Editorial

Ist das Wissenschaft,
oder kann das weg?

(03.12.2019) Die kausale Rhetorik ernährungs­wissen­schaftlicher Studien ist doch kaum noch ernst zu nehmen.
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Fleischkonsum ist schlecht für die Gesund­heit. Da winken Krebs, Herz­infarkt, Schlag­anfall,… – das volle Programm. Sagt die Ernäh­rungs­wissen­schaft. Und die muss es ja wissen. Ist schließ­lich eine Wissen­schaft. Oder?

Vor einigen Jahren nahmen sich Jonathan Schoenfeld und John Ioannidis ein normales Kochbuch vor. Daraus wählten sie fünfzig häufig vorkommende Zutaten aus (Zucker, Kaffee, Salz und so weiter) und begaben sich auf eine syste­matische Litera­turre­cherche. Konkret fragten sie, ob es ernäh­rungswissen­schaftliche Studien gibt, die das Krebs­risiko dieser Zutaten unter­sucht hatten.

Sie wurden richtig fündig. Zu achtzig Prozent der Zutaten lag eine Studie vor, häufig sogar mehrere. Von 264 dieser epide­miolo­gischen Studien fanden 103, dass das unter­suchte Lebens­mittel das Krebs­risiko erhöhte; 88 dagegen bilan­zierten eine Verrin­gerung des Krebs­risikos! Also hatte Joe Jackson doch recht: „Everything gives you cancer!“

Aber kann das sein? Milch? Kalbfleisch? Orangensaft?

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Es kommt noch toller: Zwölf Haselnüsse am Tag erhöhen die Lebens­erwartung um zwölf Jahre, also ein Jahr pro Nuss! Alternativ kann man drei Tassen Kaffee am Tag trinken, das bringt dasselbe Ergebnis. Eine Manda­rine am Tag ist dagegen weniger effektiv: Nur fünf Jahre Lebens­verlän­gerung. Vorsicht ist indes bei Eiern geboten: Eines am Tag, und man lebt sechs Jahre kürzer. Zwei Scheiben Bacon pro Tag kosten einen ganze zehn Jahre – das schafft man nicht mal durch Ketten­rauchen.

Auf solche Hochrechnungen kommt man tatsäch­lich, wenn man sich der Analyse von ernäh­rungswissen­schaftlichen Kohorten­studien anschließt und deren kausale Rhetorik ernst nimmt. (Zitate hierzu gibt es wie immer unter http://dirnagl.com/lj)

Da ist es doch beruhigend, wenn man sich auf solidere Evidenz verlassen kann, die zudem auch viel plausibler ist. Wie zum Beispiel die, dass die mediter­rane Diät – also Olivenöl, Rotwein et cetera – so richtig gut fürs Herz ist; dass sie also nicht nur schmeckt, sondern dass man mit ihr auch länger bei besserer Gesund­heit lebt: Steht im Lehrbuch, in der Bunten – und wurde in einer Großen Studie namens PREDIMED belegt, veröffent­licht im renom­mierten New England Journal of Medicine. Eine der wenigen inter­ventionellen, kontrollierten und randomi­sierten Studien in der Ernäh­rungs­forschung!

Aber wussten Sie, dass diese Studie zurück­gezogen werden musste? Weil es gravierende Protokoll­verstöße gegeben hatte, und die Daten möglicher­weise mani­puliert wurden. Außerdem wurde gar keine mediter­rane Diät getestet, sondern Nahrungs­ergänzung. Schwamm drüber, der Gavi und die in Olivenöl ange­bratene Dorade schmecken trotzdem...

Ein ähnliches Schicksal erlitt zuletzt das verwandte French Paradox. Wir erinnern uns: Trotz höherem Konsum von gesättigten Fetten (zum Beispiel im Käse!) scheinen Franzosen, insbe­sondere im Vergleich zu Briten, ein relativ niedriges Risiko für koronare Herzer­krankungen zu haben. Wenn das mal nicht am Rotwein liegt, den die Franzosen so lieben! In der medien­wirksamen Kurzform also: Rotwein schützt vor koronaren Herzer­krankungen. Endlich mal ein brauchbarer ärztlicher Rat!

In den Jahren nach Veröffent­lichung des Paradoxons samt weiterer Studien explodierte der Konsum von Rotwein, insbe­sondere in den USA. Auch die Grundlagen­forschung wurde aktiv: Legionen von Mäusen wurden betrunken gemacht, und isolierte Arterien in diversen alkoho­lischen Medien gebadet...

Dreißig Jahre nach der Erst­beschreibung und Hunderte von Studien später ist von der Euphorie leider nichts mehr übrig. Das Paradox ist vermutlich ein Artefakt der unter­schiedlichen Erfassung von Herzer­krankungen in Frankreich und UK sowie einer zeitlich versetzten Änderung von Essge­wohnheiten in beiden Ländern. In jedem Fall konnte letztlich weder Rotwein noch irgend­eine andere Ernährungs­gewohnheit dingfest gemacht werden. Vom franzö­sischen Paradox spricht heute daher in wissen­schaftlichen Kreisen diskreter­weise niemand mehr.

Auch beim Alkohol stellte sich inzwischen heraus: Der vermeint­liche protektive Effekt ist ein statis­tisches Artefakt (Wie so oft: unge­eignete Vergleichs­gruppen und unge­nügende Korrektur von „Störfaktoren“, fach­begrifflich: Konfoundern). Und die Chinesen haben dann dieses Jahr mit einer Megastudie (500.000 Teilnehmer, zehn Jahre Nach­verfolgung, Genoty­pisierung,...) die Story vom schützenden Effekt von moderaten Mengen Alkohol endgültig abge­kegelt. Jedes Tröpfchen „C2“ ist von einem gesund­heitlichen Stand­punkt aus eines zu viel. Nach­richten, die zu gut klingen, um wahr zu sein, sind eben häufig genau das: Nicht wahr!

Freilich ist die Ernährungs­forschung jedoch keineswegs um neuen gesund­heitlichen Rat verlegen. Nun sind es die Omega-3-Fett­säuren, die uns gesund ins hohe Alter bringen sollen! Mit Franz Beckenbauer sage ich da: „Schaun mer mal, dann sehn mer scho!“

Aber wie steht es eigentlich um den eingangs zitierten Konsum von Fleisch – vor allem, wenn es rot ist? Vor Kurzem wurden mehrere sehr große Meta­analysen veröffent­licht, alle in einer Ausgabe der Annals of Internal Medicine. Resultat: Der Einfluss von Fleisch­konsum auf die Gesamt-Morta­lität oder kardio­vaskuläre Resultate ist, wenn überhaupt vorhanden, gering!

Die Liste der Assoziationen bestimmter Ernährungs­weisen mit Gesund­heit, Krank­heit, erhöhter oder ernie­drigter Lebens­erwartung ist folglich fast endlos. Manchmal bringen Studien zu ein und derselben Ernährungs­weise gar entgegen­gesetzte Ergeb­nisse. Fast immer jedoch wird aus der behaup­teten Asso­ziation eine kausale Beziehung gefolgert. Die Korre­lation des Konsums von Lebens­mittel X mit einem bestimmten Ausgang Y wird dann schnell zu: Konsum von X bewirkt Krank­heit Y! Dabei weiß jeder, wie viele Faktoren unsere Essge­wohnheiten beein­flussen – viele davon in einer unauf­lösbaren Wechsel­beziehung.

In seiner Totalität hat das, was wir essen, natürlich großen Einfluss auf unsere Gesund­heit. Aber einzelne Lebens­mittel spielen dabei in der Regel eine geringe Rolle. Dazu schwebt über dem Ganzen zudem der sozioöko­nomische Status – oder weniger verklauselt: Wie viel jemand zum Leben hat. Eine legendäre Studie hat in diesem Zusammen­hang einmal den Inhalt von Einkaufs­tüten an der Super­markt­kasse untersucht: Nicht überraschend finden in den Tüten Bier, Wodka, Dosenfleisch und Zigaretten auf der einen Seite zusammen – Rotwein, Olivenöl, Salat und Müsli dagegen auf der anderen Seite.

Wussten Sie, dass in Deutschland laut offizieller Gesund­heitsberichts­erstattung des Bundes der Unterschied in der Lebens­erwartung zwischen den niedrigsten und höchsten Einkommens­gruppen bei Frauen 13,3 und bei Männern 14,3 Jahre beträgt? Der gleiche Befund, nur noch extremer: Zwischen den End­stationen einer U-Bahn-Linie in Chicago (Red Line) nimmt die Lebens­erwartung von Nord (dort wohnen die Gut­situierten) nach Süd (dort sind die „Problem­viertel“) graduell um dreißig Jahre ab! Ob das wohl am Olivenöl liegt?

Für die Lebensumstände der Leute samt der Tatsache, dass diese mit Essge­wohnheiten und genetischen Faktoren in nicht aufzu­lösende Wechsel­wirkung treten, können die Ernährungs­forscher wahrlich nichts. Ebenso wenig sind sie schuld daran, wenn ihre Ergeb­nisse in den Medien über­trieben oder sogar verfälscht dar­gestellt werden. Fast jede größere ernäh­rungswissen­schaftliche Studie, die ein gängiges Nahrungs­mittel zum Gegen­stand hatte, taucht in der Laien­presse auf – oft in reiße­rischer Aufmachung. Auch können Ernäh­rungswissen­schaftler nichts dafür, dass es in ihrem Feld schwierig ist, rando­misiert kontrollierte, prospektive Interven­tionen zu unter­suchen.

Wofür die Ernährungs­wissenschaft aber schon was kann, sind metho­dische Mängel. Einige davon habe ich oben bereits benannt.

Problematisch ist auch, dass Ernäh­rungswissen­schaftler in Gremien sitzen, die häufig auf Basis schwacher Evidenz weit­reichende Ernäh­rungsemp­fehlungen geben. Dazu kommt, dass in der klinischen Medizin insgesamt, aber in der Ernäh­rungswissen­schaft ganz besonders, Interessens­konflikte das Design, die Analyse und die Inter­pretation von Studien stark beein­flussen. Der Einfluss der Nahrungs­mittel­industrie auf die medizi­nische Wissen­schaft ist mindestens so groß wie die der Pharma­industrie. Und das will was heißen.

Zieht man all dies ab – Medien-Hype, Ver­wechslung von Kausalität und Korrelation, Über­schätzung von Effekt­stärken, Unter­schätzung von Wechsel­wirkungen und Konfoundern –, dann kann man die Ergeb­nisse der Ernäh­rungs­forschung letztlich auf das zurück­führen, was uns schon unsere Groß­mütter mit auf den Weg gegeben haben: Am gesün­desten ist eine viel­fältige und ausge­wogene Diät, nicht einseitig und bloß keine Exzesse. Ein bisschen Obst und Salat, auch mal ein Stück Fleisch, nicht zu viel Fett. Was ein Omnivore eben so braucht. Und weil wir uns viel weniger bewegen als unsere Vor­fahren vor ein paar hundert­tausend Jahren: Aufpassen mit den Kalorien, auch mal ins Schwitzen kommen! Oder mit Johann Wolfgang Goethe: „Nur durch Mäßigung erhalten wir uns.“

Aber ist das Wissenschaft?

Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: http://dirnagl.com/lj

Foto: BIH/T. Rafalzyk



Letzte Änderungen: 03.12.2019