Editorial

Schafft die Vorlesung ab!

(22.11.2019) HIGHLIGHTS AUS 25 JAHREN LABOR­JOURNAL: Monologisierender Frontal­unter­richt sei nicht mehr zeitgemäß, kritisierte Gerd Klöck vor acht Jahren.
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Die klassische monologisierende Vorlesung ist schon lange nicht mehr zeitgemäß – echte Lehre gelingt nur im Dialog. Ein Plädoyer von Gerd Klöck.

Zwölf Jahre nach Bologna und der damit verbundenen Einführung von Bachelor und Master steht die Lehre an den Hochschulen mehr denn je im Licht der Öffentlichkeit. In zahlreichen Initiativen versucht man, echte und vermeintliche Missstände zu bereinigen; insbesondere fördert die Politik endlich auch die Lehre mit einer Exzellenzinitiative samt einem milliardenschweren gemeinsamen Programm des Bundes und der Länder.

Allerdings weiß bis heute kaum jemand zu sagen, was genau gute Lehre ist. Eine Schwierigkeit scheint dabei ein grundsätzliches Missverständnis vom Mechanismus der Lehre und des Lernens zu sein, welches man in weiten Kreisen der Öffentlichkeit und selbst in Hochschulen antrifft. Man glaubt dabei es genüge, wenn der fachlich hochqualifizierte Lehrende den Stoff nur rhetorisch geschickt genug in der Vorlesung transportiere. Damit gelange das entsprechende Wissen quasi per Diffusion in die Köpfe der Studierenden.

Wenn nicht, dann sollten die Studierenden eben fleißiger lernen – im Sinne von Auswendiglernen. Kein Wunder, nimmt die Presse aktuelle Studien, die den Vorteil des Auswendiglernens scheinbar bestätigen gerne auf – wie etwa diejenige von Jeffrey Karpicke und Janell Blunt in Science (Bd. 331: 772-75). „Ein Loblied auf das gute, alte Auswendiglernen“ titelte etwa Welt Online am 22. Januar, „Selber-denken ist manchmal gar nicht so gut“ stand in FAZ online am 4. Februar. Allerdings hat sich inzwischen herausgestellt, dass eine derartige Interpretation der Arbeit von Karpicke und Blunt haltlos ist. Die Autoren haben im Gegenteil gezeigt, wie wichtig insbesondere die intensive inhaltliche Beschäftigung mit dem Gegenstand für erfolgreiches Lernen ist.

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Eine weitere interessante Schlussfolgerung aus der Karpicke-Studie diskutiert indes bisher niemand: Die meisten Vorlesungen an unseren Hochschulen sind überflüssig, ja sie schaden eher dem Lernen.

Versetzen wir uns einmal in eine Universität zur der Zeit, als die Vorlesung erfunden wurde – etwa ins dreizehnte Jahrhundert, lange vor Gutenberg. Eine Handvoll Studierender lauschte dem Dozenten, der aus dem einzig verfügbaren, kostbaren Buch vorlas, und seinen scholares dessen Bedeutung erläuterte. An die lectiones schlossen sich Repetitorien und Disputationen an, in denen der Stoff vertieft wurde, oft genug gefolgt von weiteren abendlichen lectiones im Hause des Lehrers. Die Lehrinhalte waren damals, anders als heute, dogmatisiert. Die Lehre selbst lebte methodisch von der engen persönlichen Beziehung zwischen Lehrenden und Schülern.

Und heute? Stellen Sie sich nun die Vorlesung „Mathematik für Biologen“ an einer beliebigen Universität vor. Die Dozentin erläutert ihren mehreren hundert Zuhörern neunzig Minuten lang engagiert und mit Hilfe perfekt gestylter Powerpointfolien die Bedeutung der Varianzanalyse. Die Studierenden schreiben eifrig mit und versuchen zu erfassen, was wohl für die Klausur bedeutsam sein könnte. Am Ende der Stunde meinen die meisten, soweit habe man das Wichtigste schon begriffen, nur die Formeln müsse man sich vor der Prüfung noch einmal einprägen. Noch eine Zigarette mit den Kommilitonen, dann hören sie neunzig Minuten das „Modul Zellbiologie“.

Irgendwann naht zum Ende des Semesters die Klausur, man lernt am Wochenende zuvor die Formeln auswendig, um wenigstens ein „Ausreichend“ zu erhalten – schließlich geht es ja nur um zwei „Credit Points“. Drei Wochen später im Praktikum des „Moduls Biochemie“ haben die meisten dann schon keine Ahnung mehr davon, was die Varianzanalyse mit der Auswertung von Messdaten zu tun haben könnte.

Die Vorlesungen, wie wir sie heute kennen, sind leider oft genug monologisierende Versuche der Wissensvermittlung – frontale Vorträge, die selbst unter Einbeziehung eines gelegentlichen Frage-Antwort-Dialogs nur eine kleine Minderheit der Studierenden erreicht. Hochqualifizierte Wissenschaftler sind eben nur zu selten geborene Entertainer. Dazu kommt, dass den Studierenden oft genug das Gefühl vermittelt wird, es ginge den Dozenten nur darum, mit dem Stoff für das Modul durchzukommen – dann habe man seine Schuldigkeit getan. Was am Ende tatsächlich inhaltlich ankommt, ist dann eben nicht Sache des Dozenten, sondern allein der Zuhörer.

Wie Karpicke und Blunt gezeigt haben, erfordert echtes Verständnis indes mehr als eine Präsentation von Kontext und Fakten, sondern fragt nach einer intensiven persönlichen Auseinandersetzung. Dies jedoch gelingt nicht allein durch Zuhören. Die Studierenden kommen bestenfalls im Glauben aus der Vorlesung etwas gelernt zu haben. Aber Glauben ist nicht Wissen, wie das Sprichwort richtig sagt.

Echte Lehre gelingt nur im Dialog, der Studierenden nicht nur Fakten und methodische Orientierung präsentiert, sondern ihnen vor allem das Gefühl vermittelt, mit dem Gelernten selbst etwas anfangen, eigenständig durchdenken und bearbeiten zu können. In einer Vorlesung mit mehreren hundert Hörern ist dieser echte Dialog nicht möglich. Eine derartige Massenveranstaltung, neuerdings modularisiert und gelegentlich sogar mit Anwesenheitspflicht, ist das Gegenteil echten Studiums, wirkt nur demotivierend und führt zu nichts als Bulimie-Lernen. Diese Vorlesungen gehören abgeschafft.

Kein Gelehrter des Mittelalters wäre wohl bereit gewesen, unter solchen Bedingungen seine Studierenden in die Geheimnisse der Wissenschaft einzuführen.

Es ist daher gut, dass sich Hochschule und Politik heute auch intensiv um die Verbesserung der Lehre kümmern wollen. In vielen Beispielen aus der Praxis lässt sich schon heute zeigen, dass gute Lehre auch in den Zeiten des Bachelors möglich ist. Angestoßen durch die Initiativen zur Förderung der Lehre, aber auch nicht zuletzt durch das persönliche Engagement vieler Kolleginnen und Kollegen entsteht eine lebendige Kultur des Erfinden und Erprobens neuer Lehr-, Lern- und Prüfungsformen.

Ohne eine signifikante Verbesserung der Betreuungsrelation, etwa durch mehr Professuren, aber vor allem ohne entsprechenden Ausbau der Infrastruktur ist die Nachhaltigkeit dieser Initiativen jedoch mehr als fraglich.

 

(Der Artikel erschien in unserer Printausgabe LJ 5/2011 auf den Seiten 26 und 27. Gerd Klöck ist Professor für Bioverfahrenstechnik und war bei dessen Erscheinen Studiendekan der Fakultät Natur und Technik an der Hochschule Bremen.)




Letzte Änderungen: 22.11.2019