Kaum Immunzellen im Muskel
„Das ist eine interessante Frage“, räumt der Immunologe Leif-Erik Sander ein. Er leitet die „Infection Immunology & Vaccinology“-Gruppe an der Berliner Charité. Dass auch herkömmliche intramuskulär verabreichte Impfstoffe überhaupt wirken, sei gar nicht selbstverständlich, erklärt er. „Im Muskel sind ja wenige Immunzellen, das ist ein prinzipielles Problem. Dort muss man erstmal eine Entzündung erzeugen, damit überhaupt Immunzellen einwandern.“
Deshalb sind Impfstoffen in der Regel auch Wirkverstärker (Adjuvantien) beigemischt. Einzig ein Erregerprotein zu verabreichen, genügt also in den seltensten Fällen. Vielmehr scheinen Impfungen dann besonders effektiv zu sein, wenn sie eine echte Infektion möglichst naturgetreu simulieren. „Wir beobachten schon seit Jahren, dass Lebendimpfstoffe häufig sehr langlebige und sehr gute Immunität hinterlassen, im Gegensatz zu vielen Nicht-Lebendimpfstoffen“, berichtet Sander.
Genau das könnte auch ein Vorteil bei der Gabe von mRNA sein. „Mikrobielle RNA ist uns als wichtiges Signalmolekül für das Immunsystem aufgefallen“, blickt Sander zurück. Er hatte schon 2011, damals noch in New York tätig, sogenannte Pathogen-assoziierte molekulare Muster (PAMPs) in Prokaryoten gesucht und geschaut, wie sich diese in lebenden und toten Bakterien unterscheiden. Dabei identifizierten Sander und seine Koautoren mRNA als typische Signatur lebender Bakterien, die sowohl eine charakteristische angeborene Immunantwort als auch eine stärkere Antikörperbildung auslösen. Die Autoren spekulierten damals, dass ein Beimischen von mRNA die Wirkung von Impfpräparaten verbessern könnte, ohne die Risiken von Lebendimpfstoffen in Kauf nehmen zu müssen (Nature, 474(7351): 385-9).
Die richtige Balance
Sander hat viel zu solchen „Viabilitätsmarkern“ geforscht, die das Immunsystem auf den Plan rufen. Dabei spielt auch immer wieder die Interaktion zwischen mRNA und Immunzellen eine Rolle. „Wir sind so ebenfalls auf das Thema ‚RNA-Vakzine’ gestoßen und hatten mit Firmen kollaboriert, die Impfkandidaten suchen; aber wir sind da nie tiefer eingestiegen und haben da keinen eigenen Impfkandidaten in der Pipeline“, betont Sander. Daher könne er auch unbefangen und „frei von irgendwelchen Konflikten“ darüber sprechen.
Offenbar hilft also allein schon das Format ‚mRNA’ dabei, zunächst eine unspezifische Immunreaktion zu initiieren – unabhängig davon, für welches Antigen diese mRNA codiert. Für die Erkennung als „fremd“ spielen auch Unterschiede zwischen menschlichen und mikrobiellen mRNAs eine Rolle. „Da muss man am Ende natürlich die richtige Balance finden“, ergänzt Sander, „denn wenn die mRNA zu immunogen ist, wird sie nicht effizient translatiert“. mRNA muss andererseits auch ausreichend stabilisiert werden, um eine Chance zu haben, in Zellen zu gelangen. Zum einen kann man die untranslatierten Enden optimieren, so dass diese keine doppelsträngigen Sekundärstrukturen bilden, zum anderen gibt es verschiedene Wege, die RNA für den sicheren Transport bis zum Erreichen der Zelle zu verpacken, zum Beispiel in lipidhaltigen Nanopartikeln. Mehr hierzu schreiben US-amerikanische Forscher in einem Übersichtsartikel (Curr Opin Immunol, 65: 14-20).
Ist das angeborene Immunsystem erst alarmiert, so könnte auch der Umweg über die Translation in Muskelzellen zum Teil übersprungen werden. „Eine Idee ist, dass auch ein bisschen mRNA zum Beispiel in dendritische Zellen gelangt, die dann wiederum translatiertes Antigen auf ihrer Oberfläche präsentieren“, gibt Sander eine Vermutung zum Wirkmechanismus wieder.
Im Tierversuch hat sich das Impfen durch mRNA bewährt. Allerdings weiß man insbesondere aus Mäusen, dass sie häufig auch dort deutliche Immunantworten zeigen, wo beim Menschen keine Reaktion messbar ist. „Bei Mäusen gibt es zum Teil andere Rezeptoren und andere Zellen“, bestätigt Sander, „und auch bei RNA-Impfstoffen sind die Immunantworten in Mäusen in der Tat stärker als beim Menschen“. Sander plädiert dafür, in der Impfforschung zunächst in menschlichen Zellen und Gewebemodellen Beobachtungen zu sammeln, bevor man einen Impfkandidaten näher unter die Lupe nimmt.
Bislang nichts zugelassen
Bisher gibt es noch keine regulär zugelassene mRNA-Impfung. Aktuell (Stand: 8. Juni 2020) stecken zwanzig RNA-Vakzinen in präklinischen Phasen und zwei Kandidaten werden bereits klinisch getestet.
Nun ist es sehr viel kostengünstiger, eine Nukleinsäurefolge an ein neues Antigen anzupassen als Protein-basierte Impfstoffe oder gar Vakzinen mit kompletten Erregern zu entwickeln und auch in ausreichender Menge zu produzieren. Man könnte also sehr schnell reagieren, wenn sich ein Erreger wie SARS-CoV-2 oder auch Influenza verändert. Warum also gibt es nicht längst zugelassene mRNA-basierte Impfstoffe? Waren sie in der Präklinik bislang zu unsicher oder unterm Strich doch ineffizient? „Gerade im Impffeld wird nicht unbedingt das entwickelt, was naheliegend ist, sondern was lange schon funktioniert hat“, ordnet Sander diese Beobachtung ein. Viele der heute eingesetzten Impfstoffe beruhten auf Prinzipien, die hundert Jahre alt seien. „Schließlich zählt bei Impfstoffen immer erstmal die Sicherheit, denn wir verabreichen ja einer gesunden Person ein Präparat.“ Impfstudien seien nun mal sehr aufwendig und wahnsinnig teuer, fährt Sander fort. „Sie müssen riesengroße Populationen impfen, um seltene Infektionsereignisse zu verhindern und Nebenwirkungen zu erkennen“, erklärt er. „Aber jetzt durch diese Pandemie rücken solche modernen, alternativen Strategien natürlich in den Fokus“.
Mit größeren Risiken rechnet Sander aber nicht, weil mRNA ja schnell wieder abgebaut wird und nicht ins Genom integriert werden kann. Dieses Risiko besteht theoretisch bei DNA-basierten Impfstoffen, die in Form von Plasmiden verabreicht werden. Auch hier gibt es noch kein zugelassenes Präparat. Trotzdem müsse man die mRNA-Vakzinen sorgfältig prüfen. „Wir kennen für diese Technologie ja noch keinen Präzedenzfall, der bereits funktioniert, und somit bleibt da natürlich ein gewisses Risiko“, so Sander.
Rasante Entwicklung
Als erstes Unternehmen bekam BioNTech im April die Genehmigung für den Beginn einer Phase-1-Studie. Deren mRNA enthält zum Beispiel modifizierte Uridine, um die immunverstärkende Wirkung abzuschwächen und eine ausgewogene Immunreaktion zu gewährleisten. Im Maiheft von Laborjournal gibt es zu den methodischen Details der SARS-CoV-2-mRNA-Impfstoffkandidaten einen Beitrag, in dem auch Impfstoffentwickler zu Wort kommen.
„Alle mir bekannten Impfstrategien richten sich derzeit gegen das Spike-Protein“, erklärt Sander allgemein zum Thema SARS-CoV-2-Impfung. Egal welche Impfstrategie man wählt: Wünschenswert wäre eine lang andauernde Immunisierung – wohl wissend, dass eine natürliche Infektion mit Coronaviren anscheinend nur Immunität über Monate oder wenige Jahre hinterlässt. Es gibt also sicher noch einiges zu optimieren, glaubt auch Sander. „Ich hatte immer das Gefühl, dass die Sache mit der mRNA-Vakzinierung noch ein paar Jahre brauchen würde“, gibt Sander zu und findet es daher gut, dass parallel derzeit viele andere Impfstoffe nach unterschiedlichen Prinzipien in der Entwicklung sind. „Andererseits hilft die Krise dieser neuen Technologie jetzt vielleicht auch voran“, hofft Sander. Solch einen Fortschritt könnten wir ja schließlich auch gegen ganz andere Infektionskrankheiten nutzen.
Mario Rembold
Foto: Pixabay/pearson0612