die Tiere in ausreichenden Mengen vermehrt werden. „Aber diese Mäuse spiegeln immer noch nicht die Situation im Menschen wider“, gibt Leist zu bedenken. An transgenen Mäusen hätte man beispielsweise gar nicht zeigen können, dass das Virus auch das Nervensystem befällt (ALTEX, DOI: 10.14573/altex.2006111). “Weil man dort ja selbst bestimmen müsste, ob die Rezeptoren in Nervenzellen exprimiert werden oder nicht“.
Faktor Zeit
Ein anderer Faktor ist Zeit: Während sich SARS-CoV-2 rasant über die Kontinente hinweg seinen Weg bahnte, suchten Ärzte und Pharma-Firmen händeringend nach Behandlungsmöglichkeiten. Da waren die zellulären Tests im Labor bereits dreimal wiederholt, bevor die transgenen Mäuse überhaupt einen Wurf hervorgebracht hatten.
Marcel Leist berichtet von unzähligen alternativen Methoden zu Tierversuchen, kurz NAM – New (animal-free) Approach Methods –, die nur auf ihren Einsatz warteten: „Es gab zum Beispiel bereits Modelle von menschlichen Lungen, an denen jetzt ganz schnell Virus-Ausbreitung, -Replikation und Arzneimittelwirkung untersucht werden konnten“, erzählt er. Und potentielle Wirkstoff-Kandidaten gab und gibt es einige. Gefühlt jede Woche kommen die Pharma-Firmen mit neuen Substanzen an die Öffentlichkeit, die sie womöglich noch irgendwo im Keller hatten. Der Toxikologe betont: „Natürlich geht das Testen nur mit zellulären Systemen“.
Dabei ist die pharmakologische Wirkung auf das target, also etwa die Hemmung der Virus-Replikation, nur die eine Seite der Medikamenten-Medaille. Weiterhin muss untersucht werden, ob der Wirkstoff dem Metabolismus des Patienten standhält und ob er möglicherweise unerwünschte Nebenwirkungen auslöst. Für beides gibt es inzwischen NAM, mit denen nun auch potentielle COVID-19-Arzneimittel auf Herz und Nieren geprüft werden. Marcel Leist erklärt: „Metabolische Stabilität kann in vitro mit Hepatozyten getestet werden und sogar für viele mögliche Nebenwirkungen, wie Mutagenizität und Allergie, gibt es anerkannte NAM. Mit diesen Systemen kamen die Forscher in den letzten Monaten sehr schnell sehr weit.“
Für eine saubere wissenschaftliche Basis
Es geht sogar noch weiter, denn neben Studien zur Effizienz und zur Toxizität geht es auch um die Qualität eines Arzneimittels. „Qualitätsprüfungen sind besonders wichtig bei Impfstoffen, die ja von der Protein-Konformation abhängen“, erklärt Leist. Außerdem könnte es auch Endotoxin-Verunreinigungen geben und daher muss jeder Batch getestet werden, bevor er zum Patienten kommt. „Hier ist in den letzten 20 Jahren wahnsinnig viel entwickelt worden an Alternativmethoden. Natürlich nicht nur um Tiere einzusparen, sondern einfach um eine sauberere wissenschaftliche Basis zu bekommen“.
So wurde zum Beispiel an der Uni Konstanz ein Endotoxin-Test entwickelt, der es bis zur Marktreife und internationalen Akzeptanz bei Behörden gebracht hat. Die Idee ist diese: Endotoxine, die Impfstoffe verunreinigen können, stimulieren bestimmte Rezeptoren auf Makrophagen, nämlich toll like receptors (TLR). Daraufhin werden Cytokine freigesetzt – im Patienten kann eine übermäßige Cytokin-Freisetzung, ein sogenannter Cytokin-Sturm, lebensgefährlich sein.
Klassischerweise testet man die Impfstoffe daher vor dem Vertrieb in Kaninchen. Es geht aber auch Kaninchen-frei: „Mein Kollege Thomas Hartung hatte die zündende Idee, einfach einen Tropfen menschlichen Bluts zu nehmen, die Substanz dazuzugeben und nach 1,5 Stunden Cytokine zu messen. Wenn die Blutzellen Cytokine freisetzen, waren eben Endotoxine im Impfstoff, ansonsten nicht“. Außerdem sei der Test sensitiver, spezifischer und genauer als der Kaninchen-Test, wie sich in Ringversuchen herausgestellt hat. Auch bei der Vorhersage von Mutagenizität sind In-vitro-Methoden schon seit 20 Jahren etabliert.
Auch aus der Impfstoff-Forschung hört man mittlerweile einen Ruf nach alternativen Methoden. So plädierte Immunologe Leif-Erik Sander kürzlich auf LJ Online dafür, Impfstoff-Kandidaten zuerst an menschlichen Zellmodellen zu testen (siehe „Wunderwaffe hinterfragt“ vom 08.06.2020).
Ein Riesenvorteil
Klar ist, dass solche Tests nur entwickelt werden können, wenn man die Biologie dahinter kennt – wie etwa beim Endotoxin-Test. Und dass sehr viel Forschung benötigt wird, um NAM zu entwickeln. Aber Leist unterstreicht: „Die Corona-Pandemie zeigt jetzt, dass es ein Riesenvorteil war, dass ein paar Leute schon Erfahrung hatten mit entsprechenden In-vitro-Methoden, die das Screening wahnsinnig beschleunigt haben. Und das muss man auch in Zukunft fördern, indem Forschungsgelder dafür bereitgestellt werden.“
Er selbst macht an seinem Lehrstuhl für alternative Ersatzmethoden zu Tierversuchen nichts anderes. „Wir entwickeln Alternativmethoden im Kontext von BMBF-Projekten und europäischen Projekten. Die meisten Projekte haben etwas mit neuronaler Entwicklung zu tun, viele auch mit allgemeiner Embryonalentwicklung, und ein paar auch mit Lebertoxizität. Wir entwickeln aber nicht spezifisch Infektionsmodelle, sondern generelle Modelle für die Toxikologie“, erklärt er und fährt fort, „Wir sind interessiert an Chemikalien, die die Entwicklung des zentralen Nervensystems stören, also zum Beispiel zu Autismus führen oder kognitiven Defiziten.“
Dabei gehe es zum Beispiel um leichte Auswirkungen, wie vielleicht fünf IQ-Punkte weniger, oder aber die Wahrscheinlichkeit, später Schizophrenie zu entwickeln. „Und da möchte ich doch mal die Tiermodelle dazu sehen. Oder zu Migräne, gibt es da Tiermodelle?“ fragt sich Leist. „Man ist sich manchmal gar nicht im Klaren darüber, wie problematisch es ist, etwas im Tiermodell zu sehen“, sagt der Professor.
Die Mischung macht‘s
Natürlich können NAM nicht alle Aspekte der Medikamenten-Entwicklung und Forschung abdecken, selbst zu Virus-Infektionen wie COVID-19 nicht. Aber genauso wenig sind Tiermodelle alleine der richtige Weg. Toxikologe Leist setzt auf komplementäre Ansätze: „Vielleicht kann in Zukunft auch einiges an Mäusen erforscht werden und vielleicht einige Fragestellungen besser beantwortet werden. Aber ich würde nicht alle meine Aktien in denselben Topf werfen“. Der Professor ist überzeugt, dass NAM die Zukunft sind. Aber man müsse sie, zumindest jetzt noch, mit traditionellen Methoden wie Tierversuchen kombinieren.
Karin Lauschke
Foto: Public Domain
Letzte Änderungen: 27.07.2020