Editorial

SARS-CoV-2: Auch ein Neurovirus?

(03.04.2020) Befällt SARS-CoV-2 nicht nur die Lunge, sondern auch das Gehirn? Nicht wenige Experten warnen jedenfalls, dass bei COVID-19 womöglich auch neurologische Pathomechanismen mitspielen.
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Anfang der Woche berichtete eine junge Corona-Infizierte mit milder Symptomatik in der ZDF-Sendung „37 Grad“ folgendes: „Ich werde jetzt Mittag essen – und bin mal gespannt, ob ich wieder was schmecken kann. Gestern konnte ich nämlich den ganzen Tag nichts schmecken – und fast auch nichts riechen. Riechen geht immer noch nicht so gut.“

Sicher, die prominenten Symptome einer SARS-CoV-2-Infektion sind Fieber, Halsschmerzen und trockener Husten – vor allem, da sie sich in kritischen Fällen zu einer schweren Form der Lungenentzündung ausweiten, die in schlimmster Konsequenz wiederum ein akutes Lungenversagen (ARDS, Acute respiratory distress syndrome) auslösen kann. Dennoch berichten auffälligerweise gerade immer mehr Infizierte von den gleichen oder ähnlichen Geruchs- und Geschmacksstörungen wie die junge Patientin im ZDF.

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Nicht riechen, nicht schmecken

Zwei publizierte Studien hatten sich dieses Phänomen bereits genauer angeschaut: Die erste Studie beschreibt, dass fünf Prozent von 214 befragten Patienten aus Wuhan weniger riechen und schmecken (The Lancet Neurology, doi: 10.2139/ssrn.3544840). In einer zweiten, bisher nur als Preprint veröffentlichten Studie berichten Forscher nach Befragung von über zehntausend SARS-CoV-2-Infizierten im Iran, dass darunter mehr als sechzig Prozent über den Verlust des Geruchssinnes klagten (medRxiv, doi: 10.1101/2020.03.23.20041889). Die meisten von ihnen, nämlich neun von zehn, schmeckten auch nichts mehr.

Neu dazugekommen ist eine Studie aus Italien. Im Gegensatz zum iranischen Massen-Screening befragten die Autoren hierfür jedoch „nur“ 59 positiv getestete Patienten, die sich aufgrund von COVID-19-Symptomen im L. Sacco-Krankenhaus in Mailand einfanden. Von diesen berichteten letztlich zwanzig Infizierte (33,9 Prozent), dass entweder deren Geruchs- oder deren Geschmackswahrnehmung gestört war, elf davon (18,6 Prozent) litten am Ausfall von beidem. Darunter waren 10 der 19 befragten Frauen, aber nur 10 der 40 Männer (Clin. Infect. Dis., doi: 10.1093/cid/ciaa330).

Von Neuron zu Neuron

Freilich kennt man Beeinträchtigungen bei Schmecken und Riechen vielfach auch von „normalen“ Erkältungen oder Grippe-Erkrankungen. Im Fall von COVID-19 scheinen sich diese Symptome jedoch deutlich stärker zu manifestieren. Immer mehr Experten vermuten daher mittlerweile, dass SARS-CoV-2 nicht nur lokal im respiratorischen System wütet, sondern dass das Virus auch einen neurologischen Pathomechanismus auslöst. Und dieser würde bei der Beeinträchtigung von Geruchs- und Geschmacksinn womöglich noch lange nicht halt machen.

Nicht zuletzt deshalb gab die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) in dieser Woche eine Meldung heraus, in der sie explizit auf die Möglichkeit der neurologischen Verursachung von COVID-19-Symptomen durch das SARS-Coronavirus-2 aufmerksam macht. Schließlich, so heißt es in der Meldung, seien schon im Rahmen des SARS-Ausbruchs von 2002 SARS-Coronaviren (SARS-CoV) in Gehirnzellen aufgespürt worden. Damals habe dies für einen Infektionsweg über Nervenzellen gesprochen, der nachfolgend im Tierexperiment auch tatsächlich nachgewiesen werden konnte (J. Exp. Med. 202(3): 415-424): Die Viren arbeiteten sich von der Nasenschleimhaut über freie Nervenendigungen bis zum Gehirn vor, wobei sie über die Synapsen von Neuron zu Neuron wanderten. Besonders interessant in diesem Zusammenhang: Das Membranprotein ACE2 (Angiotensin converting enzyme 2), über das sich sowohl SARS-CoV wie auch SARS-CoV-2 Zutritt in die Zellen des Respirationstrakts verschaffen, kann hierbei kaum eine Rolle spielen, da Neuronen es nicht exprimieren.

Zuviel fürs Atemzentrum

Des Weiteren bezieht sich die DGN vor allem auf einen Ende Februar veröffentlichten Übersichtsartikel aus China, in dem die Autoren die Möglichkeit diskutieren, dass das fatale Lungenversagen infolge schwerer COVID-19-Verläufe durch neurologische Pathomechanismen mit verursacht werden könnte (J. Med. Virol., doi: 10.1002/jmv.25728).

In der Regel verursacht eine überschießende Entzündungsreaktion das akute Lungenversagen bei COVID-19, während der sich Flüssigkeit im Lungengewebe ansammelt sowie vermehrt Makrophagen, Mastzellen, Granulozyten und andere Entzündungszellen einwandern. Zum einen wird dadurch die Atmung rein mechanisch erschwert – zum anderen aber zerstört die entzündlich-aggressive Flüssigkeit den Schutzfilm der Lungenbläschen, sodass sie in der Folge keinen Sauerstoff mehr aufnehmen können.

Die in dem chinesischen Review zusammengefasste Evidenz deutet laut DGN jedoch auf die Möglichkeit hin, dass Coronaviren nach ihrem Eintritt in das zentrale Nervensystem weiter in den Hirnstamm vordringen könnten, von wo aus wichtige Vitalfunktionen gesteuert werden – insbesondere auch die Atmung. Eine durch SARS-CoV-2 ausgelöste Dysfunktion des Atemzentrums im Hirnstamm könnte daher einen Atemstillstand begünstigen – völlig unabhängig von einer Lungenentzündung.

DGN-Generalsekretär Peter Berlit betont daher: „Aus neurologischer Sicht ist es wichtig, abzuklären, wie groß die Rolle der Hirnstammbeteiligung bei COVID-19-Patienten tatsächlich ist, also wie viele der schweren Krankheitsverläufe auf das Konto eines neuralen Pathomechanismus gehen. Wir hoffen, dass die großen internationalen COVID-19-Register zeitnah Daten dazu liefern.“

Sollte sich das neuroinvasive Potenzial von SARS-CoV-2 dabei tatsächlich bestätigen, könnte dies auch erklären, warum bei COVID-19-Erkrankungen neben den typischen Krankheitszeichen Fieber, Halsschmerzen und Husten auch neurologische Symptome wie Kopfschmerzen, Müdigkeit, Übelkeit, Erbrechen und Bewusstseinsstörungen auftreten. Und eben auch der Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn.

Ralf Neumann

(Foto: CDC / StrokeConnection)

 

Addendum:

Offenbar bestätigt gerade eine belgische Studie an 417 Corona-Infizierten mit leichtem Krankheitsverlauf die Symptomatik der Störungen von Geruchs- und Geschmackswahrnehmung nochmals. Nach mehreren Medienberichten klagten dabei 86 Prozent der Befragten über eine Beeinträchtigung des Geruchssinns, der Großteil von ihnen roch sogar überhaupt nichts mehr. 88 Prozent bestätigten Probleme mit dem Geschmackssinn. Auch hier waren deutlich mehr Frauen als Männer betroffen. Nur bei 44 Prozent der Betroffenen waren die Wahrnehmungsstörungen nach zwei Wochen wieder verschwunden. Die Autoren fordern daher, dass der Verlust von Geschmack- und/oder Geruchssinn als spezifisches Merkmal einer COVID-19-Erkrankung angesehen werden sollte. Eine Originalveröffentlichung oder einen Preprint der Studie haben wir bislang jedoch nicht gefunden.

 



Letzte Änderungen: 03.04.2020